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Das neue Ehrenamt: Gemeinsam die Gesellschaft gestalten – ganz nach persönlichem Gusto

Auch am Ende eines Lebens können Freiwillige vieles bewirken, das erlebt auch Joop Peters. „Insgesamt herrscht eine positive Atmosphäre“, sagt der ehrenamtliche Hospizhelfer, hier mit einer Bewohnerin im Hospiz Advena.

Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka, Alexa Sommer/eyetakeyourpicture.

Gemeinsam die Gesellschaft gestalten, dafür wollen sich nach wie vor viele engagieren. Ansprüche und Formate verändern sich aber massiv. Wir waren in Wiesbaden unterwegs und haben Einrichtungen besuchten und mit Engagierten gesprochen.

Das Abschiedsbuch ist die erste Station für Joop Peters, wenn er zwei bis drei Mal pro Woche ins Hospiz Advena nach Erbenheim kommt. Manchmal muss er dann feststellen, dass eine Person, die ihm im Rahmen seiner ehrenamtlichen Tätigkeit ans Herz gewachsen ist, nicht mehr zu den Bewohnerinnen und Bewohnern gehört. In einem Hospiz leben ausschließlich Menschen, bei denen keine Aussicht mehr auf eine Heilung ihrer Leiden gesehen wird. „Manchmal ist die Trauer sehr stark“, berichtet Peters: „Auch während meiner Ausbildung zum ehrenamtlichen Hospizbegleiter ist viel geweint worden. Aber insgesamt herrscht eine sehr positive Atmosphäre. Das glaubt man nicht, wenn man es nicht erlebt hat.“ Nachdem er Anfang 2017 in Rente gegangen sei, habe er erst mal ein halbes Jahr Extrem-Couching betrieben, erzählt der Niederländer. Dann aber habe er etwas Sinnvolles tun wollen, das ihm Spaß macht.

Weil seine Mutter einige Jahre zuvor in einem Hospiz in den Niederlanden betreut worden sei, habe er sich beim Freiwilligentag, den das Freiwilligenzentrum und die Hochschule Rhein-Main alljährlich unter dem Motto „Eintagshelden“ ausrichten, explizit dafür beworben, bei Advena in die Aufgaben der rund 75 Ehrenamtlichen hineinzuschnuppern. Während die hauptamtlichen Kräfte für die medizinische Betreuung zuständig sind, obliegt den Freiwilligen die psychosoziale Unterstützung der bis zu 16 Bewohnerinnen und Bewohner sowie die ihrer Angehörigen. Vier Dienste am Tag sind zu besetzen, bei der Ausgabe von Frühstück, Mittagessen, zur Kaffeezeit oder beim Nachtessen.

Tablett als Türöffner im Hospiz

„Das Tablett ist der Türöffner. Man merkt dann, ob Redebedarf besteht oder nicht. Meine Mission ist erfüllt, wenn ich ein Lächeln gesehen habe“, erklärt der 65-Jährige. Um das Hospiz zu unterstützen, hat er aber auch Vogelhäuschen zum Verkauf auf dem Winterbasar gebaut, ist auf der Suche nach einem Sponsoring für einen Gasgrill und nimmt jedes Jahr wieder am Freiwilligentag teil, um unter den Teilnehmenden für ein längerfristiges Engagement im Hospiz zu werben. Beim Freiwilligenzentrum ist durchaus bekannt, dass viele potenzielle Freiwillige großen Respekt vor der Arbeit im Hospiz haben. Sehr gefragt sind dagegen Engagements für Kinder und Jugendliche. Doch auch am Ende des Lebens kann man viel Positives bewirken. „Die Arbeit hier tut mir gut. Ich habe 47 Jahre gearbeitet, und ich glaube in den zwei Jahren hier habe ich mehr positives Feedback bekommen, als in der Zeit davor“, betont Joop Peters. Dass man Wertschätzung für das erhalte, was man tue, sei das Wichtigste. Es führe dazu, dass man sich wertvoll fühle.

