Von Anna Engberg. Fotos: Johannes Lay.
Balance und Bewegung: Zirkusartistik in Wiesbaden hat eine lange Tradition. Und eine höchst lebendige Szene. Man muss nur wissen, wo.
Wenn Ende Oktober der European Youth Circus (EYC) erneut seine Zelte auf dem Dern´schen Gelände aufschlägt, wird Wiesbaden wieder für einige Tage zum Zentrum der Artistenszene Europas. Der alle zwei Jahre gastierende Wettbewerb um den Zirkusnachwuchs ist als buchstäblich atemraubendes Festival nicht nur für die Wiesbadener, sondern auch für internationales Publikum ein echtes Highlight.
Zirkus für alle auf dem Elsässer Platz
Abseits des Rampenlichts findet Artistik das ganze Jahr über in Wiesbaden statt – und Platz. Ob Vertikaltuch, Trapez oder Jonglage, es gibt etliche feste und viele freie Angebote, für Kinder und Jugendliche wie auch für Erwachsene, für Neueinsteiger wie für Geübte.
Ganz neu tat sich in diesem Sommer zirkusmäßig etwas auf dem Elsässer Platz. Auf dem einstigen riesigen Parkplatz im Westend entsteht aktuell eine Erholungs-und Freifläche. Ideen für Zwischennutzungen sind willkommen. Eine besonders gute hatte der Neue Zirkus: In den ersten beiden Wochen nach den Sommerferien wurde der Elsässer Platz zwischenzeitlich für artistische Angebote genutzt. Und nun ist es nochmal soweit.
Unter dem Motto „Zirkus für alle“ verlegte dieser seine Angebote auf den Elsässer Platz und öffnete das Training für alle Interessierten. Neben Einrädern, Laufkugeln und Jonglagematerial wurde unter anderem eine freistehende Luftartistik-Anlage aufgestellt, damit sich Jung und Alt im Freien an Vertikaltuch, Trapez und Luftring versuchen konnten. „Einfach vorbeikommen und mitmachen“, lud Caren Beber, Leiterin des Vereins Neuer Zirkus e.V. ein – und tut es nun wieder, diesmal allerdings wieder im Stammdomizil im Kinderzentrum Wellritzhof: Im Rahmen der Kulturtage Westend gibt es heute ab 17.10 Uhr und nochmal ab 18.10 Uhr Kinderzirkus für alle von 6 bis 10 Jahren, am 1. Oktober von 19 bis 21 Uhr Jugendzirkus für alle von 14 bis 21 Jahren und am 2. Oktober von 18.30 bis 20.30 Uhr Erwachsenenzirkus für alle ab 18 Jahren – alles nach dem Motto: „Kugel laufen, Rola-Bola, Einrad fahren, Vertikaltuch, Poi, Teller drehen … Du hast keine Ahnung, was das ist? Komm vorbei und finde es heraus!“
Flambolino, Flambolé und Flambess
Im Westend unterhält der Neue Zirkus mittlerweile eines seiner Hauptquartiere: Im Kinderzentrum Wellritzhof und im Gemeindezentrum Schelmengraben – derzeit auch an der Helene-Lange-Schule – trainieren aktuell rund 100 Kinder ab 6 Jahren, Jugendliche und seit Ende 2021 auch Erwachsene in regelmäßigen Kursen, Workshops und offenen Angeboten, angeleitet von derzeit sechzehn aktiven Trainern.
Angeboten werden unterschiedlichste Zirkus-Genres von der Jonglage mit Bällen, Ringen, Keulen und Diabolos über Balancen wie Seil- und Kugellaufen, RolaBola, Einrad und Leiter bis hin zu Clownerie, Akrobatik und Luftartistik in den Disziplinen Tuch, Trapez und Luftring alias Aerial Hoop. „Bei uns können Menschen aller Altersklassen unter Anleitung die verschiedensten Zirkustechniken erlernen“, erklärt Beber: „Dabei braucht man keine besonderen Vorkenntnisse, die Einstiegskurse sind für alle geeignet.“
Das Angebot teilt sich in drei Altersgruppen: Während im „Flambolino“ Kinder unter 14 Jahren artistische Skills erlernen, trainieren im 2009 gegründeten Jugendzirkus „Flambolé“ Jugendliche ab 15 Jahren. Mit „Flambess“ hat der Neue Zirkus zudem eine Sparte für Junges Varieté ab 20 Jahren. Doch egal wie alt: Gefördert werden bei allen Angeboten die motorisch-koordinativen Fähigkeiten, aber auch soziale Kompetenzen.
