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Verborgene Welten: Freitanz – Tanz dich selbst

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Von Martin Mengden. Foto Simon Hegenberg. 

Mittlerweile glaube ich, der Sinn des Lebens besteht vor allem darin, sich von der Scham, die man sich während seiner Jugend eingefangen hat, wieder zu befreien. Zugegeben, sehr weit bin ich damit noch nicht, aber immerhin muss ich das Universalschutzschild der Ironie und des Herabschauens auf andere nicht mehr bei jedem kleinsten Beklommenheitsgefühl einsetzen. Im Vergleich zu meiner ostpreußischen Urur-Oma bin ich also vielleicht schon frei wie ein Vogel, im Vergleich zu meinen unmittelbaren Vorgängern sieht das schon ganz anders aus: 68’ hat zwar auch in meiner Generation Spuren hinterlassen, aber schon recht verwischte Spuren. Das merkt man, wenn man einmal auf einer Freitanz-Veranstaltung war.

Scham befiel mich schon beim Eintreten. Christliches Gemeindehaus Biebrich, 20 Uhr. Es war noch nicht ganz dunkel, und ich war stocknüchtern, ein Zustand, in dem man Diskotheken ja normalerweise nicht betritt. „Äh, hallo, hat der Freitanz schon begonnen?“, hörte ich mich fragen. Ich fühlte mich wie ein gänzlich unvorbereiteter Stammesforscher, der ein von der sogenannten zivilisierten Welt bislang abgeschiedenes indigenes Amazonasvolk besuchen und an ihren rituellen Feuertänzen teilnehmen will. Werde ich mich ihnen verständlich machen können? Werden sie mich mit Pfeilen beschießen? Die nette Dame am Eingang schoss keine Pfeile. Sie antwortete, dass es jetzt zwar losgehe, aber die Teilnehmer erst langsam eintrudeln würden. „Ah, ich kann also noch etwas essen vorher?“, fragte ich etwas deplatziert. Sie nickte, ich ging mir Mut anessen und drückte mich so noch eine halbe Stunde vor dem Hereingehen.

Scham befiel mich erneut, als ich zurückkehrte. Ich hatte ein Bier getrunken, das leider nicht wirkte. Am Eingang musste ich nun die Schuhe ausziehen, das Betreten des Tanzraumes war mit Straßenschuhen nicht gestattet. Auf Socken ging ich hinein, sah die barfüßigen Tänzer und die Sitzkissen in den Ecken, steuerte auf das DJ-Pult zu, legte dort die 9,50 Euro Eintritt in eine Kasse und trug mich, wie es ein Zettel auf dem DJ-Pult allen Besuchern nahelegte, in die „Anwesenheitsliste“ ein. Dann steuerte ich eines der Sitzkissen am Rand an, um aus der Tanzlinie zu geraten: Erst einmal sammeln, dachte ich, du bist schon weit gekommen. Ich versuchte, mir ein vorläufiges Bild zu machen. Dabei überkam mich eine Art Tagtraum, dessen Inhalt von der realen Begebenheit wohl inspiriert war: Ich stellte mir vor, wie ich, wieder Schüler, in der Aula meiner Schule stehe. Mit mir dort all die Sport-, Kunst-, Geschichts-, und Physiklehrer, die ich selbst nie hatte, allesamt Antiatomkraftlehrer mit zeitloser Frisur, dem Hang zum Tai-Chi und der beneidenswerten Fähigkeit, niemals Peinlichkeitsgefühle zu entwickeln. Sie alle tanzen in der Aula bei völliger Abwesenheit von Alkohol und flackerndem Diskolicht. Sie tun es ihrem (zumindest auf diesem Gebiet) freien Wesen entsprechend: ausdrucksstark. Ich stehe daneben und bin kurz davor, vor Fremdscham zu zerbersten.

Der Tagtraum ist mit dem realen Geschehen im Bürgersaal natürlich nur ansatzweise deckungsgleich. Ich bin kein Schüler mehr, mittlerweile freut mich jede Form der Enthemmung. Aber so alt bin ich nun auch wieder nicht. So kommt es, dass Überreste der jugendlichen Furcht vor der Menschlichkeit noch in mir fortbestehen. Daran liegt es, dass das Quietschen der tanzenden nackten Füße auf dem Parkett des Bürgersaals, das man hörte, wenn der DJ ruhigere Lieder spielte, immer noch eine leichte Beklommenheit in mir auslöst. Daran liegt es auch, dass ich es immer noch irgendwie peinlich finde, wenn sich spontane gemeinsame Tanz- und Hebefiguren verhaken, weil man die Bewegungen des Gegenübers nicht ganz vorhersagen kann. Immerhin: Vollkommen schamlos beobachtete ich Paare, die begonnen hatten, sich ineinander verkeilt auf dem Boden zu wälzen, vielleicht, weil es so etwas beruhigend Kindliches hatte.

Eine halbe Stunde habe ich gebraucht, um mich innerlich darauf vorzubereiten, selbst zu tanzen. Dann stand ich von meinem Sitzkissen auf und bewegte Arme und Beine, war aber unelastisch wie ein Eichenstamm. Beschämt suchte mein Blick etwas, woran er sich festhalten konnte. Er fand das Kruzifix, das über dem DJ-Pult prangerte. So tanzte ich also, den Blick starr auf das Christuskreuz gerichtet.

Das klappte irgendwann so gut, dass ich meine Bewegungen extremer werden ließ; ich wollte sehen, ab wann man mich bemerkte, ab wann ich irritierte. Doch die Freitänzer sind so leicht nicht zu irritieren. Weder von sich, noch von anderen. Beneidenswert.