Von Max Blosche. Fotos Lena Benz, Ludmila Lorenz, Alexa Sommer, Dirk Fellinghauer.
Die Menschen sind wieder unterwegs in diesem Sommer, die Reisebüros freuen sich über gesteigerte Nachfrage – und über die Bereitschaft, für eine Auszeit fern der Heimat tiefer als üblich in die Tasche zu greifen. Aber auch, wen es nicht in die Ferne zieht, wer es sich nicht leisten kann oder aus Pandemiegründen immer noch nicht riskieren will, hat beste Aussichten auf einen fantastischen Sommer: in Wiesbaden.
Früher gab es mal so etwas wie ein Sommerloch, eine Saure-Gurken-Zeit in Sachen Veranstaltungen. Davon ist nichts mehr zu spüren. Den ganzen Sommer hindurch lässt sich ganz Unterschiedliches unter freiem Himmel erleben, vieles davon „umsonst und draußen“. Nichts wie raus: in der Stadt!
Wiesbaden geballt urban
Gleich das erste Juli-Wochenende hat es in sich. Gleich drei komplett neue Freiluft-Veranstaltungen werden die Straßen und Plätze und Parks mit besonderem Leben erfüllen und Wiesbaden geballt als eine, aber ja doch, richtig coole, zeitgemäße, zukunftsgewandte Stadt präsentieren, die vor Urbanität nur so strotzt.
Da ist zum einen der erste Superblock-Sonntag. Am 3. Juli heißt es, das in Barcelona erfolgreich entwickelte Konzept der Superblocks in Wiesbaden auszuprobieren. Gemeinsam mit Bürger:innen sollen Wege für eine nachhaltige und klimagerechte Mobilität gefunden werden. Ziel ist es, den Straßenraum durch autofreie Zonen gerechter zu verteilen und mehr Bereiche zu schaffen für Mensch und Natur. Kinder können auf der Straße spielen, Nachbar:innen finden Platz zur Begegnung und zum Verweilen. Soweit die Theorie. Die Praxis wird in Wiesbaden erstmals am 3. Juli erprobt.
Innenstadt: menschengerecht
Bürger:innen sind heute bis 20 Uhr eingeladen, den Straßenraum in drei verkehrsberuhigten Quartieren neu zu entdecken – und herauszufinden, wie eine menschengerechtere Innenstadt aussehen kann. Mehrere Häuserblocks und Straßenzüge werden zu einem sogenannten Superblock zusammengefasst, dort einzelne Straßenabschnitte in autofreie Zonen umgewandelt und damit zu „öffentlichen Wohnzimmern für alle“ mit mehr Raum zum Spielen, Verweilen, Spazierengehen und Radfahren. Der Superblock-Sonntag, der auf eine Initiative des Wiesbadener Jugendparlaments aus dem Jahr 2019 mit Bezug auf den damals ausgerufenen Klimanotstand der Stadt Wiesbaden zurückgeht, findet – mit unterschiedlichsten Aktionen und Ideen vieler Gruppen, Einrichtungen, Initiativen oder auch Privatleute – in den drei Quartieren Inneres Rheingauviertel, Wiesbaden-Mitte/ Herderstraße, Inneres Dichterviertel statt.
Alle Infos und das komplette Programm sind hier zu finden.
