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Ich fang´ nochmal von vorne an

Text Sebastian Wenzel

Fotos Kai Pelka, Deutsches Auswandererhaus

Alles auf Anfang setzen – dafür liefert das Leben unterschiedlichste Gründe: die Taliban zum Beispiel, Arbeitslosigkeit oder schwere Depressionen. Drei Wiesbadener, drei Schicksale. Ihre Geschichten beginnen traurig und enden glücklich. Hoffentlich.

Julia Schulze* (Name von der Redaktion geändert) weint. Tränen kullern aus ihren blauen Augen. Sie versickern in dem Taschentuch, das sie mit beiden Händen gegen ihr Gesicht presst. Die 40-Jährige redet über ihre Vergangenheit, ihre Mutter und ihr altes Leben. Wenn man es denn so nennen kann. „Ich lebe erst seit acht Jahren“, sagt Schulze. Davor stolperte sie durch die Welt. Ohne sich selbst zu spüren, ohne einen Platz im Leben. In einem Moment fühlte sie sich himmelhoch jauzend, Sekunden später zu Tode betrübt.

Neustart ohne Schläge

Erst in einer psychosomatischen Klinik erfuhr sie, was mit ihr los war. Was ihr die Mutter angetan hatte. Und dass es ein Wort für ihre Krankheit gibt: Borderline, eine spezielle Form der Persönlichkeitsstörung. „Meine Mutter war unberechenbar. Ich wusste nie, was als nächstes kommt. Eine Ohrfeige oder eine Umarmung.“ Schulze wurde ins Trauma geschlagen. Später übernahm sie Verhaltensmuster der Mutter. Zertrümmerte Teller, Regale und ihre Beziehungen. Sie prügelte sich mit ihren Freunden. Trommelte mit Fäusten um Aufmerksamkeit. Dann Gespräche mit Therapeuten. Das half. Doch die Depressionen blieben. Schulze schluckte Tabletten, Anti-Depressiva. Damit ist jetzt Schluss. Schulze hat die Tabletten abgesetzt und von vorne  angefangen. Seit einigen Jahren ist sie selbstständig. 2012 freute sich die Unternehmerin über 100.000 Euro Umsatz. Neuanfang geglückt. Obwohl Neuanfang vielleicht das falsche Wort ist. Niemals beginnt ein Leben ganz von vorne. „Die Vergangenheit hinterlässt immer Narben. Doch ich habe gelernt, damit umzugehen“, sagt Schulze.

In Wiesbaden leben viele Menschen wie Schulze. Menschen, die ihr Leben komplett umkrempeln. Mal freiwillig, mal gezwungenermaßen. So unterschiedlich die Schicksale, so unterschiedlich die Geschichten dahinter. Wir erzählen drei davon. Sie machen Mut, auch wenn sie manchmal dramatisch beginnen. So wie die Geschichte von Sameer Roshan. Schleuser schmuggelten den 19-Jährigen von Afghanistan nach Wiesbaden.

