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Nicht nur Wähler, sondern Fans – Warum Sven Gerichs „Überraschungssieg“ so überraschend gar nicht war

Kommentar von Dirk Fellinghauer

Was Überraschungssieger Sven Gerich als OB kann, wird sich in den nächsten sechs Jahren zeigen. Was Sven Gerich als OB-Kandidat konnte, zeigte er in den letzten Wochen und auch am Wahlabend: die Menschen in jeder persönlichen Begegnung – und derer gab es mehr als viele – begeistern, anstecken, mitreißen – und schließlich, es gab ja durchaus doch auch Inhalte, überzeugen. Was diesen Wahlsieg(er) so ungewöhnlich und faszinierend macht: Viele, die ihm ihre Stimme anvertraut haben, sind nicht nur Wähler, sondern Fans. Sie haben nicht halt mal das kleinere Übel gewählt, sondern sehr bewusst ihr Kreuz bei einer Person gemacht, von der sie  nicht nur irgendwie angetan, sondern schlichtweg komplett begeistert sind.

Das zeigte sich schon im Wahlkampf und umso mehr am Wahlabend, an dem der aus dem Strahlen nicht mehr herauskommende Sieger zeitweise wie ein Popstar gefeiert wurde.   „Jetzt habbe mer nitt mer den Herrn Doktor, sondern unsern Sven“, lautete einer der aufgeschnappten Sätze im Rathaus-Festsaal. Unzählige wollten ihm dort, und später in der Altstadtkneipe Litfasssäule und noch später im Park Café, die Hände schütteln, ihm gratulieren, ihn fotografieren oder, noch besser, ein gemeinsames Bild mit ihm ergattern.

In den Tagen vor der Wahl, am Wahltag selbst und umso mehr seit der Wahl wird der 38-jährige überschüttet mit besten und meist sehr herzlichen Wünschen, auf seiner facebook-Seite, persönlich, telefonisch, per Post, per Mail. Wer ihm dieser Tage eine Mail schreibt, erhält als automatische Antwort: „Bitte haben Sie Verständnis, dass die Beantwortung Ihrer Email einige Tage in Anspruch nehmen kann. Die Flut an Glückwünschen hat mein Emailpostfach schier zum Überlaufen gebracht.“ Heute früh postete er: „Das Künstlerviertel braucht kurzfristig einen weiteren Briefträger. Was in meinen Briefkasten los ist schlägt dem Fass den Boden aus.“ Wer ihm dieser Tage nahe ist, weiß, dass er weder übertreibt noch kokettiert und schon gar nicht prahlt, sondern einfach irgendwie seinerseits seine Freude loswerden will.

Sven Gerich ist, was Politiker selten sind: ein Hoffnungsträger – nicht nur für seine Partei, sondern auch und ganz besonders für seine Wähler. Damit gesellen sich zum Vertrauensvorsprung immense Erwartungshaltungen. Damit ist Ernüchterung im harten Alltagsgeschäft bereits vorprogrammiert. Seine Wähler und ihre Hoffnungen auf ein „besseres“ Wiesbaden nicht zu enttäuschen und gleichzeitig noch die andere Hälfte der Müller-Wähler und schließlich auch die bedauerlich große Zwei-Drittel-Mehrheit der Garnicht-Wähler mitzunehmen auf seinem Weg zu einer „menschlichen Stadt“, das wird die große und schwierige Aufgabe für das künftige Stadtoberhaupt. Er vermittelt, dass er große Lust drauf und keine Angst, wohl aber Respekt davor hat.

Die „S(v)ensation“ kam überraschend, aber nicht von ungefähr

Sven Gerichs Wahlerfolg, mit dem kaum jemand rechnete – sechs Jahre Amtszeitvorsprung und 10 Prozentpunkte Stimmenvorsprung, die muss man erst mal wieder „loswerden“ – , kommt zwar überraschend, aber nicht von ungefähr. Die „S(v)ensation“ ist das Resultat einer Kumulation diverser Faktoren, und des für den einen glücklichen, für den anderen verhängnisvollen Aufeinandertreffens einer ungeahnten Stärke des Herausforderers im Kontrast zu einer unerwarteten Schwäche des Amtsinhabers.

