Von Michael Weber. Fotos Offert Albers.
Rückblick 10. September 2015: „Kulturlos Wiesbaden – bitte kein Applaus“ lautet der provokante Titel der öffentlichen Debatte im Zelt des Cirque Bouffon, das im Kulturpark demonstrativ leer steht, an diesem Abend aber gut gefüllt ist. Der Ausnahmezirkus hatte in der Innenstadt keine Spielgenehmigung erhalten, und nun diskutieren Kulturschaffende, Vertreter der Verwaltung und der Hochschule sowie Bürger den Zustand der Kultur in der hessischen Landeshauptstadt. Denn gerade alternative kulturelle Angebote, das macht der Abend mal wieder deutlich, haben hier einen schweren Stand. Im Anschluss an die offizielle Podiumsdiskussion tritt der 15-jährige Leon Ried ans Mikrofon und beeindruckt die Zuhörer mit einem emotionalen Statement über die Situation der Jugendlichen in Wiesbaden. Darüber, dass es keine Plätze gibt, an denen sie sich ungestört aufhalten können. Und über das schlechte Image, das die Jugendlichen in den Augen der meisten Erwachsenen haben.
Wiesbaden aus der Zehntklässler-Perspektive
Um herauszufinden, wie es wirklich um die Jugendlichen und ihre Plätze in Wiesbaden steht, habe ich mich an diesem Mittwochnachmittag mit Leon und seinem Klassenkameraden Offert Albers verabredet. Der Plan: eine Tour durch die Stadt an die typischen Plätze, an denen die beiden ihre Zeit verbringen, und mit ihnen – sicher nicht stellvertretend für die „ganze“ Jugend, aber doch exemplarisch – über ihre Erfahrungen und Wünsche sprechen.
Ich treffe zwei aufgeräumte und reflektierte 15-jährige, die beide die gleiche 10. Klasse in der Helene-Lange-Schule besuchen. Unsere Tour beginnt im McDonald‘s am Mauritiusplatz bei einer Cola im 1. Stock.
Leon: Mäcces ist der meistbesuchte Ort nach der Schule, wenn wir was essen gehen oder abhängen wollen. Dann geht’s entweder hier hin oder zum Bahnhof, KFC oder so. Außer zu jemandem nach Hause zu gehen oder in irgendwelche Parks, gibt es keine wirklich öffentlichen Treffpunkte für uns. Und hier ist es auch am billigsten, mit dem Geld ist es ja auch manchmal ein kleines Problem. Cafés sind zu teuer, und dort ist man auch nicht erwünscht, wenn es mal ein bisschen lauter wird.
Michael: Gibt es da auch schon mal Ärger?
Leon: Als Jugendlicher hat man einen schlechten Ruf. Wir werden direkt in eine Schublade gesteckt: wir machen am meisten Dreck und sind am lautesten. Zum Teil stimmt das ja auch, aber manchmal eben auch nicht. Und nicht alle. Klar, Grenzen austesten gehört dazu. Würden wir perfekt das System befolgen, wäre die ganze Welt für uns langweilig. Ausreißen ist schon ein Hauptpunkt. Regeln nicht befolgen. Ziemlich wichtig für uns.
Für Leon ist Hip-Hop-Tanzen ein großes Hobby. Mich interessiert, ob es in Wiesbaden dafür eine Szene gibt.
Leon: Es gibt in Wiesbaden ziemlich viele Tanzschulen, die Hip-Hop anbieten, aber das ist kein richtiger Hip-Hop, was die da machen. Am allerwichtigsten: für Hip-Hop muss es auch Hip-Hop-Musik sein! Mit Pop-Musik ist das nur Clip Dancing. Hip-Hop Szene in Wiesbaden? Schwer zu finden. Es gibt ein paar Leute, die hängen jedoch in Frankfurt ab, wo die Hip-Hop-Szene größer ist. Die größte Szene gibt es im Moment in Paris. Ich würde mir so eine Szene auch in Wiesbaden wünschen. Bei den Hip-Hop-Battles kommen alle zusammen, um zuzuschauen wie die Tänzer gegeneinander tanzen. Da findet ein Austausch statt, und es kommen auch Menschen aus anderen Ländern her. So eine kulturelle Begegnung gibt es hier in Wiesbaden nicht. Das fehlt mir. Ich muss dann nach Mainz fahren, um mir ein Battle anzugucken oder nach Frankfurt, um bei sowas echt Coolem teilzunehmen.
