„Jennifer, Du Schlampe, ich liebe Dich!!!”, brüllt ein junger Typ, schätzungsweise Anfang 20, in sein Handy, als ich aus meinem Schlaf aufschrecke. „Den Hurensohn bringe ich um”, brüllt er weiter. Ich blicke auf die LED-Anzeige meines Radioweckers. 5.13 Uhr leuchtet dort in mattem rot. Den wütenden jungen Mann, der fünf Stockwerke tiefer auf der Straße seine (Ex?-)Freundin zur Sau macht, interessiert das nicht. Dafür einige andere Bewohner des Hauses.
Zumindest höre ich die Stimme des Griechen aus dem dritten Stock, der seinerseits den Gehörnten zur Sau macht. “Halt die Fresse. Hier wollen Leute schlafen”, krakeelt er von seinem Balkon herab. Ich höre auf, mich im Bett herumzuwälzen. Was jetzt kommt, kenne ich. Ich stehe auf, öffne das Fenster und betrachte das Schauspiel.
Weitere Fenster gehen auf. Andere Menschen fühlen sich auch um ihren Schlaf gebracht und brüllen das durch die Nacht, so lange, bis auch der letzte Bewohner der Straße wach ist. Der junge Mann hat das Gespräch mit seiner (Ex?-)Freundin vorerst beendet. Er widmet sich den Rufern auf den Balkonen und in den Fenstern der Straße. Sollen sie doch die Bullen rufen, schreit er. „Komm doch runter, ich fick’ dich, du Schwuchtel”, lädt er einen älteren Herren aus dem Nachbarhaus zum Tête-â-tête ein. Das animiert andere Schau- und Schreilustige zu wütenden, nicht jugendfreien Kommentaren. Das verbale Ping-Pong-Spiel nimmt seinen Lauf. An Schlaf ist jetzt nicht mehr zu denken.
Ich zünde mir eine Zigarette an und überlege, was ich dem Typen antun könnte, der mit Jennifer hinter dem Rücken ihres (Ex?-)Freundes poussiert hat und die Schuld für meinen geraubten Schlaf trägt. Mir fallen auf Anhieb einige gemeine Sachen ein. Ihn auf eine Liege schnallen und dann stundenlang – schön langsam natürlich – mit der Gänsefeder über seine Fußsohlen streichen, das könnte Spaß machen. Ich könnte natürlich die Polizei rufen, wie das andere Menschen in Wiesbaden gerne machen. Aber warum? Ich lebe in der Stadt. Ich wollte das so. In Auringen wäre mir das nicht passiert. Da würde nur irgendwann ein Hahn krähen. Kurze Wege haben halt ihren Preis.
Deshalb verstehe ich auch nicht, warum es Menschen gibt, die sich sofort bei jedem Fest, dass diese Stadt feiert, beschweren müssen. Die drei Tage im Jahr wird man ja irgendwie verschmerzen können. Oder man feiert halt mit. Dann kann man später auch besser schlafen. Die letzte Glut meiner Zigarette fällt ab, ich drücke die Kippe auf einem Dachziegel aus und begebe mich wieder in mein Bett. 5:45 Uhr zeigt der Wecker mittlerweile an. Um 7:00 Uhr wird er klingeln. Genügend Zeit also für ein gutes Buch. Ich greife zu „Reise ans Ende der Nacht” und schlage die erste Seite auf.