„Und macht euch wieder wer betrunken, verlasst euch drauf, geschieht es noch.“
(aus „An meine deutschen Leser“, Gedicht von Curt Bloch (1908-1975), der 1933 vor den Nazis in die Niederlande floh und zwischen 1943 und 1945 in seinem Versteck 484 nun wiederentdeckte Gedichte schrieb.)
In welcher „Demokratie verteidigen!“-Laune sind Sie,
liebe sensor-Leser:innen? Ich formuliere diese Frage in einem Moment der Überwältigung. Am Nachmittag vor dem Druck dieser ersten sensor-Ausgabe des Jahres 2024, am Sonntag, dem 21. Januar 2024. Ein Tag, an dem in Deutschland erneut Hunderttausende auf die Straße gehen gegen Ausgrenzung und Hass, gegen Fremden- und Ausländerfeindlichkeit, gegen Rechtsextremisten, gegen die AfD. Für die Demokratie.
Ein Tag, an dem Großdemonstrationen wegen Überfüllung abgebrochen werden, in München wie auch schon wenige Tage zuvor in Hamburg. Ein Tag an dem, wie ebenfalls bereits in den Tagen zuvor, in Metropolen und in der Provinz, im Westen, Osten, Süden, Norden, Menschen in überwältigender Anzahl auf die Straße gehen, um „Nein“ zu sagen und „Stopp“.
Die Bilder versetzen mich in eine Laune der Zuversicht und Hoffnung. Weil – von einer Minderheit, wohlbemerkt – immer mehr und immer schamloser Unsägliches gesagt wird, begreifen immer mehr, dass wir – die Mehrheit – es uns nicht mehr leisten können, dazu nichts zu sagen, nicht zu reagieren, nichts zu unternehmen. „Mit Likes ist es nicht mehr getan“, sagte ich in der ersten Fassungslosigkeit nach den Correctiv-Veröffentlichungen zu meinem besten Freund. Ein Blick auf die Straßen zeigt: Diesen Gedanken müssen auch andere gehabt haben. Überwältigend viele andere.
Auch Wiesbaden geht auf die Straße – drei Tage nach dem Druck dieser ersten sensor-Ausgabe des Jahres, am Donnerstag, dem 25. Januar 2024. Hier organisiert das von etwa vierzig Organisationen, Verbänden, Parteien und Akteuren der Zivilgesellschaft getragene „Wiesbadener Bündnis für Demokratie“ die Demo mit anschließender Kundgebung im Zentrum unserer Stadt. Unter dem Motto „Demokratie verteidigen! – `Nie wieder´ ist Jetzt!“ wird ganz sicher auch die Landeshauptstadt an diesem Abend ein starkes Signal aussenden. Das ist gut, und das tut gut. Und dann?
Dann muss es weitergehen, dann fängt es eigentlich erst an. „Das darf keine kurze Laune sein“, schrieb der Schauspieler Kevin Silvergieter, als er – wie so viele andere, vielen Dank dafür – unsere Instagram-Ankündigung der Demo in seiner eigenen Insta-Story teilte.
Ganz genau: Der Protest gegen die AfD und alle Rechtsextremisten und auch gegen als „salonfähig“ hingenommene Worte und Taten gegenüber Menschen, die zu uns gehören und die immer zu uns gehören werden, muss zur Dauerlaune werden, ebenso das Eintreten für unsere offene Gesellschaft, für Menschlichkeit und Miteinander, für die Demokratie. Die Gelegenheit dafür bietet sich jeden Tag, in jeder Situation, bei jeder Begegnung. In der Familie, im Freundeskreis, im Verein, auf der Arbeit, in Unternehmen. Aber auch in der Kneipe, an der Bushaltestelle, in Schule und Uni, auf dem Sportplatz, an der Supermarktkasse. „Ständige Wachsamkeit ist notwendig, ständiges Gegenhalten, Entlarven und Einordnen“, sagte Wiesbadens OB Gert-Uwe Mende jüngst beim Neujahrsempfang der Stadt und betone: „Wir dürfen das nicht auf besondere Anlässe beschränken oder an bestimmte Funktionsträger oder Gremien delegieren.“
„Nie wieder“ ist Jetzt! Lange nicht war die Stimmung im Land, dies ein für alle Mal klarzumachen, lange nicht war das Momentum vielversprechender als: Jetzt! „Nie wieder“ sind wir!
Dirk Fellinghauer, sensor-Demokrat
PS: Auch der Rheingau geht auf die Straße gegen Rechtsextremismus: