Von Hendrik Jung. Fotos Samira Schulz (Porträts), Dirk Fellinghauer (Archivstreifen).
Die Wiesbadener Kulturinstitution Schlachthof wird 30. Drei Akteure – 26, 45, 63 Jahre alt – erzählen.
Am 5. Dezember 1994 ist das Kulturzentrum geboren im abbruchreifen Haus. In der frisch renovierten „Räucherkammer“ geben die Bands Cellkirk und Spock den Startschuss einer Geschichte, die nun 30 Jahre währt. Was der Wiesbadener Kulturinstitution die Zukunft bringt, ist in der Vergangenheit angelegt. Anlässlich des Jubiläums blicken deshalb drei Akteure zurück und voraus, deren Stern jeweils in einem anderen Jahrzehnt aufgegangen ist.
Erste Dekade: Gerhard Schulz
„In der ersten Dekade wurde die Richtung angelegt und der Weg gepflastert“, erläutert der heutige Vereinsvorsitzende. Zu den Pflastersteinen, die für Gerhard Schulz das Fundament des Kulturzentrums bilden, gehört ein Mission Statement, das er um das Jahr 1995 herum mit einem Edding auf einer Wand festgehalten hat: „We’re gonna paint the town“. Heute würde er noch hinzufügen: „With better culture“.
Ganz wörtlich hat das im ersten Jahrzehnt nicht nur mit eigenen Veranstaltungen funktioniert, sondern auch mit dem auf dem Gelände des heutigen Kulturparks ausgerichteten Graffiti-Festival Wall Street Meeting. Später erfolgte die Übernahme der Organisation des legendären Folklore (im Garten)-Festivals, das nach dem Umzug vom Schloss Freudenberg ab 2007 bis zum Aus 2015 auf dem Schlachthof-Gelände stattfand. Eine ganz besondere Farbe kam im Jahr 2003 mit dem „Projekt Schulz“ hinzu: Der heute 63-jährige warf seinen Hut bei der Wahl zum Oberbürgermeister der Landeshauptstadt in den Ring. Schulz´ rückblickende Erklärung dafür ist einleuchtend: „Wenn keiner unsere Politik macht, müssen wir es eben selber machen.“
Dissens als Fundament
Der Dissens ist für ihn ein weiterer fundamentaler Pflasterstein. Man habe Neues ausprobieren und Widersprüchlichkeiten riskieren müssen. Eine Haltung, zu der ihn nicht zuletzt der 2021 verstorbene ehemalige CDU-Kulturdezernent Peter Riedle inspiriert habe. Dieser habe gar davon gesprochen, dass er in Pflicht sei, ins Risiko zu gehen. In Sachen Kulturzentrum letztlich mit Erfolg, obwohl man weder in der linken Szene noch in der konservativen Politik anfangs von der Möglichkeit einer gelingenden Zusammenarbeit ausgegangen sei.
„Als wir angefangen haben, Eintritt zu nehmen, haben wir zu hören bekommen: Jetzt wird es kommerziell“, erinnert sich Gerhard Schulz. Natürlich habe es nach der ersten Öffnung der Tür zur Räucherkammer nicht lange gedauert, bis es so weit gewesen sei. Schließlich habe man für den Betrieb des soziokulturellen Zentrums eine bessere Infrastruktur benötigt. Gestartet sei man mit Wasserversorgung, Heizung und einer rudimentären Stromversorgung. Diese sei aber schon kurz darauf bei Bauarbeiten gekappt worden, so dass man jahrelang mit Dieselgeneratoren habe arbeiten müssen.
Von Taschenlampen und Leuchttürmen
Vom ersten Tag an habe man zudem nach Zuschüssen gefragt. Ein Pflasterstein, der für das Gründungsmitglied geradezu ein Stützpfeiler der Entwicklung war, sei die Entscheidung gewesen, den Schlachthof auf keinen Fall ehrenamtlich zu betreiben, auch wenn es sich zunächst nur um einen Stundenlohn von einer Mark gehandelt habe. „Es war nicht viel, aber es gab keine größere Motivation als zu sagen: Da müssen zwei Mark draus werden“, betont Gerhard Schulz. Zumal es nicht nur ihm so gegangen sei, dass er seine vorherige Tätigkeit nicht dauerhaft habe aufrecht erhalten können zusätzlich zum Engagement für das soziokulturelle Zentrum.