Bereitschaft zum Engagement muss aktiviert werden

Die große Bedeutung von persönlicher Bestätigung ist auch den Mitgliedern des Vorstandsteams des Freiwilligenzentrums, das kürzlich zwanzigjähriges Bestehen feierte, bekannt. „Im Zehnjahresvergleich sind Anerkennung und Wertschätzung bedeutender geworden“, berichtet Karl-Heinz Simon, der die Wiesbadener Stadtanalysen zu Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung federführend erarbeitet hat. Die jüngsten Zahlen haben ergeben, dass trotz einer gestiegenen Gesamtbevölkerung im Bereich der Personen ab 16 Jahren die Zahl der aktiv Engagierten innerhalb einer Dekade von rund 84.000 auf etwa 64.000 gesunken ist. „Die Bereitschaft ist nach wie vor sehr hoch. Der springende Punkt ist, dass diese Bereitschaft nicht ausreichend aktiviert ist“, verdeutlicht Karl-Heinz Simon. Zugangsprobleme bestünden etwa in Veränderungen des Freizeitverhaltens sowie der zeitlichen Strukturen. Nicht umsonst seien Rückgänge des Engagements insbesondere in der Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen zu verzeichnen. Als Tendenz ist bei der Erhebung außerdem ausgemacht worden, dass Männer und Frauen sich am häufigsten im Bereich Sport und Bewegung engagieren, bei Frauen dicht gefolgt von Kirche und Religion sowie Kindergarten und Schule.

Kernaufgaben des Freiwilligenzentrums

Von Beginn an hat sich das Freiwilligenzentrum die Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements über das klassische Ehrenamt hinaus zum Ziel gesetzt, etwa durch zeitlich begrenzte Projektarbeit oder finanzielles Engagement. Zu den Kernaufgaben gehört die Beratung von Interessierten durch eine Gruppe von derzeit sieben Ehrenamtlichen. Seit die Einrichtung vor vier Jahren ins Schenksche Haus mitten in der Innenstadt umgezogen ist, ist dies endlich auch in Gesprächen unter vier Augen möglich. „Viele machen sich nicht klar, dass es schwierig ist, mit Kindern zu arbeiten, solange man tagsüber noch im Hauptberuf tätig ist. Und eine Patenschaft funktioniert nicht, wenn man den halben Monat im Ausland ist. In so einem Fall würde ich empfehlen, in eine Gruppenarbeit zu gehen“, nennt Constanze Bartiromo, die Leiterin des Freiwilligenzentrums, Beispiele für Aspekte, die bedacht werden sollten.

Als eine von insgesamt acht Personen, die mit verschiedenen Stellenanteilen hauptamtlich im Zentrum beschäftigt sind, leitet Constanze Bartiromo unter anderem das „STARK“-Projekt. Mit „STARKEN“ Seminaren, Gesprächen und Veranstaltungen möchte sie bei Bedarf die 315 Partner-Organisationen durch niedrigschwelligen Austausch untereinander bei der Suche nach passenden Freiwilligen aus der aktuell mehr als 3.000 Personen umfassenden Datenbank unterstützen. Damit ihnen etwa die interne Kommunikation leichter fällt, sie Freiwillige besser über soziale Medien ansprechen oder sie die Nachfrage nach einem anerkennenden Wort nicht vergessen. Kurz: Damit sie möglichst gute Rahmenbedingungen bieten. Die Vermittlung von Freiwilligen ist Dank der Finanzierung des Zentrums durch die Stadt, einen eigenen Förderverein oder Projektmittel für beide Seiten kostenfrei.

Engagement will gelernt sein

Was solche Seminare bringen können, weiß man etwa in der Wellritzstraße. „Eine Kollegin, die relativ neu ist, hat schon an einigen Seminaren teilgenommen zu Themen wie der Vermittlung von Inhalten oder wie man nach außen auffällt“, berichtet Adriana Shaw. Auch sie selbst habe diese Angebote bereits genutzt. Schließlich hat die Soziologin vor ihrer Tätigkeit bei Kubis, dem auf der „Hauptmeile“ des inneren Westends ansässigen „Verein für Kultur, Bildung und Sozialmanagement“, auch schon im Freiwilligenzentrum gearbeitet. „Man kann dabei viel gewinnen“, findet die 31-Jährige. Auch sonst profitiere Kubis sehr vom Angebot des Zentrums, denn die Vereinsaufgaben könne man ohne das Engagement Freiwilliger gar nicht leisten, schon gar nicht mit individueller Betreuung.

