Von Hendrik Jung. Fotos privat/Denislav Kanev/Hendrik Jung.
In Wiesbaden leben Menschen aus 162 Nationen. Wir schauen uns in loser Folge die Präsenz und das Leben einzelner Nationalitäten in unserer Stadt genauer an. Diesmal – passend zum Gastland der Buchmesse, die am Dienstag Staatspräsident Emmanuel Macron persönlich eröffnen wird – Frankreich.
Es sind nicht mehr so viele. Haben zum 31. Dezember 2011 noch 824 Menschen mit französischer Staatsbürgerschaft in Wiesbaden gelebt, so waren es Ende vergangenen Jahres nur noch 777. Immerhin gab es nach Jahren stetigen Rückgangs erstmals wieder einen leichten Anstieg (31.12.2015: 758). Und: Es gibt, trotz der personenmäßig vergleichsweise geringen Präsenz, erstaunlich viele französische Orte in der Stadt.
Und neben Austauschprogrammen auch drei Vereine, die sich um das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarstaaten bemühen. Nachdem sie Anfang 2016 kurz vor der Auflösung stand, bietet die Deutsch-Französische Gesellschaft inzwischen wieder regelmäßig kulturelle Angebote und Kommunikationskurse. Seit 26 Jahren besteht der Partnerschaftsverein Bierstadt-Terrasson. Während Gäste aus dem Südwesten Frankreichs jährlich den Ostermarkt mit Produkten von Ente, Nüssen und Trüffeln bereichern, reist eine Wiesbadener Delegation zum Weihnachtsmarkt in die Dordogne, um dort Stollen und Bratwürste anzubieten. Im kommenden Jahr steht außerdem eine gemeinsame Frankreich-Fahrt mit Mitgliedern des Partnerschaftsvereins Naurod-Fondettes an. Die Partnerschaft mit Fondettes, die ansonsten unter anderem durch gemeinsame Fahrradtouren aufrecht erhalten wird, ist ein Erbstück der Landeshauptstadt. Sie ist bereits 1975 von der erst 1977 eingemeindeten Kommune geschlossen worden. Für die „Gesamtstadt“ Wiesbaden sind diverse Anläufe fehlgeschlagen, eine Städtepartnerschaft in Frankreich einzugehen.
Wir haben – exemplarisch, aber nicht repräsentativ – mit Wiesbadener Französinnen und Franzosen über ihre ursprüngliche und ihre neu gefundene Heimat parliert…
Audrey van Hal: Kulturwissenschaften zu unterrichten, ohne über eigene Anschauung über das Leben in Deutschland zu verfügen, ist der Pariserin zu wenig. Da beim Übersiedeln auch ihr Mann eine Arbeit benötigt, sind drei Städte in der Auswahl: Münster, Essen und Wiesbaden. Die Wahl fällt auf die Landeshauptstadt. „Ich hatte das Gefühl, Wiesbaden wäre für mich besser. Ich mag es grün, und das Klima gefällt mir“, erläutert die 49-jährige. Nun gibt sie hier Sprachunterricht sowie Shiatsu-Behandlungen und arbeitet als Übersetzerin. In ihre Heimat zurückkehren, das möchte sie derzeit nicht. Vielleicht sei das im Alter eine Option, um am Meer zu leben. In Wiesbaden fühlt sich Audrey van Hal vor allem im Kurpark wohl, mag das Thermalbad und das historische Zentrum. Sie schätze die Ruhe hier und die Größe der Stadt. Manchmal sei ihr Wiesbaden aber auch zu klein. Dann reicht ihr das Angebot an gutem Essen und Einkaufsmöglichkeiten nicht aus. Außerdem findet sie, dass man hier im Vergleich zu Paris nicht besonders offen für andere Kulturen sei. „In Hessen interessiert man sich nicht mal für Deutschland, sondern nur für Hessen“, ist Audrey van Hals Eindruck. Sie selbst hat erst mit dreißig Jahren angefangen, die deutsche Sprache zu lernen. Allerdings hatte sie bereits in ihrer ersten Karriere als Sängerin Kontakt zu deutscher Poesie, die ihr gut gefallen hat.