Ob es existentiell die richtige Entscheidung war, in dieses Risiko zu gehen, sei damals alles andere als klar gewesen. Bis heute kritisiert Schulz, der längst auch in Gremien wie dem Kulturbeirat oder IHK-Vollversammlung und -Ausschüssen mitmischt, die Politik der Kultursubvention, die für ihn aus der Zeit des Wirtschaftswunders stammt und vor allem sogenannte Leuchtturmprojekte fördert. „Leuchttürme strahlen in die Ferne. Darunter ist es dunkel“, erklärt Gerhard Schulz. Für die Stadtgesellschaft sei es wichtiger, Taschenlampen zum Leuchten zu bringen.
Kollektiv im Wandel
Ein vierter Schlachthof-Pflasterstein bestehe in der kollektiven Organisationsstruktur, die sich nicht nur in der basisdemokratischen Entscheidungsfindung widerspiegelt, wenn auch diese in den Anfangsjahren noch umfassender war. Bis heute gebe es keine Hierarchie von Arbeit, vom Booking über die Theke bis zum House Keeping sei jeder Arbeitsbereich wichtig für den Betrieb und regele seine Arbeit selbst. Über die Jahre hinweg habe sich jedoch immer wieder die Frage gestellt, wie man den geebneten Weg beibehalten könne. „Die Frage ist, wie bekommt man die Prägung in Gegenwart und Zukunft transferiert. Es geht darum, dies im Lauf der Jahre anzupassen“, betont Gehard Schulz. Denn natürlich haben Teammitglieder, die später dazu gekommen sind, ein anderes Verhältnis zum Schlachthof als die erste Generation.
- Dekade: Dennis Peters
Für die amerikanische Band At the Drive-In hat es Dennis Peters einst aus seiner Heimatstadt Gießen zum Konzert in die Räucherkammer des Schlachthofs gezogen. Das Kulturzentrum ist dann auch ausschlaggebend gewesen für seine Entscheidung, das Studium der Sozialen Arbeit in der Landeshauptstadt aufzunehmen. Gearbeitet hat der 45-Jährige in dem Beruf aber bis heute nicht. Dafür ist er seit seinem Umzug im Jahr 2000 dem Schlachthof verbunden. Zunächst hat er sich als Neu-Wiesbadener ehrenamtlich im Kulturzentrum eingebracht. Sei es an der Theke, am Einlass oder beim Aufhängen von Plakaten.
Pünktlich zum Beginn der zweiten Dekade hat er dann angefangen, hauptamtlich für den Schlachthof zu arbeiten, wo er heute einer der Programmgestalter sowie als Chef des Abends tätig ist. Damit sind Punk-, Hardcore- und Metalshows sowohl seine private Leidenschaft als auch sein Beruf geworden. „Mein Herz schlägt für die kleinen Shows, aber bei großen Shows arbeiten 50 Leute, nicht sieben“, erläutert Dennis Peters.
Entscheidender Umbruch
In der zweiten Dekade hat er den entscheidenden Umbruch in der Geschichte des soziokulturellen Zentrums miterlebt und -geprägt. Die alte Halle des Schlachthofs ist nämlich im Jahr 2010 aufgrund ihres Erhaltungszustands geschlossen worden. „Es war traurig, dass manche gehen mussten, aber den Rest hat es enger zusammengeschweißt“, blickt Dennis Peters zurück. Rund die Hälfte der Belegschaft konnte nicht weiter beschäftigt werden, als der Veranstaltungsbetrieb auf die Räucherkammer beschränkt werden musste. Nur ein Teil von ihnen hat später den Weg zurück ins Kulturzentrum gefunden.
Für die verbliebene Crew stand nun erneut eine Zeit großer Ungewissheit an. „Die Frage war, ob es eine Sanierung geben sollte oder eine Teilsanierung und was mit der Räucherkammer geschieht. Die Halle zu sanieren und die Räucherkammer nicht, wäre nicht nachhaltig gewesen“, erinnert sich Dennis Peters. Schließlich ist es zu einem Gesamtkonzept gekommen mit dem Neubau der Halle und der Nutzung des bis dahin weitgehend leerstehenden, denkmalgeschützten Wasserturms.
Kirche als Konzertlocation
Der 45-jährige ist damals Teil der Gruppe gewesen, die mit der Stadtentwicklungsgesellschaft über die Gestaltung der neuen Halle diskutiert hat. Etwa über die Breite des Gebäudes, die Höhe der Bühne oder, dass der Veranstaltungsraum von hinten bespielt werden soll, weil es immer problematisch sei, wenn das von der Seite erfolge. Als Booker musste er aber auch Lösungen finden für in der alten Halle geplante Veranstaltungen, für die es nun neue Lösungen brauchte. So sei es in dieser Zeit zum ersten Konzert in der Ringkirche gekommen, damals mit der Indierockband Kettcar. „Das kann man nicht mit jedem machen, denn es gibt dort keine Backstage und kein Catering“, verdeutlicht Dennis Peters.
Mit Booking-Agenturen, die gemeinsam mit dem Kulturzentrum groß geworden sind, veranstaltet man inzwischen auch Konzerte in Jahrhunderthalle oder Festhalle in Frankfurt. Eine absolute Besonderheit sei aber die Planung der Eröffnungswoche in der neuen Halle gewesen, in der im November 2012 neben der Wiesbadener Kult-Combo Frau Doktor auch Größen wie Calexico, Deichkind, Parkway Drive oder The Hives auftraten. „Das war das krasseste, was ich erlebt habe: Dass die Booker bei er Planung mit uns gegangen sind, in einer noch nicht existierenden Halle“, berichtet Dennis Peters. Im Fall von Calexico habe es noch nicht mal eine gemeinsame Vergangenheit gegeben, weil die amerikanische Indierockband in der alten Halle niemals aufgetreten wäre.
Als kurz vor der Halleneröffnung die Räucherkammer eine Zeitlang wegen fehlenden Brandschutzes geschlossen werden musste, sei man etwa in den Kulturpalast oder das Rüsselsheimer Rind ausgewichen. Während im Schlachthof-Wasserturm das Restaurant 60/40 und das Kesselhaus als neue kleine Location entstanden sind, ist die Räucherkammer weiter bespielt worden. Im Herbst 2015 begann mit dem Abriss der alten Halle dann das Ende einer bewegten Phase. „Das würde mich heute mehr mitnehmen als mit Anfang zwanzig“, verdeutlicht Dennis Peters lachend.
- Dekade: Johanna Silz
Inzwischen können die Gäste des Kulturzentrums jährlich gut 400 Veranstaltungen erleben. Das Team besteht aus 56 Kräften, die in Voll- oder Teilzeit beschäftigt sind. Seit zweieinhalb Jahren gehört Johanna Silz dazu. Doch bereits zu Beginn der dritten Dekade hat sie das soziokulturelle Zentrum erstmals kennengelernt.
„Als Jugendliche war es für mich zuerst eine reine Party-Location“, blickt die 26-jährige zurück, die ursprünglich aus Flörsheim stammt. Später sei sie dann zum ersten Mal zu einem Konzert in der Halle gewesen bei einem Auftritt der Indierock-Band Leoniden und habe auch die regelmäßige Poetry Slam-Veranstaltung Where the Wild Words Are besucht. „Ich kannte keinen so kreativ gestalteten Ort“, erinnert sich Johanna Silz.
Über Studium, Afrika und Mainz zum Schlachthof
Nach einem Semester Ethnologie-Studium und einem dreimonatigen Afrika-Aufenthalt hat sie sich dann für eine Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau bei der mainzplus Citymarketing GmbH entschieden, bei der sie etwa im Frankfurter Hof, im Kulturzentrum Mainz oder dem Festival Summer in the City Erfahrungen gesammelt hat.