Neustart mit Schleusern

Roshan lacht. Wörter purzeln aus seinem Mund und versickern sofort wieder im Murmeln und Stottern. Als Kind plapperte und quasselte er in Dari, seiner Muttersprache. Seit einem Jahr lernt Roshan Deutsch. Auf Fragen antwortet er einsilbig. Wenn er Wörter nicht versteht, lacht er. Roshan lacht oft. Seine Geschichte muss man aus Satzfetzen zusammenpuzzeln. Die Kindheit in Afghanistan und die Flucht nach Deutschland bilden den Rahmen des Puzzles. Das vollständige Bild lässt sich nur erahnen. Details verstecken sich genauso im Dunkeln wie Roshan auf seinem Weg nach Deutschland. Sicher ist: Roshans Vater saß in Afghanistan im Gefängnis. Die Taliban verfolgten ihn. Warum? Roshan lacht. Ohne Hilfe wäre Roshan in der hessischen Landeshauptstadt verloren. Wie soll ein Ausländer Verträge, Formulare und Vordrucke der Behörden verstehen, wenn schon Deutsche daran verzweifeln? Doch der Jugendliche hat Glück. Seine Schwester lebt schon länger in Wiesbaden. Sein Vater und seine Mutter sind inzwischen auch hier. Und dann gibt es da noch Phillipp Hanusch. Zusammen spazieren der Deutsche und der Afghane durch den Kurpark, spielen Bowling oder jubeln im Stadion von Mainz 05. Der Flüchtlingsrat Wiesbaden hat die Zwei zusammengebracht. Sie sind eines von mehreren Tandems des Projekts „Willkommen“. Die Idee dahinter: Wiesbadener helfen Ausländern beim Neustart. Das scheint zu klappen. Im Dezember absolvierte Roshan ein Praktikum bei Weiler Hausgeräte. Die Firma gehört einem Bekannten von Hanusch. Roshan ist angekommen in seinem neuen Leben. In Wiesbaden hat er keine Angst mehr vor den Taliban. Nur eines bereitet ihm Magenschmerzen. das deutsche Vollkornbrot.

Die ehemalige Wiesbadenerin Ilka Seer hat die Delikatessen aus Weizen-, Dinkel und Roggenvollkornmehl im Ausland vermisst. Die 43-Jährige lebte in London, Edinburgh und New York. Zurück in Deutschland wurde sie sozusagen Expertin für den Neustart in einem fremden Land. Seer ist Pressesprecherin des Deutschen Auswandererhauses  in Bremerhaven. Sie sagt: „In den wenigsten Fällen ist es schiere Abenteuerlust, die Menschen dazu bewegt, ihre Heimat und Familie zu verlassen. Meistens sind es ernste Anlässe: politische und wirtschaftliche Gründe, religiöse und rassische Verfolgung oder kriegsbedingte Flucht und Vertreibung. “ Auch Seer kann sich vorstellen, nochmal neu zu starten – in England, in einem kleinen Cottage außerhalb Londons.  „Träume sind dazu da, geträumt und manchmal auch gelebt zu werden“, sagt sie.

Neustart mit Schulden

Frank Mayer lebt seinen Traum jeden Tag. Er füllt ihn in Flaschen und Gläser. Sein Traum schwappt in Amphoren und Fässern. Er ist grün wie Pistazienlikör, schwarz wie Balsamicoessig und gelb wie Olivenöl. Mayer gehört seit 2004 das Feinkostgeschäft Olioceto in der Kirchgasse. In seinem früheren Leben verkaufte Mayer Hemden, dann wurde er arbeitslos. Er versuchte es mit der Modekollektion eines Freundes, fuhr mit seinem Passat von Geschäft zu Geschäft. Immer auf der Suche nach Kunden. Erfolglos. Dann der Neustart. Mayer eröffnete das Olioceto. Erst als Franchisenehmer, später übernahm er den Laden komplett. Das klingt einfach, war aber kompliziert. Mayer hatte keine Rücklagen. Er lieh sich über 150.000 Euro von der Bank: „Meine Eltern waren skeptisch als ich ihnen von meinen Plänen erzählte.“ Doch Mayer glaubte an sich und sein Konzept. Heute sind seine Eltern stolz auf ihn. Mayers Geschäft brummt nicht, sondern es gluckert – jedes Mal, wenn Mayer eine der flüssigen Delikatessen aus einer großen Amphore in ein kleines Fläschchen füllt. Bisher konnte der Unternehmer jede Rate pünktlich zurückzahlen. Ob der Neustart von dem Afghanen Roshan auch gelingt, ist ungewiss. Im Moment ist er in Deutschland geduldet, darf hier aber nicht arbeiten. Die Behörden entscheiden gerade über seinen Asylantrag. Wird dieser abgelehnt,  muss Roshan zurück in seine Vergangenheit, zurück nach Afghanistan, zurück in den Krieg. Roshan kann sich das nicht vorstellen. Er lernt weiter deutsche Vokabeln, trainiert im Fitnessstudio seine Muskeln, besucht regelmäßig die Moschee und geht unter der Woche um 21.30 Uhr schlafen. Dann liegt er in seinem Zimmer in der Asylunterkunft, ist glücklich und träumt von seinem neuen Leben, in das er vielleicht schon bald offiziell starten darf. Mit Stempel, Ausweis und einer Aufenthaltsgenehmigung. Willkommen in Deutschland.

