Direkt zum Inhalt wechseln
|

Hip, hip – kein Hurra: Mit dem Boom kommen im Westend-Kiez auch Sorgen

Von Laura Ehlenberger. Fotos Samira Schulz.

Das Westend ist Wiesbadens buntester Stadtteil. Und ein boomender dazu. Das tut dem Kiez gut, sorgt aber auch für Sorgen.

In einer der unzähligen Altbauten inmitten des Westends hat das „Lokal“ seinen Platz gefunden und sich als Institution etabliert. Seit siebzehn Jahren gehen bei Martina und Michael Breidenbach am Sedanplatz durstige und hungrige Wiesbadener ein und aus, treffen alte und neue Bekannte, feiern Geburtstage – ja sogar Hochzeiten, Trauerfeiern und Ausmalabende. Über Jahrzehnte haben die zwei „Lokal“-Betreiber und verwurzelten Westendler – im Kiez bekannte Gesichter – ihren Stadtteil im Wandel der Zeit erleben dürfen.

„Damals, da haben wir das Licht am Sedanplatz angeknipst“, erinnert sich Martina mit einem Funken Nostalgie in Stimme und Augen. Was heute mit neuen Läden wie „Heaven“, „Schoppenhof“, „Tante Simone“ oder dem „Westend Garden“ als hipper Mittelpunkt des lebendigen Stadtteils auch Publikum von weiter her anzieht, war vor der „Lokal“-Eröffnung ein ungemütlicher Fleck mit der oder anderen Spelunke. „Das Eck hier hat einen großen Happening-Charakter bekommen“, so die Wirtin. Das sei schön, berge jedoch Risiken. Denn dort, wo es die Jungen und Hippen hinlockt, da wittern andere oft und gerne das große Geld. Und eben das spürten die Vollblut-Gastronomen nun am eigenen Leib.

Lokale Sorgen

Das Haus, in dem die Breidenbach-Geschwister die unterste Etage bewirtschaften, hat vor ein paar Monaten den Besitzer gewechselt. Die Vorbesitzerin, eine alte Dame, war verstorben. „Wir erleben hier gerade einen Generationenwechsel“, sagt Martina. „Langjährige Hausbesitzer versterben, doch ihre Erben wohnen oft verteilt in Deutschland und verkaufen daraufhin die Immobilien.“ Diese gehen dann mitunter an Unternehmer und Investoren, die das Westend nicht kennen können oder gar nicht kennen wollen. Der neue Hausbesitzer, ein Ortsfremder aus Süddeutschland, hat bereits mit Umbaumaßnahmen begonnen – das hebt die Miete an. Zudem sollen die Wirtin und ihr Bruder Michael die Außenwerbung, wie sie seit 17 Jahren dort hängt, optimieren. Auf eigene Kosten, versteht sich. Und dann wäre da noch der Vorgarten. Den das Lokal – mit Genehmigung der alten Vermieter – seit jeher als Terrasse nutzt: Der soll nun aber Parkplätzen weichen, denn die seien laut des alten Vertrags rechtlich angedacht. Eine Außenbewirtschaftung wäre dann nicht länger möglich. Widersprüchlich kommt eine Annonce des Eigentümers daher, die auf einem Immobilienportal kursierte: Sie pries die Räume des Lokals mit Terrasse zur Vermietung an – ohne Wissen der Mieter und trotz bestehenden Mietvertrags. Gerede und Gerüchte ließen nicht lange auf sich warten. Martina und Michael wollen hier nicht weg, treten sogar mit Änderungen im Konzept – „Das Lokal wird grün“ und setzt unter dem Motto „alle an einen Tisch“ nun auch verstärkt auf gluten- und laktosefreies Essen – die Flucht nach vorne an.  Doch im Haus hat die neue Situation bereits die ersten „ins Exil“ getrieben.

Umzug ins Exil

„Ich hatte meine Traumwohnung“, sagt Martina Wehrle. In einer der Altbauetagen hatten sie und eine Freundin nach mühevollen Renovierungsarbeiten eine WG gegründet – mit dem Lokal darunter als zweites Wohnzimmer. „Als der Verkauf bevorstand, schwante mir Schlimmes“, so Wehrle, „da hatte ich aber noch gehofft, der Eigentümer würde die Hausgemeinschaft schätzen und mit der Mieterhöhung im Rahmen bleiben.“ Dem war nicht so. „Nachdem die Pläne für die Modernisierung standen, war klar, die Miete – meine Mitbewohnerin war bereits ausgezogen – könnte ich nicht stemmen.“ Ihre neue Wohnung sei kein Altbau mehr und nicht im Westend. Ganz ähnlich erging es auch Eric Portugall, der mit Frau und Kind den ersten Stock bewohnte. „Es war eine tolle Ecke und die Hausgemeinschaft einfach super“, sagt er. „Bei uns ging alles recht schnell: Als wir von der Mieterhöhung erfuhren, 350 Euro mehr sollten es sein, war klar, dass wir das nicht zahlen.“ Inzwischen bewohnt die Familie eine „gute Alternative“, doch sie seien schweren Herzens gegangen. „Der neue Besitzer hat uns rausgedrängt“, gibt Portugall zu verstehen. „Wir konnten zwar noch eine Entschädigungssumme heraushandeln, aber die Rechte als Mieter wurden mit Füßen getreten.“ Dieser Prozess habe viel Kraft und Nerven gekostet.