Vielfältige Möglichkeiten, sich einzubringen

Rund dreißig Personen seien an vier Tagen pro Woche als Grundschulpatinnen und -paten gefragt. Weniger regelmäßiges Engagement sei möglich bei Angeboten wie dem Projekt „Hallo“, bei denen Zugezogene gemeinsam mit Ehrenamtlichen ihre neue Heimat erkunden. Ganz nach den jeweiligen Bedürfnissen könne dabei das Gesundheitssystem genauso kennengelernt werden wie Sehenswürdigkeiten. Auch für den Lese- und Schreibservice, bei dem ohne Anmeldung Unterstützung bei Behördenbriefen, dem Ausfüllen von Formularen oder dem Schreiben eines Lebenslaufs geleistet wird, suche man permanent Freiwillige. Die entsprechende Anzeige im online-Bereich sowie am blauen Brett des Freiwilligenzentrum sei daher dauerhaft geschaltet. Insgesamt seien knapp sechzig Personen regelmäßig beim Verein ehrenamtlich aktiv. „Wir suchen auch selbst, aber es ist eine echte Unterstützung, weil das Freiwilligenzentrum eine große Reichweite hat. Leute aus anderen Stadtteilen würden wir sonst nur schwer bekommen“, verdeutlicht Adriana Shaw. Der in Kolumbien Geborenen ist es eine Herzensangelegenheit, andere zu unterstützen, die die Sprache des Landes noch nicht beherrschen, in dem sie leben. Auch in ihrem Heimatland sei sie bereits ehrenamtlich aktiv gewesen. Dort sei dieses Engagement aber eher informell organisiert und erfolge vor allem auf privater Ebene. „Es ist toll, wie selbstverständlich hier Ehrenamt gelebt wird. Das fängt als Schulsprecher an und auch die Kommunalpolitik erfolgt ja ehrenamtlich“, lobt die Stadtteilmanagerin für das Westend.

Umwelt, Natur und Tierschutz hoch im Engagement-Kurs

Ein besonders großes Interesse gebe es laut der jüngsten Stadtanalysen an freiwilligem Engagement in den Bereichen Umwelt, Natur und Tierschutz. „Hier herrscht die größte Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und dem gewünschten Engagement“, berichtet Karl-Heinz Simon. Es könnte unter anderem an dem breit gefächerten Themenbereich liegen, dass die bestehenden Angebote nicht unbedingt mit den individuellen Interessen übereinstimmen. „Für Organisationen wird es immer wichtiger, ihre Strukturen an das anzupassen, was der Zeitgeist erfordert“, findet Anna-Marita Leibbrand. Beim Wiesbadener Kreisverband des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) ist man aber ganz zufrieden mit der Beteiligung aus dem Kreis der mehr als 1.000 ehrenamtlichen Mitglieder. Schwieriger sei es, Menschen zu finden, die Aktionen planen und vorbereiten oder sich dauerhaft mit einem Thema befassen und dazu dann auch selbst gemeinsam mit anderen Aktivitäten entwickeln, schildert Julia Beltz. Der Kreis der Aktiven bestehe derzeit aus etwa 15 Personen. Einbringen könne man sich beispielsweise bei der Betreuung der Amphibienschutzanlage in Auringen, bei der Pflege einer Streuobstwiese in Breckenheim sowie beim Anlegen von Kleinbiotopen für Bienen und Schmetterlinge in Kloppenheim. Über Unterstützung freue man sich außerdem bei der Besetzung von Infoständen.

