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Pianist Francesco Tristano zelebriert Musik aus allen Richtungen als Einladung zum Leben – sensor-Interview

Von Dirk Fellinghauer (Text und Fotos)

Turnhose, weit ausgeschnittenes Schlabber-T-Shirt, Flipflops – nicht die typische Arbeitskleidung für einen weltweit gefeierten Klassikpianisten. Für Francesco Tristano schon. In diesem Outfit absolviert er die Probe vor seinem – komplett im Stehen gespielten – Konzert beim Rheingau Musik Festival im Schlachthof Wiesbaden und auch – direkt nach den Zugaben und nach einer schnellen Dusche – das Interview in seiner Künstlergarderobe, zu dem er Sake serviert. Sein an Lässigkeit kaum zu überbietender Look ist die augenscheinlichste Auffälligkeit, die ihn vom Großteil seiner Kollegen unterscheidet. Der wesentlichere Unterschied zu anderen Klassikkünstlern ist seine musikalische Bandbreite. Der gebürtige Luxemburger tritt nicht nur in Konzerthäusern auf, sondern auch in Technoclubs. Und das in einer Taktung, die seine Managerin Danielle Schadeck, die von Luxemburg aus seine (Welt-)Reisen bucht, mitunter in Sorge versetzt: „Manchmal bin ich zuhause und denke, oh je, jetzt kommt er wieder nicht zum Schlafen“, erzählt sie am Rande der Proben im Schlachthof. Beim Auftritt in Wiesbaden kommt er auch nicht zum Essen. Bei den Proben verdrückt er hastig eine Banane – während er Klavier spielt. Noch wichtiger für ihn: Espresso! Danielle läuft über das halbe Gelände, rüber zum 60/40, um ihrem Schützling einen kleinen Wachmacher zu besorgen.

Der radikale musikalische Spagat, der viele in Staunen versetzt, ist für den variabel Virtuosen eine Selbstverständlichkeit: „Musik ist eine Einladung zum Leben“, sagt der Lockenkopf, der mit seiner jungen Familie in Barcelona zuhause ist, wenn er nicht für Auftritte rund um die Welt jettet. Er selbst führt ein rastloses Leben zwischen Recital und Remix, zwischen Johann Sebastian Bach und Carl Craig, zwischen Tasten und Reglern. Wenige Tage vor seinem 36. Geburtstag hat er nun beim renommierten Label Sony Classical sein erstes Soloalbum mit ausschließlich eigenen Klavierkompositionen. „Piano Circle Songs“ führt vom Rhythmus, der in den letzten Jahren sein vorwiegend elektronisches musikalisches Wirken bestimmt hat, zurück zur puren, reinen Melodie.

Ohne Bach niemals so viel Spaß im Leben

Musik ist für Tristano kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch: „Wenn ich Bach spiele, dann will ich genauso frei sein wie in meiner eigenen Musik. Ich weiß nicht, was ich lieber mag“, sagt er, während er sich nach dem frenetisch gefeierten Konzert  erschöpft („Ich bin total müde, deshalb wirke ich so entspannt“) aber glücklich („Super Location, tolles Pubikum. Wir haben alles gegeben, zwei Stunden nonstop.“) auf dem Sofa des Backstageraums lümmelt: „Mein Leben ohne Bach wäre sehr schwierig. Ich glaube nicht, dass ich da so viel Spaß hätte.“

Die Offenheit wurde ihm quasi anerzogen. Seine Mutter hörte pausenlos laute Musik, Vivaldi, Bach und Wagner so gerne wie Pink Floyd oder Ravi Shankar. Der kleine Francesco saß als Fünfjähriger am Klavier, gab mit 13 sein erstes klassisches Konzert – und war mindestens irritiert, wenn nicht schockiert: „Es waren keine jungen Leute im Publikum.“ Seit diesem Tag treibt ihn die Frage um, „warum klassische Musik nicht lebendig ist“. Auf die logische Folgefrage, ob die Klassik noch zu retten sei, hat er noch keine abschließende Antwort gefunden. Er beschreibt einen „organischen Erneuerungsprozess“, an den er glaube: „Ich habe schnell gemerkt, dass viel am Format liegt und daran, wie man klassische Musik präsentiert. Er trägt seinen Teil bei zur Erneuerung als Grenzgänger, der aus Mustern ausbricht, sich den Konventionen des herkömmlichen Klassikbetriebs aber nicht völlig verschließt.

Nachts um 2 im Technoclub auf Ibiza, am gleichen Abend im Konzerthaus

Auch wenn der Künstler für die Musik, und ihre Zukunft, spürbar brennt, sieht er sich nicht als Missionar: „Ich bin kein Aufklärer, auch kein Erklärer, sondern Musiker.“ Den Techno entdeckte er in New York, während er die berühmte Juilliard School absolvierte. Seither ist es für ihn kein Widerspruch, nachts um 2 Uhr in einem angesagten Technoclub auf Ibiza ein Liveset inmitten ausschweifender Raver abzufeuern und am selben Abend in einem Konzerthaus in Mailand Klassik für ein hochdiszipliniertes Publikum darzubieten. Beides tut er mit tiefster Intensität. Sein neues Album strotzt vor Intimität.