Das erleben auch Martina und Michael Breidenbach. Doch viele aus dem Westend, gerade Künstler, stehen ihnen bei. Im Lokal hängt seit neustem Kunst aus dem Kiez. Die Idee für den „Kunst-Kraft-Raum“ hatten die Wirtin selbst und Innenarchitektin „Betty Beige“. Kuratorin des Ganzen ist Petra Bermes. Sie betreibt seit 28 Jahren den Schnittpunkt in der Westendstraße, Friseurladen und Galerie. „Mit der Aktion wollen wir unseren Support bekunden“, sagt sie. Das Lokal sei mehr als ein Restaurant. Gleichzeitig weiß sie: „Ganz klar, der Wohnraum wird teurer, dieser Trend ist nicht aufzuhalten.“ Bis zu einem gewissen Maß sei das auch die Rettung gewesen. „Als hier damals die ersten Häuser saniert wurden, hat das dieses Viertel natürlich auch aufgewertet.“

Seit Jahren beobachtet auch Thomas Wischert von seinem Vintageladen aus das Geschehen am Sedanplatz. Sein Geschäft, das Eigenart7, macht einen Teil der Lebendigkeit an diesem Ort aus. Dem Westendler bedeutet dieses Ökosystem viel – und er wünscht sich, dass sein Kiez auch so bleibt. Bei diesem Gedanken kehrt jedoch Ernüchterung ein: „Wie will man das stoppen?“ Mit „das“ meint der Wiesbadener, der im Haus quer gegenüber vom „Lokal“ wohnt, die Gentrifizierung. „Hier kommen Auswärtige ohne Wurzeln“, sagt er. Dass diese ihr Kapital vermehren wollen, sei prinzipiell nicht verwerflich, doch sie täten es ohne jedes Fingerspitzengefühl. Auch er spricht von einem Generationenwechsel: „Früher haben viele der Besitzer noch mit im Haus gewohnt.“ Für die neuen Eigentümer soll die Immobilie hingegen möglichst viel abwerfen. „Doch hier wohnen Menschen und die dürfen kein Opfer von Spekulationen sein“, warnt er.

Anfänge einer Gentrifizierung

Theo Kemen arbeitet seit etlichen Jahren als Künstler im Westend. Er erlebte, was es heißt, wenn Gebäude aufgekauft, modernisiert und teuer vermietet werden. In einem großen Atelier in der Goebenstraße veranstaltete er regelmäßig Konzerte, Lesungen und Ausstellungen. Dann kam der neue Eigentümer: Es folgten eine Räumungsklage und viele schlaflose Nächte. „Am Ende wollte ich dort einfach nur weg.“ Jetzt tobt sich der Bildhauer und Maler auf kleinerem Raum, aber weitaus entspannter ein paar Häuser weiter aus. Für ihn ist klar: „Das ist kein Einzelfall!“

Auch dem Mieterbund ist die Problematik bekannt. Geschäftsführerin Eva-Maria Winckelmann beobachtet die Vorgänge im Westend seit geraumer Zeit: „Eine Art der Gentrifizierung liegt hier vor.“ Das Viertel mit seinem besonderen Charme sei beliebt – dadurch würden durchaus Bewohner, die an der Charakterbildung des Viertels beteiligt sind, aufgrund gestiegener Mieten vertrieben. Bislang sei der Zustand nicht akut gefährlich, doch die Tendenz dazu gegeben.  Ortsvorsteher Volker Wild lebt seit über 30 Jahren im Westend und stellt fest: „Es gibt einen Hype, ja – aber Gentrifizierung greift zu hoch.“ Anders als in Berlin oder Köln könne eine direkte Entwicklung bislang nicht verzeichnet werden. „Wenn dem so ist, sind wir als Ortsbeirat aber alarmiert“, versichert er. So geschehen, als die angedachte Umwandlung der „Lokal“-Terrasse in Parkplätze publik wurde. Die SPD stellte daraufhin einen Eilantrag, um im Ortsbeirat die Einhaltung der Vorgartensatzung zu prüfen. „Die politische Mehrheit möchte keine Parkplätze“, so Wild, „die bedeuten de facto: Luxuswohnungen.“ Und das sei im Westend nicht gewollt. Noch hat der Grüne keine Angst vor einem solchen Trend. Nichtsdestotrotz hofft er, dass sein Stadtteil vor der Gentrifizierung verschont bleibt – und das Lokal ebenfalls.

1 Jahr-Feier Theo Kemen: Seit einem Jahr arbeitet Theo Kemen in seinem neuen Atelier. Nach dem Umzug von der Goebenstraße 3 in die Nummer 17 hat der Westend’ler nach einer Eingewöhnungsphase wieder begonnen, Bilder zu malen. Das ist für ihn Anlass, heute von 15 bis 18 Uhr in sein Atelier einzuladen.