Béatrice Portoff: „Ich lebe das Leben dort aus, wo ich bin. Ich versuche nicht, in Deutschland so zu leben, als wäre ich in Frankreich. Sonst ist man immer unglücklich und hat ständig Heimweh“, erklärt die Juristin im Ruhestand. Sie muss es wissen: Sie ist in Straßburg und Luxemburg aufgewachsen, hat ihren Mann in Brüssel kennengelernt, später haben beide in San Francisco und Hongkong, in Kobe, Tokyo und Peking gearbeitet. Nach Wiesbaden ist die gebürtige Elässerin im Jahr 2010 gekommen, weil es die Heimat ihres Mannes Michael ist. Durch Besuche bei den Schwiegereltern war die Stadt der 63-jährigen aber schon zuvor ans Herz gewachsen: „Ich finde, es ist eine recht angenehme Stadt zu leben, nicht zu groß und nicht zu klein. Und wir haben viele sehr nette und interessante Freunde hier.“ Gute Freunde hat das Ehepaar aber auch in Frankfurt, weshalb sie sich dort ehrenamtlich im International Women’s Club engagiert, dessen Präsidentin sie für ein Jahr ist. In Wiesbaden bringt sie sich im Vorstand der Theaterfreunde ein. Schließlich lieben es die Portoffs, ins Theater, die Oper und Konzerte zu gehen. Wenn es französische Kultur sein soll, dann genießen sie die eben in Paris und bringen von dort Literatur und Filme mit, die Béatrice Portoff hier fehlen. Französisches Flair habe aber auch die Wilhelmstraße mit ihrer Architektur. Nach einer bewegten Karriere sind sie hier nun heimisch geworden. Nun sind es ihre Kinder, die von Zeit zu Zeit für Besuche bei ihren Eltern nach Wiesbaden reisen.
Martine Bates: Sie konnte eigentlich gar nicht anders, als Mitglied im Partnerschaftsverein Naurod-Fondettes zu werden. Ihr Geburtsort Lerné liegt nur gut 50 Kilometer von Naurods Partnergemeinde entfernt. Vor mehr als zwanzig Jahren wiederum hat sie am Standort der Frankfurt International School in dem Wiesbadener Stadtteil angefangen zu arbeiten, in dem sie seit mittlerweile sechs Jahren auch lebt. „Dabei hat meine Familie keine nette Geschichte mit Deutschland“, erklärt Martine Bates. Ihr Großvater habe im ersten Weltkrieg eine riesige Narbe davon getragen, als er bei Verdun auf eine Mine getreten sei. Ihr Vater sei gestorben, nicht lange nachdem er nach zwei Jahren Haft aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit worden ist. „Aber das ist nicht meine Geschichte“, betont die 71-jährige. Nach Stationen in der Schweiz, Großbritannien, Belgien, Japan und den USA ist sie mit ihrem amerikanischen Mann 1995 nach Deutschland gekommen. Hier fühlt sie sich so wohl, dass sie eine Rückkehr nach Frankreich ausschließt. „An Wiesbaden schätze ich am meisten, was ich auch in Japan geschätzt habe: Die Thermen. Ich habe immer eine Tasche mit meinen Badesachen im Auto. Außerdem gibt es in Bäderstädten eine spezielle Kultur und die schönen Parks, in denen man früher promeniert ist“, erklärt die Rentnerin, die aushilfsweise weiterhin Kinder unterrichtet. Wenn sie ihre Mutter in Frankreich besuche, bekomme sie ein heimatliches Gefühl, wenn sie die Loire überquere. Aber auf der Rückfahrt habe sie dieselben Emotionen beim Passieren des Rheins. Außerdem seien beides Weinregionen. Ehrensache daher, dass sie bei der Rheingauer Weinwoche jedes Jahr täglich eine Stunde an einem der Stände arbeite. (Foto: Hendrik Jung)