Festival feiert das Fahrrad
Das komplette erste Juli-Wochenende über, vom 1. bis 3. Juli, finden zudem zwei völlig neue Festivals statt – das eine feiert das Fahrrad, das andere die Kultur und die Künstler:innen aus Wiesbaden und Umgebung. Die „Wiesbaden Bike Experience Days“ – erdacht, konzipiert und organisiert von dem Wiesbadener Designer Michael Eibes, veranstaltet von der Wirtschaftsförderung, präsentiert von sensor – bringen Fahrradkultur mitten in die Innenstadt. Nicht mit erhobenem ideologischem Zeigefinger, sondern mit Fokus auf Lust auf Fahrradfahren in allen erdenklichen Facetten. Auf dem Programm stehen etwa das Open Air-Bike Film Festival am Freitagabend, Livemusik, BMX Flatland Show, ein Slow Race-Wettbewerb, außerdem Repairshop, Workshops, E-Bike-Testangebote, Fahrradbörse, Ausstellung historischer Fahrräder, Präsenz lokaler Bikeshops und Akteure und vieles mehr: www.wiesbadenbikeexperiencedays.de
„CAF“ mit über 400 Künstler:innen
Über 400 Künstler:innen werden sich beim CORON-Arts-Festival CAF vom 1. Juli ab 17 Uhr bis 3. Juli rund um den Schlachthof im Kulturpark und Kesselhaus präsentieren, und das bei freiem Eintritt. Sie kommen aus allen erdenklichen Sparten – Musik, DJs, Schauspiel, Theater, Straßentheater, Tanz, Performance ebenso wie Lesung, Poetry-Slam, Literatur, Malerei, Bildende Kunst, Installation oder Multimedia, Filmdokumentation, Graffiti, Jonglage, Zauberei und und und. Einzigartig: Die von einer Jury ausgewählten Mitwirkenden wurden schon vor ihren Auftritten bezahlt – während der Corona-Pandemie, die ihnen das Leben als Künstler:innen besonders schwer machte. Das Line-up liest sich einerseits wie ein „Who is Who“ Wiesbadener Musik-, DJ-, Künstler-Vertrauter, strotzt aber auch vor Namen, von denen man noch nie etwas gehört hat. All dies zu entdecken, einzutauchen, sich einzulassen, verspricht ein äußerst spannendes und inspirierendes Wochenende – und eine „Demonstration“, wie groß, aufregend und vielfältig die Wiesbadener Kunst- und Kulturszene ist. Und damit auch, wie wichtig es ist, diese zu unterstützen, zu schützen und: zu feiern! Impressionen vom Auftakttag hier.
Die Jugend sagt: Her mit dem schönen Leben!
Auch am zweiten Juli-Wochenende spielt sich im Kulturpark – wo übrigens jeden Freitag ab 17 Uhr chillige „Sounds in the Sun“ locken – Großartiges ab. Das „Youth Culture Festival“, ehrenamtlich in diesem Jahr unter dem Motto „Her mit dem schönen Leben!“ organisiert, bringt am 9. Juli fantastische Livemusik auf die Bühne. A Time to Stand, Sun’s Sons, Thizzy, Forward, Roller Derby, Donkey Kid und Amilli spielen ab 15 Uhr auf. Vorher empfiehlt sich ab 10 Uhr der Besuch des großartigen Schlachthof-Flohmarktes, der bis zum Oktober am ersten Samstag jedes Monats auf das weitläufige Gelände lockt.
Kleinode im Westend
Ein besonderes und jederzeit besonders lebendiges und lebhaftes Viertel präsentiert und feiert sich am 9. Juli. Über sechzig Teilnehmende öffnen zu „Kleinode im Westend“ ganztägig von 11 bis 19 Uhr ihre Türen zu Werkstätten, Läden, Hinterhöfen und Vorgärten, zu Ausstellungs- und Aufführungsorten. Sie laden ein zum Stöbern, staunen, durchs Viertel streunen und verweilen. Zu entdecken sind Kunst und Fotografie, Musik, Lesungen, Tanz und Yoga ebenso wie hochwertige Lebensmittel, lokale Gastronomie, Vintage-Artikel, Kinderprojekte, Schritte der Stadtbegrünung, Kulturinitiativen und vieles mehr. „Flanieren Sie mit einem Verzeichnis der Teilnehmenden durch das Quartier“, lädt das Organisationsteam ein: Der Plan liegt vor Ort zahlreich aus und ist am 9. Juli im Zentrum des Geschehens – bei Bedarf inklusive persönlicher Beratung – erhältlich: am Infopunkt an der Freiluftgalerie „Westend-Galerie“ Bismarckring, Ecke Goebenstraße.
Plädoyer für kreative Köpfe
„Es erwartet Sie ein wunderbarer Westend-Tag“, verspricht „Kleinode“-Erfinder Titus Grab: „Sehen Sie, welches breit gefächertes kreatives Potential in diesem Stadtquartier – aller bitterer, coronabedingter Verluste zum Trotz – zu Hause ist! Es geht um mehr als das Wohlfühlen: die Stadtgesellschaft benötigt kreative Köpfe, denen das, was sie tun, eine Herzensangelegenheit ist.“ Bei aller Vorfreude bemerkt Titus Grab: „Die Palette der Teilnehmenden ist erfreulicherweise besonders bunt. Es ist dennoch nicht zu übersehen, dass die erzwungenen Schließungen des langen Corona-Lockdowns bleibende Lücken hinterlassen: vielen Kulturschaffenden vor Ort wurde die Existenzgrundlage zerstört. Bei vielen, die noch da sind, machen sich Frust und Ermüdung breit.“ Grab, der selbst Bildender Künstler ist, berichtet: „Es bedurfte aktuell nicht selten einer gehörigen Portion `Motivationshilfe´ zur Teilnahme.“ Mit Blick auf wahrnehmbare Veränderungen im Viertel mahnt Grab: „Wir sind angewiesen auf bezahlbare Räume. Gleichzeitig steigen deren Kosten rapide an, indirekt auch von uns selbst unfreiwillig befeuert, da nun unser Stadtviertel als `Kiez der Kreativen´ gehypt wird und damit ins Visier der Immobilienbranche gerückt ist: wir brauchen keine Spekulanten, sondern Hauseigentümer:innen, die ortsgebunden sind und verantwortlich handeln.“
Improsommer als buchstäblicher Höhe-Punkt
Ein buchstäblicher Höhe-Punkt im Wiesbadener Draußensommer: Improvisationstheater hoch oben auf dem Neroberg. Für Garderobe keine Haftung verwandelt ab 8. Juli die Erlebnismulde wieder in eine der schönsten Bühnen, die es gibt. Bei Picknickatmosphäre unter freiem Himmel erlebt das Publikum spontanes Theater vom Feinsten. An fünf Wochenenden werden jeden Freitag- und Samstagabend spontane Theatervorstellungen inszeniert. Dabei reicht die Bandbreite von einer Reihe kurzer Szenen zu abendfüllenden Geschichten.
Zombies auf dem Neroberg
Gespannt sein darf man am 16. Juli auf „Show of the Dead“. Ein Konzept, das die Hamburger Gruppe Steife Brise entwickelt hat und das die Möglichkeiten des Zombie-Genres auslotet, inklusiver einer Menge Kunstblut. Als weiteres Highlight wird am 5. August ein vollständig improvisiertes Konzert gespielt. Aber auch bekannte und beliebte Shows wie „Pappstars“, „Die Bibliothek des Zufalls“ oder „Auf Shakespeares Spuren…“ fehlen nicht. Zum Abschluss gibt es, das erste Mal seit drei Jahren, den „Champignon“, eine Improtheater-Meisterschaft mit Gästen aus ganz Deutschland.
Kino unter freiem Himmel
Kino! Umsonst und draußen! Das Open Air Filmfest Wiesbaden kehrt mit zwölf Filmabenden in die Reisinger-Anlagen zurück. Vom 14. Juli bis zum 6. August, jeweils donnerstags, freitags und samstags bei Einbruch der Dunkelheit. Auf dem Programm stehen – ohne Eintritt unter freiem Himmel – zwölf ungewöhnliche, unterhaltsame, wegweisende und wichtige Filme, die aus dem Kinoangebot der letzten zwei Jahre ausgesucht wurden. Den Auftakt macht am 14. Juli der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm „Walchensee Forever“. Weitere Filme sind etwa „Rosas Hochzeit“, „Kokon“ oder „Rocketman“. Jeder Filmabend wird traditionell mit einem passenden Kurzfilm eröffnet. Für die kulinarische Versorgung auf der Wiese wird gesorgt. Die „Bilderwerfer“-Bar öffnet um 19 Uhr. Nicht umsonst und draußen, aber auch mit Eintritt eine klasse Sache für Filmfreunde: Beim SCHIFF Open-Air-Kino werden am Schiersteiner Hafen von 11. bis 21. August sowie an der Reduit vom 25. August bis 4. September aktuelle Filme gezeigt.
Klatsch feiert 36, 37, 38 Jahre
Das Café Klatsch ist Kult, das Klatsch-Fest ebenso. Nach zwei Jahren Pause „wegen du weißt schon was …“ feiert das Kollektiv nun 36, 37, 38 Jahre Plenum, Punk und Politik mit einem allererste Sahne-Fest auf der Gass´ und auf zwei Bühnen mit „mehr als 38 Künstler:innen ab 2 Uhr nachmittags bis 38 Uhr nachts“.