Kinder als Inspiration – und als Reality Check

Auslöser für die „Piano Circle Songs“ war ein Handyvideo von seinen Kindern, als diese in Luxemburg im Park Merl, wo er selbst aufgewachsen ist,mit dem Schlitten einen Berg herunterfahren: „Zehn Sekunden nur, eigentlich nichts – aber es war so schön, dass es mich inspiriert hat. Ich habe mich ans Klavier gesetzt und gesagt: Record!“ Seine beiden Söhne, 2 und 4 Jahre alt, ein dritter wird im Oktober erwartet, haben nicht nur das Album maßgeblich beeinflusst, das er „eine Hommage an die Kindheit“ nennt. Sie sind es auch, die den Rastlosen zum Abbremsen bringen: „Ich sehne mich nach Ruhe und weiß, dass ich dieses Leben nicht ewig so weiter machen kann“, sagt er und schildert, als 35-Jähriger, spürbare Begleiterscheinungen des Älterwerdens: „Es ist anstrengend! Meine Rettung sind die Kinder. Denen ist es total egal, wo du aufgetreten bist, mit wem – die wollen einfach nur, dass du Zeit mit ihnen verbringst. Das ist mein Reality Check.“

Beben mit Chilly Gonzales

Auch Chilly Gonzales, der seinerseits kürzlich beim Rheingau Musik Festival das Kurhaus zum Kochen brachte, bringt Tristano ins Schwärmen. „Es ist selten, dass eine Kollaboration wirklich bebt“, beschreibt er seine Zusammenarbeit mit dem seit Jahren bewunderten kanadischen Musiker, die er als einzigartig empfunden hat. Als musikalischen Schnittpunkt hätten sie den Jazz gefunden: „Ich denke ein bisschen wie ein Jazzmusiker, ohne selbst einer zu sein. Die ganze Freiheit kommt vom Jazz.“Freiheiten nimmt der Musiker sich auch im Konzertbetrieb.

Am 24. September um 20 Uhr ist Tristano nun – nach gefeierten Albumpremieren im Funkhaus Berlin (Fotos links und oben) und in London – in der Alten Oper Frankfurt für „Eine Winterreise“ gebucht. „Schubert ist aber gar nicht mein Ding“, verrät er, warum das Programm nun „(M)eine Winterreise“ heißt. „Es wird ein Spaziergang – also dass man zwar einen Wegweiser hat, aber nicht genau weiß, was kommt. Wie bei einem Spaziergang, wo man sagt, ich könnte zwar geradeaus gehen, aber ich gehe lieber links“, beschreibt er sein Vorhaben für den Abend in der Alten Oper und meint lachend: „Ich mag die Leute etwas irreführen, ein bisschen unverschämt.“ Wer herausfinden will, wie die Reise am Ende tatsächlich verläuft: Es gibt noch Karten für Kurzentschlossene – online und an der Abendkasse. Um 20 Uhr beginnt das Konzert, im Anschluss gibt es einen Talk an der Bar.

Zwei Fragen an Francesco Tristano im Wortlaut:

Du hast in Wiesbaden schon im Kurhaus gespielt und nun im Schlachthof. Wo hast du dich wohler gefühlt?

„Ich fand beide Locations eigentlich perfekt. Ganz unterschiedlich natürlich. Aber sehr ergänzend. Die perfekte Akustik in einem etwas älteren Stil des Kurhauses, diese Fresken, das ist unglaublich. Aber der Schlachthof ist auch super. Man hatte mir schon sehr viel schönes erzählt, dass es auch regelmäßig zu den Top-Locations in Deutschland gewählt wird. Ich mag die Philosophie dahinter. Ich mag den Underground-Aspekt, das etwas subversive, die Hausbesetzer-Mentalität, da bin ich gerne dabei. Es erinnert mich an Bern, in der Schweiz, da gibt es eine Location, die ist vergleichbar – Reitschule Dachstock. Die haben eine sehr sehr ähnliche Geschichte – ein okkupiertes Haus, dann sind Stadt und Kanton eingesprungen, das zu finanzieren und zu sanieren. Nun hat es ein super Programm, ein super Lineup, ist politisch bewusst – toll. Eigentlich muss man in Wiesbaden die beiden Orte kennen.“

Dein neues Album heißt „Piano Circle Songs“. Steht „Circles“ auch für die Sehnsucht nach Harmonie in einer Welt, die gerade alles andere als rund läuft?

„Das ist die Botschaft, die nicht im Titel steht, die aber mitschwingt – vielleicht eine Nostalgie, da kommt auch die Kindheit ins Spiel, die Unschuld Wir sind alle schuldig, für die ganze Situation, die ganze Welt. Aber die Kindheit ist nicht schuldig. Und wir bringen die Kinder in eine Welt, die suboptimal ist, das ist noch ein lockeres Wort, um nicht zu sagen totally fucked up – pardon my french. Es ist traurig, aber ich will die Hoffnung behalten. Natürlich ist die Kunst ein großer Teil dieser Hoffnung. Kunst ist eigentlich gar keine Lösung, sie bringt keine Ordnung ins Chaos, sondern verursacht im Gegenteil eher noch mehr und mehr Chaos. Aber es ist halt Kunst. Und die kann unser Leben positiv beeinflussen.“

www.francescotristano.com