Nathalie und Jennifer Dienstbach: Für die Zwillingsschwestern ist Wiesbaden die Heimatstadt. Aber ihre Mutter stammt aus der Normandie, wo die beiden viel Zeit auf dem Hof der Großeltern verbracht haben. So viel, dass Nathalie vor ihrer Ausbildung zur Köchin zunächst dem Vorbild von Groß- und Urgroßvater gefolgt ist und das Schreinerhandwerk erlernt hat. Nachdem schließlich doch beide in der Gastronomie gelandet sind, sei von Anfang an klar gewesen, dass sie gemeinsam etwas auf die Beine stellen wollen. Und zwar in ihrer Heimatstadt, die sie nach dem Abitur verlassen und wohin sie acht Jahre später zurückgekehrt sind. „Wenn man eine Zeit lang weg ist, spürt man die Verwurzelung. Was für ein tolles Gefühl das ist, wenn man an seiner Grundschule vorbei läuft“, schwärmt Restaurant-Chefin Jennifer Dienstbach. Umso mehr haben die beiden sich gefreut, dass sie so gut in Wiesbadens Gastronomie-Szene aufgenommen worden sind, zu der sie authentisches französisches Ambiente beitragen wollen. Neben ihrem Restaurant „Les Deux Dienstbach“ in der Unteren Albrechtsraße betreiben sie inzwischen auch die Bar „tante simone“ am Sedanplatz. „Es ist uns wichtig, dass man abschaltet und denkt, man wäre in Frankreich“, erklärt Küchen-Chefin Nathalie Dienstbach. Die 35-jährigen Schwestern mit Ausbildungen in besten Häusern – Nathalie bei Sternekoch Harald Wohlfahrt in der Traube Tonbach, Jennifer in der Akademie von Kochlegende Paul Bocuse in Lyon – genießen auch in Wiesbaden schöne Ecken. Im Vergleich zu Frankreich fehle es aber an schönen Terrassen und einer Apéro-Kultur, bei der man sich nach der Arbeit auf einen Drink treffe. Auch gastronomisch sehen die beiden trotz manch guter Angebote noch Luft nach oben. Gerne hätten die beiden in ihrer Mittagspause mehr Auswahl. Die sei in anderen Städten besser. Ganz zu schweigen von Frankreich, wo man auch in kleineren Kommunen noch eine große Auswahl an guten Bäckereien oder Metzgereien findet. Es sei daher nicht auszuschließen, dass die Schwestern eines Tages einmal in ihre zweite Heimat „zurück“ kehren.
Clementine Herveux: Nach Deutschland ist sie gekommen, weil hier die Chancen einfach besser stehen als in Frankreich, als Tänzerin Arbeit zu finden. Das Staatstheater Wiesbaden ist bereits ihre fünfte deutsche Station seit dem Jahr 2008. Besser gefallen hat es der 28-Jährigen nur in Dresden. „Wiesbaden ist eine sehr reiche Stadt, man wird hier viel mehr bewertet“, findet Clementine Herveux. Trotz der Pegida-Demos habe sie das Leben in der sächsischen Landeshauptstadt daher als lockerer empfunden. Aber auch in Wiesbaden, wo sie seit zwei Jahren lebt, sei es sehr entspannt. Sie schätze vor allem die Möglichkeiten, für wenig Geld internationale Küchen genießen zu können. Die vielen Parks gäben ihr die Gelegenheit durchzuatmen, und auch der Neroberg sowie die russische Kapelle gefielen ihr ausgesprochen gut. Ein weiterer Vorteil von Wiesbaden sei die Nähe zu ihrer Heimatstadt Metz. Denn Freunde und Familie vermisse sie mit am meisten. „Mir fehlt die Mentalität. Die Menschen in Frankreich sind wärmer, sozialer“, findet die Tänzerin. Das wiege auch schwerer, als die Sehnsucht nach den Lebensmitteln der Heimat. So könne sie sich zwar vorstellen, einmal in Frankreich zu arbeiten. Ihre nächste Station könne sie aber durchaus auch in ein anderes Land führen, wo sie sich von den Menschen verstanden fühle. (Foto: Denislav Kanev)