So erfrischend, engagiert und einfallsreich der Fast rund um die Uhr-Wahlkampf von, mit und für Sven Gerich war, so fad und farblos war der des amtierenden OBs. Gerich gab selbst eindrucksvoll selbst schon alles und konnte sich vor Unterstützung kaum retten. Sie kam von supermotivierten Jusos (nicht nur aus Wiesbaden) ebenso wie von populärer (z.B. Hannelore Kraft) oder zumindest interessanter (z.B. Sigmar Gabriel) Prominenz, von einer geschlossenen und hochmotivierten Basis und eben von parteiungebundenen Wählern, die sich anstecken ließen vom Gerich-Fieber und es weiter und weiter potenzierten. Sie kam schließlich sogar noch von den Grünen, mit denen sich die SPD in Wiesbaden keineswegs immer grün war und ist, die nicht nur eine Wahlempfehlung für Gerich aussprachen, sondern sogar mit ihm gemeinsam Straßenwahlkampf machten.

Und Müller? Der stand samstags recht einsam und verunsichert an seinem Wahlkampfstand auf dem Mauritiusplatz und ließ beim Hausbesuch-Wahlkampf so viele Bilder von sich in Begleitung der Landtagsabgeordneten Astrid Walllmann posten, dass man sich irgendwann fragte: um wen von den Beiden geht es nun eigentlich? Gerich trat authentisch, sympathisch, dynamisch und charismatisch auf – und punktete so bei der Persönlichkeitswahl mit: seiner Persönlichkeit. Er nutzte souverän den eigentlich einzigen (Aus)weg  in einem Wahlkampf zweier großkoalitionärer Gegenspieler, in dem inhaltliche Abgrenzung und Akzentuierung schwierig war (und doch bei genauem Hinsehen, aber das kann man ja von Otto Normalwähler nun wirklich nicht verlangen, durchaus auszumachen war).

Unbeirrt vs. Unbeholfen

Schließlich: Gerich ging auch nach dem ersten Wahlgang im Stichwahlkampf unbeirrt seinen einmal eingeschlagenen Weg konsequent weiter, während das offenbar doch auf eine Stichwahl gänzlich unvorbereitete Müller-Team endgültig jede Souveränität sausen ließ, hektisch agierte und fast schon unbeholfen versuchte, irgendwie Oberhand zu behalten (sogar mit dem bescheuerten „Argument“ für seine Amtskompetenz „Familienvater: 3 Kinder“, das in diesem Kontext nur als Möchtegern-Affront gegen den schwulen Gegenkandidaten verstanden werden konnte). „Weil er´s kann“ lautete plötzlich der neue, eher fadenscheinig und wirr untermauerte OB-Slogan, während Gerich es war, der tatsächlich zeigte, was er kann. Irgendwo in diesem Wahlkampf war die Souveränität des „sicheren Siegers“, dem allgemein ein klarer Sieg im ersten Wahlgang prophezeit worden war, auf der Strecke geblieben.

„Da geht was“ – auch für die Stadt, Herr OB in spe!

Letztlich war die Wahlentscheidung dann wohl tatsächlich eine Stil- und Sympathiefrage. Und diese Frage konnte, wenn auch denkbar knapp, Sven Gerich für sich entscheiden. „Da geht was“ lautete Sven Gerichs beschwörende Losung mit Blick auf seine Wahlchancen im Stichwahlkampf. Ihm, seinen Wählern und Wiesbaden ist zu wünschen, dass er dieses Motto mit in sein Amtszimmer nimmt, das er am 1. Juli beziehen wird. Als täglichen Ansporn und herausfordernden Hinweis darauf, dass in der Stadt, in der der OB der letzten sechs Jahre ohne Zweifel einiges und durchaus auch Gutes bewegt hat, einfach  eindeutig noch mehr „geht“.

 

1 response to “Nicht nur Wähler, sondern Fans – Warum Sven Gerichs „Überraschungssieg“ so überraschend gar nicht war

  1. Dieser Bericht trifft den bekannten Nagel 100% auf den Kopf! Tolle Berichterstattung Sven Gerich ist ein Bürger unserer Stadt und hoffentlich bleibt er so wie er Jetzt momentan ist. Einen abgehobenen OB hatten wir 6 lange Jahre das reicht! Liebe Grüße von einem ehemaligem Spitzensportler der Stadt Wiesbaden!

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