Von Sebastian Wenzel und Dirk Fellinghauer. Fotos Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach.
Kreative tun es überall: Sie arbeiten in Cafés, auf dem Balkon oder in Parks. Zum Geld verdienen brauchen sie oft nicht mehr als einen Laptop mit Internetverbindung. Auch in Wiesbaden treffen sich die Selbständigen vermehrt an Orten, für die es kein deutsches Wort gibt.
Normalerweise ist der Anglizismen-Index des Vereins „Deutsche Sprache“ immer auf dem neuesten Stand. Doch dieser Begriff überfordert die Datenbank. Wer nach dem Wortpaar „Coworking Space“ sucht, findet keinen Eintrag. Dabei existieren Coworking Spaces schon seit Jahren. In den USA, in Berlin und inzwischen auch vermehrt in Wiesbaden. Der Begriff beschreibt einen Ort, an dem mehrere Freiberufler, Selbständige oder neu gegründete Internet-Unternehmen arbeiten. Jeder für sich und doch alle gemeinsam. Ein Coworking Space ist wie eine Bürogemeinschaft, mit dem Unterschied, dass sich die Kreativen gegenseitig helfen und austauschen. Sie empfehlen sich weiter und vermitteln einander Aufträge.
Mietvertrag über eine Stunde
Die Mietverträge sind flexibel. Es gibt Tages-, Wochen und Monatsangebote. Schreibtische, Stühle und ein Internetzugang sind vorhanden. Die Unternehmer müssen nur ihre Rechner aufklappen und loslegen. Typische Coworker sind Menschen, die ihr Geld im Internet verdienen. Und davon gibt es auch in Wiesbaden immer mehr.
Im August eröffnete nach langer Vorbereitung und harter Renovierungsarbeit der „heimathafen“ in der Karlstraße, Ecke Adelheidstraße – auch wenn ein Blick durch die Fenster im Erdgeschoss etwas anderes vermuten lässt. In Plastikeimern stapelt sich Geröll. Schraubenzieher und Pinsel liegen auf dem Boden. Demnächst eröffnet hier das heimathafen-Café. In der zweiten Etage, dem eigentlichen Coworking Space, sind die Macher Dominik Hofmann und Abi von Schnurbein, beides weitgereiste und entsprechend inspirierte Endzwanziger, allerdings schon fertig. Auf den Schreibtischen leuchten Lampen und blinken Computerbildschirme. Davor brüten die ersten Mieter Ideen aus: das neugegründete Designstudio „immerwieder“ hat im „heimathafen“ den Anker ausgeworfen. Auch wer nur kurz anlegen möchte, ist willkommen. Die Tageskarte kostet 12,50 Euro, die Monatskarte zwischen 195 und 295 Euro netto – je nachdem, für welches Paket sich die Coworker entscheiden.
Netzwerk-Effekte inklusive
„Im günstigsten Angebot sind ein flexibler Schreibtischplatz, Internet sowie eine angemessene Druckernutzung inklusive. Feste Coworker erhalten einen eigenen Schreibtisch, Schlüssel, Zugang zum Besprechungsraum und ein Regalfach in der Gemeinschaftsküche. Außerdem bekommen sie Rabatte im Café“, sagt Hoffmann. In Zukunft will er noch weitere Dienstleistungen anbieten. Er träumt von einem Steuerberater und einem Rechtsanwalt, die alle Coworker beraten. „Haha! Der heimathafen-Effekt hat zugeschlagen“, jubelten die enthusiastischen Neulinge eine Woche nach Eröffnung auf ihrer facebook-Seite: „Kaum haben wir eröffnet, läuft das Networking zwischen unseren Coworkern und Kunden auf Hochtouren.“ Beispiele folgen auf den Fuß: „Das Wiesbadener Internet-Startup pixoona war zu Gast in unserem Konferenzraum. Auf dem Weg nach draußen habe ich ihnen unsere Coworker vom Designstudio „immerwieder“ vorgestellt – und bäm: Schon haben unsere Coworker einen Auftrag in der Tasche: Nächste Woche startet das gemeinsame Projekt.“ Und Fotografin Xenia habe noch vor ihrem Einzug die erste Wochung von „heimathafen“-Erstmieter, dem Webstrategen Sascha Eschmann, in der Tasche gehabt.
Während der „heimathafen“ gerade eröffnet hat, sind Oliver und Barbara Urban in der Wilhelmstraße schon weiter. In ihrem Coworking Space „Urbanhouse“ treffen sich auf etwa 360 Quadratmetern seit Anfang des Jahres Kreative. An den weißen Wänden hängen rote Bilder. Auf den Schreibtischen stehen Telefone, darunter Rollcontainer. Die Wochenkarte im Gemeinschaftsbüro kostet 79 Euro, die Monatskarte 299 Euro. Auch im „Nizza Loft“, das Leander Rubrecht – bekannt unter anderem als Betreiber des „Nizza des Nordens“ am Kranzplatz – demnächst als ehrgeizges Projekt in der Adolfsallee eröffnen will, sind Selbständige und Freelancer gerne gesehen – allerdings als feste Mieter für einen definierten Zeitraum. Während die Macher des „heimathafen“ Coworking mit einem Café kombinieren, das sie selbst betreiben werden, setzt Leander im Nizza Loft auf die Verbindung mit einer Veranstaltungs- und Ausstellungsfläche. Die Kunsthalle ist gleichzeitig der repräsentative Empfangs- und Eingangsbereich. Außerdem wird noch ein Gastronom für das angeschlossene „Alleestübchen“ gesucht.
So unterschiedlich wie die Angebote sind die potenziellen Nutzer der „Coworking Spaces“. In Wiesbaden gibt es laut einer Studie fast 6.000 Beschäftigte in der Kreativwirtschaft. Nicht alle davon sind selbständig. Aber es werden immer mehr. „In den vergangenen Jahren ist die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland deutlich gestiegen“, sagt Ruth Brandherm von der Friedrich-Ebert-Stiftung. In Wiesbaden gibt es laut einer gerade veröffentlichten Studie rund 45.500 „atypische“ Beschäftigungsverhältnisse, das entspricht einem Anteil von knapp 30 Prozent an der Gesamtbeschäftigung. Die Betreiber der Wiesbadener Coworking Spaces haben sich auf diese Entwicklung vorbereitet. Vielleicht zieht bald auch der Verein „Deutsche Sprache“ nach und findet ein passendes Wort für das Büro der Zukunft. Schließlich sind Coworking Spaces schon längst ein deutsches und nun auch ein Wiesbadener Phänomen.
http://www.heimathafen-wiesbaden.de