Aymeric de la Fouchardière: Deutsche und Franzosen ergänzen sich perfekt, findet der Vorsitzende der Geschäftsleitung „SAVENCIA Fromage & Dairy Cluster Deutschland & Nordics“ mit Sitz in Wiesbaden. Zumindest, wenn man die interkulturellen Unterschiede kenne und respektiere. Dann nämlich ergebe sich eine erfolgreiche Mischung von Kreativität, Prozessorientierung und vorausschauendem Handeln. Einen ersten Eindruck davon hat der heute 44-Jährige bereits bei einem Auslandssemester an der Wiesbadener Fachhochschule gewonnen. Seit drei Jahren arbeitet er nun in Wiesbaden, wo das Unternehmen Marketing, Produktentwicklung und Vertrieb für bekannte Käsemarken wie Géramont, Fol Epi und Saint Albray betreibt. Zwar lebt er mit seiner Familie in Frankfurt, weil sie die Großstadt bevorzuge und die Kinder dort auf die französische Schule gehen. An Wiesbaden schätze der aus Poitiers stammende Wirtschaftsexperte aber die historische Architektur und den immer noch spürbaren Charme einer wohlhabenden Kurstadt des vergangenen Jahrhunderts. Ein Manko sei, dass man im deutschen Lebensmittelhandel kein mit Frankreich vergleichbares Angebot an Fisch finden könne. Ob er jedoch einmal in sein Heimatland zurück kehren werde, könne er nicht sagen. Wer wisse schon, wohin Beruf und Leben einen noch führen.
FRANKREICH IN WIESBADEN
Gastronomie & Gaumenfreuden: Les Deux Dienstbach, Untere Albrechtstraße 16 – tante simone, Seerobenstraße 1, Sedanplatz – Canal du Midi, Blücherstraße 30 – Les Deux Messieurs Boulangerie, Café, Bistro, Marktstraße 2-6, am Dern´schen Gelände – „French Connection Menu“ und „Streifzüge durch die französische Küche“ im Lokal, Sedanplatz – Chez Mamie, Spiegelgasse (derzeit „aus familiären Gründen vorübergehend geschlossen“) – Käfer´s „französisches Bistro im Jugendstil“, Kurhausplatz 1 – Boulangerie Huth, Friedrichstraße 55 – Maloiseau´s Lohmühle, Erich-Ollenhauer-Straße 75 – Café Paris, Moritzstraße 17 – La Brasserie, Rheinstraße 41 – L´Art Sucré, Patissier & Chocolatier, Am Römertor 7 Kultur: Theater im Pariser Hof, Spiegelgasse – Lesungen zum Gastland Frankreich auf der Internationalen Buchmesse (1.-15.10. in Frankfurt) im Literaturhaus Villa Clementine: z.B. Jean-Philippe Toussaint („M.M.M.M.“, 10.10.) – „Cinéfête 18“ im November in der Filmbühne Caligari – „Delacroix — Courbet — Ribot – Positionen französischer Kunst des 19. Jahrhunderts“, ab 10. November im Museum Wiesbaden Mode aus Paris: Weiberkram de paris, Häfnergasse 3 – „1.2.3. un, deux, trois“ – Pret-a-Porter-Boutique im Karstadt Verein: Jeweils am ersten und dritten Dienstag im Monat bietet die Deutsch-Französische Gesellschaft Gelegenheit, auf Französisch in Dialog zu treten. Anmeldungen sind donnerstags zwischen 16 und 18 Uhr unter 0611/542456 möglich.