Schulze ist in ihr neues bereits Leben gestartet – ohne Schläge und ohne ihre Mutter. Sie starb vor über zwanzig Jahren an Krebs. Für Schulze ein Schock. Sie wollte noch so viel mit ihr besprechen, so viel klären. Nun ist es zu spät dafür.  „Ich bin traurig, dass ich meiner Mutter nicht helfen konnte. Ich glaube, sie war selbst traumatisiert“, sagt Schulze. Sie steckt das Taschentuch in die Tasche und schaut aus dem Fenster. Schneeflocken tanzen durch die Luft, die Sonne scheint. Weiße Wolken schweben am blauen Himmel. Schulze lächelt. „Ich weiß, dass ich nie perfekt sein werde. Aber wer ist das schon?“ Nur eines macht ihr noch Angst. Sie fürchtet sich vor dem Tod ihres Vaters. „Er ist über 70 Jahre alt und die letzte Person, die mich bedingungslos liebt. Es wird schwer für mich, wenn er nicht mehr lebt. Aber ich bin mir sicher, dass es kein Tief gibt, aus dem ich nicht herauskomme“. Schulze weiß jetzt was sie will. Sie hat ein Ziel vor Augen. Sie möchte ihr Leben genießen und einen Freund finden. Denn wie trällerte schon der Schlagersänger Jürgen Marcus: Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.

 „Alles Neue birgt Risiken“

Christine Gulde, 31 Jahre, psychologische Psychotherapeutin aus Wiesbaden, gibt Tipps für den Neustart.

Der Volksmund behauptet: Aller Anfang ist schwer. Stimmt das?

Vielen Menschen fällt es schwer, sich auf etwas Neues einzulassen. Das liegt daran, dass alles Neue Risiken birgt. Risiken widersprechen dem menschlichen Grundbedürfnis nach Sicherheit. Wer sein Leben komplett umkrempelt, ist eventuell überfordert damit.

Ist es also klüger auf einen Neuanfang zu verzichten und sein Leben so zu genießen wie es ist?

Nein. Eine neue Situation verlangt zwar eine Anpassungsleistung von uns. Aber sie eröffnet auch Chancen. Menschen können andere Seiten von sich entdecken und ausleben. In einem neuen Umfeld fällt es ihnen leichter, ungeliebte Rollen abzulegen. Sie nehmen sich und ihre Umgebung oft bewusster wahr und sind aufmerksamer. Das ist anstrengend, kann sich aber besonders lebendig anfühlen und das Selbstvertrauen stärken.

Welche Tricks helfen dabei?

Es hilft, nicht alle Stricke zur Vergangenheit zu kappen. Man sollte sich die bisherigen Erfolge und angesammelten Kompetenzen bewusst machen und weiterhin nutzen. Außerdem ist es sinnvoll Abschied zu nehmen vom Alten auch in Form von Übergangsritualen.

Was, wenn der Neustart misslingt?

Wenn jemand sein Scheitern nur auf sich selbst und seine eigene vermutete Unfähigkeit zurückführt, besteht die Gefahr einer depressiven Entwicklung und allgemeinen Resignation. Wichtig ist, sich das Scheitern einzugestehen und sich eigene Misserfolge zu verzeihen. Idealerweise lernt man aus seinen Fehlern und vermeidet sie beim nächsten Neustart.

Interview & Foto Sebastian Wenzel