Vor 3 Jahren gab es mal ein Battle in einem Tanzclub in Biebrich. Da sind Leute aus Frankreich und Marokko gekommen. Das war richtig erfolgreich, aber leider nur ein einmaliges Event. Ich habe das Gefühl, dass im Haus der Jugend in Mainz da wesentlich mehr für unsere Altersklasse angeboten wird.
Auf Festen haben Jugendliche nichts verloren
Apropos Events: die ganzen Feste wie das Weinfest, Stadtfest und so weiter. Da finden wir Jugendlichen uns nicht zurecht. In unserem Alter hat man da nicht viel verloren. Das Wilhelmstraßenfest ist eine Ausnahme, aber trotzdem gibt es da ziemlich viele spießige Leute. Die Feste sind gar nicht darauf ausgelegt, dass Jugendliche daran teilnehmen.
Offert: Ja, man sieht das auch. Das Wilhelmstraßenfest ist bestimmt nicht günstig, aber es existiert, und ein Folklore findet nicht mehr statt. Das war das einzige Fest oder Festival in Wiesbaden, das interessant war für Jugendliche. Und das wird dann nicht weiter finanziert neben Kranzplatzfest, Taunusstraßenfest und Wilhelmstraßenfest. Ich glaube, das ist alles eine Sache der Prioritäten, die von der Stadt gesetzt werden, die ganz stark zu Lasten von Jugendlichen gehen. Und das ist dann auch, warum wir im Luisenforum unsere Zeit verbringen, bis wir rausgeschmissen werden.
Wenn die Leute von Auseinandersetzungen und Ruhestörungen sprechen, dann wird das immer schnell auf die Jugendlichen geschoben. Es wird aber nicht überlegt, wo das herkommt. Wenn man den Jugendlichen keinen Raum gibt, dann fördert das auf keinen Fall ein friedliches Miteinander. Und dann gehen wir auf irgendeinen Spielplatz abends um 20, 21 Uhr, und innerhalb von 5 Minuten ist die Polizei da und wir müssen 50 Euro Strafe zahlen, weil wir einfach auf einem Spielplatz gesessen haben. Da waren keine Anwohner, und es hatte noch nicht mal jemand ein Bier oder so. Wir waren nicht laut, wir saßen nur da. Man merkt, dass die Polizei ganz stark darauf gepolt ist, abzuschrecken und uns generell fernzuhalten.
Inzwischen sind wir weitergezogen ins LuisenForum und sitzen nach einem Abstecher in den Saturn im Übergang zwischen Parkhaus und Einkaufszentrum auf einer Bank mit Blick auf die Schwalbacher Straße.
Leon: Saturn ist immer mal ein Ziel, um kurz abzuhängen, um die Musik, die Fernseher und die Spiele auszuchecken. Früher gab es da hinten Massagestühle, da wurde man nicht so oft rausgeschmissen. Irgendwann wurden die dann abgeschafft. Zu viele Jugendliche, die anscheinend im Saturn herumsaßen. Wenn man länger als eine Stunde hier herumsitzt, dann wird man auch direkt rausgeschmissen. Es ist jetzt nicht so, dass die uns hier gerne haben. Aber hier drin ist es immerhin warm.
Offert: Gerade im Winter werden diese Plätze viel beliebter. Im Sommer können wir uns irgendwo draußen hinsetzen, aber im Winter setzen wir uns hier rein. Oder in den Hugendubel, da gibt es diese Liegesessel. Aber da werden wir mittlerweile auch viel rausgeschmissen.
Kreativ genug, um selbst etwas auf die Beine zu stellen
Leon: Ein Ort nur für Jugendliche wäre da schon besser. Wo andere Leute sich dann nicht gestört fühlen. Eine Art Haus der Jugend wie in Mainz. Wo man Getränke kaufen kann, die nicht überteuert sind. Wo wir nicht direkt rausgeschmissen werden, wenn wir mal ein bisschen lauter sind. Wo wir abhängen können, ohne dass irgendjemand etwas dagegen sagt.
Offert: Es geht einfach darum, dass wir einen Ort haben, wo wir gut hingehen können. Wir brauchen nicht die typischen Kurse und AGs wie in einem klassischen Jugendhaus. Um irgendwas auf die Beine zu stellen, sind wir selber kreativ genug. Im Sommer ist das kein Problem. Im Sommer gibt es genug Orte, da können wir in irgendeinen Park. Aber im Winter in Eiseskälte im Dürerpark zu sitzen, das macht einfach keinen Spaß!
