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Verborgene Welten: Belgische Bierprobe – Grenzgänge jenseits des Reinheitsgebots

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Von Martin Mengden. Foto Simon Hegenberg

Wiesbadens Wilhelmstraße hat zwei Einkaufspassagen. Jeder Wiesbadener kennt sie. Beide Passagen sind, wie eigentlich jede ihrer Art, ungreifbare Unorte. Jeder Winkel dieser Durchgänge ist von einer seltsam diffusen Passagenstimmung durchzogen. Geschäfte, die in Einkaufspassagen liegen, werden jene Aura einfach nicht mehr ganz los; die Ladenatmosphäre kann sich gegenüber der übergreifenden Passagenatmosphäre nur selten durchsetzen.

In einer dieser Passagen betreibt Michèle Van Beirs, gebürtige Belgierin, ein Bistro. Das „Le petite Belge“ ist ein kleiner, zuckersüßer Laden. Es gibt Pralinen, Waffeln, Belgische Fritten und Merchandiseartikel von Tim und Struppi. Auch an den Wänden hängt Tim und Struppi. „Ich bin belgisch“, das steht dem Bistro, in an „Tourist Info“ grenzender Manier, gewissermaßen auf der Stirn geschrieben.

Als ich den Laden betrete, bemerke ich, auch das T-Shirt von Helmut Pfeiffer ist mit einem Tim und Struppi-Motiv bedruckt. Helmut Pfeiffer, Michèle Van Beirs Mann, ist für das belgische Bier zuständig, das es im Bistro ebenfalls zu kaufen gibt. Er verantwortet außerdem die hier regelmäßig stattfindenden Bierproben. Dafür bin ich gekommen, ich möchte dieser so ungewöhnlichen wie seltenen Verkostungsform einmal beiwohnen. Noch allerdings bin ich überhaupt nicht in Bierlaune. Ein Bistro ist eben ein Bistro, denke ich, als solches lädt es mich eher zu Cappuccino und Keksen ein.

Es ist jetzt kurz nach sieben. Die Bierprobe beginnt. Mittlerweile bin auch ich eher bereit für des Deutschen liebsten Liquids. In Sektgläsern serviert uns Helmut Pfeiffer nach und nach ein beeindruckendes Varieté belgischer Brauereikunst. Über 50 unterschiedliche, eigenhändig importierte belgische Biere hält er vorrätig – er schöpft also aus dem Vollen. Ich lerne schnell, die belgische Bierkultur ist weitaus experimentierfreudiger als die Unsrige, es gibt bereits mehr Arten der Zubereitung. Die jeweiligen Resultate tragen Namen wie Lambic, Blonde, Double und Triple, die entstandenen Geschmäcke stoßen bisweilen an die Grenze dessen, was man noch als Bier bezeichnen würde. Auch der Alkoholgehalt der Biere variiert zwischen 2,5 und 12 Prozent. Insgesamt haben sie, nach meinem Gefühl, eher eine Verwandtschaft zum englischen Bier. Und wir Deutschen stehen wieder einmal alleine da, umklammern bockig das Reinheitsgebot.

Die Bierprobe endet um halb elf. Sie entpuppt sich damit als ein Verkostungs-Marathon von sage und schreibe dreieinhalb Stunden. So lange beglückte uns Helmut Pfeiffer mit Überlegungen zu Bier und Belgien, Deutschland, dem Reinheitsgebot, Napoleon, Gerstenmalz und Europa. Spätestens jetzt, zum Ende der Veranstaltung, stelle ich fest: Weitaus beeindruckender als die belgische Biervarianz ist Helmut Pfeiffers Motivation. Dieser Mann, realisiere ich, verfolgt mit seinen Bierproben, neben dem finanziellen Motiv, ein echtes idealistisches Anliegen. Mit gemütlicher Gradlinigkeit und anmutiger Ausdauer steht er ganz im Dienst der innereuropäischen Völkerverständigung und setzt dabei auf bessere Kenntnis von Geschichte und Kultur der Nachbarstaaten und Abbau von unreflektierten Vorurteilen („unser deutsches Bier ist das Beste der Welt“). Und das funktioniert, ich fühle mich den Belgiern schon weitaus näher als noch vor der Bierprobe. Das ist vielleicht keine Überraschung: Mit Bier vor der Nase ist noch der engstirnigste Deutsche rumzukriegen.

Helmut Pfeiffers Bierprobe ist, so gesehen, eine selige Oase der Menschlichkeit in einem Zwischenraum, der wiederum in einem Zwischenraum liegt: Die kühle Diffusität der Einkaufspassage wird mit der eher uneindeutigen Zwitterhaftigkeit des „le petit Belge“ zunächst verlängert. Dann aber, ganz unerwartet, entfaltet sich im Bistro eine Wärme, die sich mit einsetzender Wirkung des Biers – vor allem des alkoholreichen Weihnachtsbiers – noch verstärkt. Jedenfalls vorübergehend setzt sie sich dann sogar gegenüber der übermächtigen Passagenatmosphäre durch.

Belgische Bierprobe, jeden 1. Freitag im Monat ab 19 Uhr (und privat für 6 bis 14 Personen buchbar zu Wunschterminen nach Vereinbarung) im Le Petit Belge, Wilhelmstraße 36, 65183 Wiesbaden, 0611/1667720

Martin Mengden, 28, Musiker, Flaneur und bekennender Jungjurist, öffnet in der Rubrik „Verborgene Welten“ Türen zu Wiesbadener Sub-Welten, durch die nicht jeder auf Anhieb gehen würde.