Von Schlagworten bis Sektausschank

Dass ehrenamtliches Engagement weit über die Freiwillige Feuerwehr und die Lernhilfe hinaus gehen kann, zeigt auch das Beispiel des Stadtmuseums. Um dessen Arbeit zu unterstützen werden derzeit weitere Ehrenamtliche gesucht, die beim Abtippen der Inventarlisten aus den vergangenen Jahrzehnten helfen. Denn so lange diese nur handschriftlich vorliegen, können sie nicht in die Schlagwortsuche eingebunden werden. In den Listen ist festgehalten, welche Objekte für das Stadtmuseum eingegangen sind. Neben der Inventarnummer ist zum Teil mit einer Beschreibung festgehalten, was es ist und falls es gekauft worden ist, ist auch der Preis überliefert. „Dafür muss man zuverlässig und sorgfältig sein und es ist von Vorteil, wenn man schnell schreiben kann. Fachleute wären optimal“, erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin Carolin Falk. Wem das zu trocken ist, der kann das Stadtmuseum aber auch bei Veranstaltungen beim Sektausschank unterstützen oder am internationalen Museumstag den Luftballon-Weitflug-Wettbewerb betreuen.

Seit fünfzig Jahren gibt es in Deutschland die Grünen Damen, die Menschen in Krankenhäusern oder Altenhilfe-Einrichtungen betreuen. „Bei uns gibt es seit einiger Zeit auch einen grünen Herrn“, berichtet Katrin Silano vom Seelsorge-Team des St. Josefs- Hospitals. Die Freiwilligen, die heute keiner Konfession mehr angehören müssen, seien hier jeweils für eine bestimmte Station zuständig. Was sie dort tun, sei so individuell, wie die Freiwilligen selbst. Manche organisierten Dinge, die für den täglichen Bedarf fehlen, bei anderen könnten die Patientinnen und Patienten über ihre Situation reden. Bei einem Aufnahmegespräch werde über Hygiene, Datenschutz und die nötige Neutralität in Fragen der politischen und religiösen Überzeugung informiert. Für ihr regelmäßiges Engagement hätten die Freiwilligen ein Essen in der Kantine des Sankt Josefs Hospitals frei und könnten umsonst dort parken oder bekämen ihr Busticket erstattet.

Leitbild für Engagement

Für die Entwicklung des bürgerlichen Engagements in Wiesbaden hat man beim Freiwilligenzentrum ein Leitbild entwickelt, von dem man hofft, dass es in diesem Jahr verabschiedet wird. Außerdem möchte man in Kooperation mit dem Heimathafen eine Begegnungsstätte schaffen. „Wir wollen ein Bürgercafé in der Stadt installieren für Menschen, die sich engagieren und darüber austauschen möchten. Zum Beispiel im Alten Gericht“, berichtet Jürgen Janovsky, der Vorsitzende des Trägervereins des Freiwilligenzentrums. Durch die Nähe zum Standort der privaten Hochschule Fresenius erhoffe man sich eine Verbindung zu den Studierenden. „Wir brauchen eine App, um junge Leute schnell zu erreichen, wenn Angebote reinkommen“, findet Angelika Netzeband. Die Leiterin des Zentrums hingegen will Menschen in der Rush Hour des Lebens anders erreichen. „Wir müssen Menschen in ihrem Lebensumfeld zu Engagement animieren. In Schulen, Kindergärten oder der Nachbarschaftshilfe in ihrem Viertel“, glaubt Constanze Bartiromo. Potenziell Interessierte gibt es für beide Herangehensweisen und so wird man beim Freiwilligenzentrum auch in Zukunft eine große Bandbreite benötigen, um das Ehrenamt zukunftsfähig zu halten.

Engagement-Kontakte

Zu erreichen ist das Freiwilligenzentrum, www.fwz-wiesbaden.de, unter der Telefon-Nummer 0611/60977695 oder per mail an: info@fwz-wiesbaden.de, der BUND Kreisverband Wiesbaden über den Vorsitzenden Michael Döring unter der 0172/1041220 oder per mail an: info@bund-wiesbaden.de, die Stiftung Stadtmuseum per mail an: info@stiftung-stadtmuseum-wiesbaden.de , „Die Grünen Damen im St. Josefs-Hospital unter   0611/1771174 oder per mail an mmueller@joho.de.