„Das gemeinsame Erarbeiten und Aufführen des Showprogrammes erweitert persönliche Ausdrucksmöglichkeiten, fördert die Gemeinschaft und stärkt das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl“, berichtet Beber über den partizipatorischen Ansatz der zirkuspädagogischen Arbeit und betont: „Zirkuskunst hat nämlich auch eine therapeutische Funktion.“
Kinderzirkus mit Tradition – seit 1985
Sie selbst hat sich dem Neuen Zirkus, der damals noch als Wiesbadener Kinderzirkus firmierte, schon im ersten Gründungsjahr angeschlossen – im Alter von nur 5 Jahren. „Das ist bald 40 Jahre her“, lacht Caren Beber. Der Zirkus war damals als städtisches Projekt des Amtes für soziale Arbeit angelegt. Später stellte man feste Zirkuspädagogen ein, die das Angebot als festen Bestandteil der Kinder- und Jugendarbeit in Wiesbaden etablierten. Mit dem gleichnamigen Verein ist seit 1998 noch mehr Unterstützung hinzugekommen.
Nach ersten Auftritten besserte Caren Beber als Jugendliche ihr Taschengeld als Übungsleiterin bei den Zirkusferienspielen der Stadt auf. „Schnell wurde mir klar, dass es mir deutlich mehr Freude bereitet zu unterrichten und zu inszenieren“, erzählt die Zirkuspädagogin in der Retrospektive. Mit ihren Kolleginnen Carolin Schäfer und Linda Rau, die ebenfalls bereits als Kind Artistenluft schnupperte, plant sie aktuell die Zirkusferienspiele im Herbst, wo es wieder heißt „Manege frei im Westend 2024“.
Von Wellritzhof bis Kurpark – die Locations
Artistisch aktiv sind die Beiden bevorzugt im Kinderzentrum Wellritzhof – dem Ort, der mit seiner Rundbau-Arena auch baulich für das zirkuspädagogische Angebot des Vereins angelegt ist: „Form und Aufbau entsprechen genau einer Zirkusmanege. Es sind Luftaufhängungen und Bodenverankerungen für artistische Geräte installiert.“ Aktuell trainieren hier Anfängergruppen, der Jugendzirkus Flambolé (Dienstagabend ab 19 Uhr), die Luftartistik-Gruppen und Erwachsenenkurse. Für 5 Euro pro Monat kann bei „Flambess“ außerdem jeder Interessierte mit artistischer Vorkenntnis die Anlagen in der Wellritzstraße nach Absprache nutzen, so zum Beispiel auch die für Luftartistik.
Ebenfalls in der Wellritzstraße liegt – gut versteckt – die Halle des Vereins Arco e.V. Wiesbaden, einst Programm-Kino in den 1990-er-Jahren. Die geräumige Halle mit Bühne wird vorwiegend für geförderte Kurse, Workshops und Projekte rund um Zirkus und Artistik genutzt. Diese richten sich an Kinder und Jugendliche und werden sowohl in der Schulzeit als auch in den Ferien angeboten.
Im Winter und bei schlechtem Wetter trifft sich hier zudem zwei Mal wöchentlich der Wiesbadener Jongliertreff nebst Akrobaten für ein offenes Training (Montag und Mittwoch ab 18:45 Uhr), zu dem auch gern die Mainzer Community dazustößt. Im Sommer findet beides im Freien am Schlachthof oder im Kurpark statt. Dann sehen aufmerksame Flaneure man schon mal einen Hand-to-Hand auf dem Bowling Green.