Nach Abschluss ihrer Ausbildung habe sie dann etwas anderes kennenlernen wollen und sich im Schlachthof beworben, wo sie in der Vorproduktion des Kesselhauses arbeitet und für Ticketing sowie Veranstaltungsleitung zuständig ist. „Das ist hier viel kreativer und freier als in der Ausbildung. Ich war gewöhnt, dass es Anweisungen gibt und man um Erlaubnis fragt. Am Anfang habe ich mich deshalb sogar ein bisschen verloren gefühlt“, erläutert Johanna Silz. Inzwischen sei sie sehr angetan davon, dass sie im Schlachthof die Möglichkeit habe, mitzugestalten, ihre Meinung geschätzt werde und sie sich viel mehr kreativ ausleben könne. „Außerdem habe ich das Gefühl, dass Fehler kollektiv getragen werden“, betont Johanna Silz.
Arbeitsstelle und Lebensmittelpunkt
Innerhalb des Teams habe sie viele Freundschaften gefunden und das Kulturzentrum sei nicht nur Arbeitsstelle geworden, sondern Lebensmittelpunkt, weil sie auch ihre Freizeit gerne hier verbringe. Der Schlachthof sei für sie als Mitglied der jüngsten Generation ebenfalls bereits zu einer Herzenssache geworden. Natürlich gebe es mal unangenehme Gäste oder Awareness Fälle, bei denen es zu Grenzüberschreitungen gegenüber von Gästen komme. Ein anderes Mal sei eine Person aufgefallen, bei der das Gefühl aufgekommen war, dass sie zu viel konsumiert habe. In einem langen Gespräch habe sich dann jedoch herausgestellt, dass diese Person Suizid-Gedanken hatte, so dass ein Rettungswagen gerufen werden musste.
Seit anderthalb Jahren arbeite sie im Plenum mit, in dem auch heute noch die großen Themen wie Programm, Organisation, Werte, Haltung oder Kultur gemeinsam verhandelt werden. Außerdem hat sie sich inzwischen an der Gründung einer internen Arbeitsgemeinschaft Gleichstellung beteiligt, in der sich vorrangig weiblich gelesene Personen engagierten. Gemeinsam mit der Kreativfabrik gibt es eine Workshopreihe für den Flinta*-Personenkreis, also für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen.
Traum von mehr Open Airs
Gewünscht wäre, auch mal ein eintägiges Festival zu veranstalten. „Open Air-Veranstaltungen sind mir wichtig. Da treten wir im Moment leider ein bisschen kürzer“, erklärt Johanna Silz. In dieser Hinsicht würde sie in Zukunft auch gerne ganzheitlicher denken und öfter den Kulturpark sowie die Kreativfabrik mit einbinden. Ein solches Gesamtkonzept könne etwa abends einen queeren Rave und tagsüber eine Informationsveranstaltung beinhalten. „Ich fühle mich sehr wohl und kann mir vorstellen, das noch sehr lange zu machen“, betont Johanna Silz. Es ist zu hoffen, dass das möglich ist. Schließlich ist das Kulturzentrum Schlachthof aus Wiesbaden, zu dessen Geschichte am 13. Dezember auch ein 232-Seiten-Bildband im Mainzer Ventil Verlag erscheinen soll, kaum noch wegzudenken.
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Größtes Soziokulturelles Zentrum Hessens + Kapazitäten: Große Halle 2400 Gäste, Kesselhaus 450 Gäste + Proberäume für fast 50 Bands + Fünf Werkstätten/Ateliers + Gastronomie „60/40“ + jährlich ca. 450 Veranstaltungen / 300.000 Besucher:innen + Konzerte, Partys, Theater, Lesungen, politische Veranstaltungen, Flohmärkte, Festivals, Messen, Konferenzen u.v.m. + 30 Jahre Schlachthof-Party am 29.11 mit den besten Partyformaten aus 30 Jahren – 30 Jahre Donots Grand Birthday Slam mit 3 Konzerten am 6./7.12. + www.schlachthof-wiesbaden.de