Wiesbaden PiPend auflockern
„Wir haben einen Nerv getroffen, um Wiesbaden etwas aufzulockern“, sagt Mario Krichbaum. Und eine ganz besondere Wiesbaden-Idee ist aufgegangen: „Poesie im Park“, das Krichbaum künstlerisch leitet und mit einem höchst engagierten Team Ehrenamtlicher organisiert, feiert als „Eine Art Festival“ mit seinem Konzept der künstlerischen Spielwiese in diesem Jahr schon Fünfjähriges. Man agiert nach wie vor mit liebenswertem Chaos als Prinzip, über die Jahre dabei aber auch immer strukturierter und organisierter – und längst etabliert als besonderer Termin im Wiesbadener (Freiluft-)Kulturkalender. Vom 12. bis 14. August verwandelt sich der Schlosspark Biebrich erneut einen verzauberten und verzaubernden Ort, in einen Kunst-Kultur-und-Happening-Park. In „Park-Buchten“, auf dem „Kunst-Rasen“ und rund um die Orangerie – diesen besonderen, entdeckten und eroberten Ort, den vor „PiP“ wohl kaum jemand kannte in der Stadt – wird den verschiedenen Künsten, Kunstrichtungen, künstlerischen Darbietungen und Aktionen gefrönt. Was schon mal im sensor stand, gilt nach wie vor: „Zu dem Zauber dieses Festivals gehört es, eben vorneweg nicht so ganz genau zu wissen, was genau einen erwartet – und sich trotzdem ziemlich sicher sein zu dürfen, hinterher sehr erfüllt und froh und glücklich zu sein, sich für den Besuch entschieden zu haben.“ Wer den Besuch Mitte August nicht abwarten kann: Ein Teil des „Kunst-Rasens“ im Schlosspark soll diesmal schon zwei bis drei Wochen vor Festivalbeginn freigegeben werden für aufmerksam und neugierig machende Kunst. Und: Der für faszinierende Arbeiten bekannte Bildhauer Roger Rigorth ist dabei, und eine soziale Plastik soll gemeinsam mit dem Publikum entstehen.
Und drinnen? Auf zur großen Stella-Schau!
Und wenn das Sommerwetter mal nicht draußengemäß ist, weil es regnet, etwas frisch – oder auch zu heiß – ist? Dann hinein ins Indoor-Sommervergnügen. Museumsbesuche sind immer gut und tun auch im Sommer gut. Im Museum Wiesbaden ist die aktuelle große Frank Stella-Schau die Wucht und ein absolutes Muss. Der US-Amerikaner prägte mit seinen geometrischen, puristischen Bildern die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. Die große Sonderausstellung – mit „nur“ 25 Werken, die aber zum einen meist riesige Ausmaße haben und es zum anderen, teilweise buchstäblich, in sich haben – im Museum Wiesbaden zeigt einen der wichtigsten Vertreter der abstrakten Malerei. Im Rahmen der Eröffnung der von sensor als Medienpartner präsentierten Schau wurde dem 86-Jährigen der Alexej-von-Jawlensky-Preis verliehen, freudig entgegengenommen von seiner Tochter Rachel, die über ihren in New York lebenden und nach wie vor arbeitenden Vater berichtete: „Seine Kunst hält ihn am Leben“.
Ein Highlight der Schau, die laut Kurator Jörg Daur „keine Retrospektive“ ist, ist neben den Serien mit jeweils ganz unterschiedlichem Charakter aus den früheren Jahrzehnten seines Schaffens die erste museale Präsentation von Stellas neuesten skulpturalen Arbeiten. Stellas Werk ist überaus vielschichtig, weder abstrakt noch gegenständlich im herkömmlichen Sinne. Bis heute erweitert er die Malerei: in den Raum, aber auch konzeptionell. Der Besuch dieser Ausstellung – und der Gelegenheit dann am besten auch gleich noch der großen Jawlensky-Schau „Alles“, die dem Jawlensky-Preis-Träger Frank Stella zu Ehren bis zum 14. August verlängert wurde – sollte in jeden Wiesbaden-Sommer-Plan gehören. Ein wundervoller Sommerplatz-Geheimtipp ist übrigens, ob mit oder ohne Ausstellungsbesuch, auch die Museumstreppe.
Noch viel mehr fabelhafte Wiesbaden-Sommer-Ideen jederzeit und immer wieder auf www.sensor-wiesbaden.de sowie facebook / sensor. wi, Instagram / sensor_wiesbaden, Twitter / sensorWI
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Weitere Tipps für den Wiesbaden-Sommer:
Natürlich endlich wieder Rheingauer Weinwoche, also „das“ Weinfest – 12.-21.08. / Minigolf spielen an der Straßenmühle oder auf der Platte / Auf der Platte auch Outdoor-Kegelbahn / 175 Jahre Nassauischer Kunstverein Jubelfeier – 16.7. ab 15 Uhr / tolle Draußen-Orte mit besonderem Charme aufsuchen wie HerzSchnidde, Chateau Nero, Kransand Bistrobar, Waldkiosk Schloss Freudenberg, Lufti-Kiosk … / Livemusik mit local heroes genießen jeden Sonntag um 16 Uhr im Neuen Schützenhaus, jeden Mittwoch im Kiezgarten am Sedanplatz / Theater und einiges mehr erleben im verwunschenen Kultur-Dschungel Unter den Eichen / immer und überall: support your locals!