„Wir sind eine Artistenstadt“
„Gerade wegen der vielen freien Gruppen und zahlreichen Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche ist Wiesbaden für mich eindeutig eine Zirkus- und Artistenstadt“, findet der Wahl-Wiesbadener Kevin Rensch, der als freier Trainer sowohl beim Neuen Zirkus als auch bei Arco arbeitet. In der Wiesbadener Innenstadt ist der Artist routinemäßig auf dem Einrad unterwegs: „So bin ich auch zu meiner Tätigkeit als Trainer gekommen. Ich wurde von Gabi Keast, der Gründerin des Kinder- und Jugendzirkus Wiesbaden, angesprochen.“
Zum freien Training bei Arco hat Rensch durch einen ähnlich glücklichen Zufall gefunden: „Ich übte im Park Handstand und wurde daraufhin eingeladen mitzumachen“, erinnert er sich. In gleicher Manier spricht er heute auch interessierte Leute in Wiesbaden an und lädt sie zum artistischen Selbstversuch ein. Er ist überzeugt: „Hier gibt es eine Community.“
Ausgleich zum Bürojob
Und diese besteht nicht nur aus jungen Begeisterten. Der 60-jährige Matthias, Bauingenieur aus Wiesbaden, frönt der Artistik „einfach, weil es Spaß macht und sportlich ist, ein guter Ausgleich zum Bürojob eben“. Angefangen hat er mit Diabolo, später wechselte er zu Akrobatik und Acroyoga. Marcus (35), Inhaber eines Gestaltungsmalerei-Betriebs aus Wiesbaden-Nord, wird am Wochenende und manchmal auch unter der Woche artistisch aktiv – „mit Freunden und Gruppen, die sich über Social Media organisieren.“ Er findet: „Die Stadt bietet einfach unglaublich schöne Parks und Möglichkeiten, sich gemeinsam akrobatisch zu betätigen. Das Beste? Es ist spielerisch ohne Wettbewerb, es geht um den Spaß an der Sache.“
Ferienkurse & Zirkuspädagogik
Ausprobieren kann man sich in der Arco-Halle in den festen Kursen des Vereins wie auch bei den vereinsunabhängigen, offenen Trainings, zum Beispiel am Vertikaltuch, im Ring und in Jonglage, beim Einradfahren, Kugellaufen und in Partnerakrobatik. Regelmäßig werden bei den Akrobaten starke Teilnehmer als Base gesucht.
„ARCO ist auch an verschiedenen Wiesbadener Schulen mit Pop-Up-Zirkus-AGs vertreten und bereitet aktuell eine zirkuspädagogische Ausbildung für Erwachsene namens `Circus in Motion´ neben der bestehenden theaterpädagogischen Fortbildung `Bewegung-Spiel-Theater´ vor“, berichtet Rensch, der bei den artistischen Ferienangeboten pro Woche im Schnitt schon einmal 40 bis 100 Kinder mitbetreut.
„Der Zirkus ist unser gemeinsamer Nenner“
Wo viele Menschen zusammenkommen, prallen oftmals auch (Lebens-)Welten aufeinander. „Das bietet Chancen“, findet Caren Beber, die das erstmals bei einem Austauschprojekt mit dem Circo Ocolmena in Ocotal in Nicaragua erlebt hat: „Denn die Leidenschaft für Artistik kann über Kontinente und jede Sprachbarriere hinweg verbinden.“
Über die Jahre hat Beber mit vielen, diversen Menschen Kontakt gehabt, erzählt sie dem sensor. „Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichstem Rückhalt, finanziellen Verhältnissen, persönlichen Herausforderungen und Bedürfnissen“, berichtet sie: „Der Zirkus ist dabei unser gemeinsamer Nenner. Wir trainieren zusammen, entwickeln Shows und Projekte. Und viele der Kinder, die der Verein betreut, bleiben, bis sie erwachsen sind und auf Grund ihres Studiums nicht weiter teilnehmen können.“