Als nächstes fahren wir mit dem Aufzug auf das Dach des Parkhauses und werden dort mit Sonnenuntergangsstimmung und einem fantastischen Ausblick über Wiesbaden belohnt. Auch hier werden die Jugendlichen in der Regel nach kürzester Zeit aufgefordert zu gehen.
Leon: Wir sind jetzt auf dem LuisenForum, P9, ganz oben. Meine Idee wäre, hier irgendwas hinzubauen für Jugendliche. Ich meine, wie viele Leute kommen hier hoch? Das könnte man schon machen, dass hier ein kleines Hüttchen steht. Da gäbe es auch viel Freifläche für Skateboarden oder so. Was man von hier aus noch sehen kann, ist der Henkellpark hinter dem Landesdenkmal. Im Sommer ist das ideal. Da sind kaum Erwachsene und keinen interessiert es, was Du machst.
Michael: Und der Schlachthof?
Offert: Der Großteil der Jugendlichen in unserem Alter, die 15- oder 16-jährigen, haben Respekt vor dem Schlachthof. Aber man kann das nicht verallgemeinern. Ich kenne viele Leute, die trotzdem zum Schlachthof gehen. Für mich ist es weniger der Schlachthof selbst, als der Bereich zwischen dem Hauptbahnhof und dem Schlachthof. Da sind keine Türsteher, die für Ordnung sorgen, da fühlt man sich schon irgendwie unsicher.
Schon genug Mühe damit, normale Jugendliche zu sein
Leon: Am Schlachthof gibt es vor allem die Punk- und die Skaterszene. Die wollen dann häufig unter sich bleiben. Genau wie wir unter uns bleiben wollen. Deswegen gehen auch nicht alle an den Schlachthof. Oder dann kommen wir uns in die Quere, wenn die ihre Musik laut haben und wir unsere Musik laut haben. Da kann es sein, dass man sich gegenseitig stört und dann kommt es zu Streitigkeiten.
Michael: Fühlt Ihr Euch einer bestimmten Szene zugehörig?
Leon: Wir sind eigentlich ziemlich normal. Im Grunde machen wir, was alle anderen auch machen.
Offert: Wir haben schon genug Mühe damit, normale Jugendliche zu sein.
Zum Ende unserer Tour durch Wiesbaden sind wir am Warmen Damm, den Grünanlagen seitlich der Wilhelmstraße, angekommen. Inzwischen ist es dunkel und empfindlich kühl geworden. Dass die Jugendlichen trotz Kälte stundenlang in solchen Parks verbringen, zeigt für mich deutlich den großen Bedarf nach Orten, an denen die Jugendlichen ungestört unter sich sein und „ihr Ding“ machen können. Das Bild der desinteressierten, Social-Media-abhängigen und auf Krawall-gebürsteten Jugend hat sich für mich aber in keiner Weise bestätigt. Vielmehr durfte ich mit zwei engagierten und verantwortlichen jungen Menschen unterwegs sein. Letztes Jahr haben die Beiden an einem durch ihre Schule initiierten Sozialprojekt teilgenommen, um in der mazedonischen Stadt Kavardaci einen Spielplatz zu bauen. In einem Außenbezirk der Stadt gelegen, soll dieser auch als Begegnungsstätte zwischen den Sinti und Roma sowie den übrigen Anwohnern dienen. Die Schüler haben das Projekt dabei von der Planung über das Eintreiben der Spendengelder bis hin zum Bau selbst in die Hand genommen.
Ich habe auf jeden Fall an diesem Nachmittag gelernt, dass es sich lohnt, den Jugendlichen zuzuhören und ihre Sicht auf unsere Gesellschaft kennenzulernen. Sie sind kreative und offene Menschen, die sich für viele Dinge interessieren und Spannendes zu erzählen haben. Wir sollten sie nicht als störenden Faktor betrachten, sondern als gleichberechtigte Partner im öffentlichen Raum. Machen wir sie zu einem Teil der Identität unserer Stadt und lassen sie diese aktiv mitgestalten. Denn von einem vielfältigen Wiesbaden profitieren wir alle.
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Hier geht es zum Editorial „Gebt der Generation `Wohin mit uns?´ mehr Raum zur Entfaltung in Wiesbaden!“
2 responses to “Wohin mit uns? (K)ein Platz für Jugendliche in Wiesbaden – Zwei Zehntklässler zeigen, was (nicht) geht für sie in der Stadt”