Interview Dirk Fellinghauer. Fotos Thorsten Haun.
Die Helferinnen und Helfer kommen kaum nach mit dem Aufstellen immer weiterer Stuhlreihen, der Tattersall wird voller und voller, und am Ende lauschen wohl rund 300 Menschen aller Altersklassen hochkonzentriert dem, was der populäre Bundesvorsitzende der Grünen, Robert Habeck, ihnen zu sagen hat. Und er selbst, das ist eine Besonderheit dieses Abends, lauscht dem, was die Menschen, die den Saal füllen, ihm zu sagen haben. Der 49-Jährige absolvierte den Wahlkampftermin wenige Tage vor der hessischen Landtagswahl im „Townhall“-Format – und er gab sensor nach zwei intensiven Stunden in der „Arena“, denen sich der obligatorische kleine Selfie-, und Autogramme- und ein paar Worte-wechseln-Marathon mit seinen Anhängern anschloss, noch ein Interview.
„Puh, das war ein langer Tag“, sagt der Mann, der für einen neuen Politikstil steht, der „seine“ Parteimitglieder beseelt und Menschen weit über die eigene Partei hinaus beeindruckt, im Treppenhaus auf dem Weg zu einem ruhigen Eckchen oben auf der Tattersaal-Empore. Dort lässt er sich sichtlich müde auf dem Sofa nieder – und spricht dann doch hellwach mit sensor-Chefredakteur Dirk Fellinghauer über die Gefährdung und die Wiederbeatmung der Demokratie, über die Radikalität der Grünen, über den Unterschied zwischen dem Austausch über soziale Medien und der echten persönlichen Begegnung, über neue Verantwortungen seiner Partei und über den möglichen Sprachspagat des Vollblutpolitikers, der mal Schriftsteller war.
„Sie“ oder „du“?
Du!
Was nimmst du von diesem „Townhall“-Abend im Wiesbadener Tattersall mit?
Erst einmal nehme ich von diesen Townhalls insgesamt mit, dass das direkte Miteinander einen viel weiter bringt als die ganze Facebook- und Internetdebatte. Die hat zwar auch einen gewissen Reiz. Aber das, was Menschen verändert, was hängen bleibt, was die intensive Erfahrung auch für mich ist, das ist das direkte Gespräch.
So ganz direkt ist das Gespräch bei einer „Townhall“, auch wenn es als Dialogformat angelegt ist, aber ja auch nicht.
Klar ist bei rund 300 Leuten wie heute nicht ein 1:1-Gespräch möglich. Aber erstaunlicherweise entsteht da doch ein Gruppengefühl, eine gemeinschaftliche Diskussion. Das ist ganz ganz besonders, eine tolle Erfahrung, dass das so möglich ist. Was ich für den Raum Frankfurt, Wiesbaden, Darmstadt mitnehme ist der besondere Blick auf die Wohnungssituation. Das ist zwar schon lange in Regionen wie München ein Thema gewesen, aber hier erschien es mir bisher nicht so krass. Hier scheint es jetzt aber auch ein superdrängendes Problem zu sein. Und ich glaube, dass die politischen Maßnahmen hier noch überhaupt nicht ranreichen an das, was erforderlich ist.
Was ist erforderlich in Sachen Wohnen und Mieten?
Eine stärkere, wirksamere Mietpreisbremse. Ein stärkeres Einschreiten da, wo spekuliert wird, und zwar auch auf Bauland – ein Baugebot zu schaffen. Also dass man nicht einfach sagt, die Flächen gebe ich euch nicht, sondern es muss möglich sein, dass der Staat da einschreitet und zur Not die Flächen einfach erwirbt und dann selber baut oder die verpachtet an Genossenschaften oder was auch immer. Eine stärkere Reaktivierung des öffentlichen Wohnungsbaus ist notwendig, entweder über Genossenschaften mit einer starken Festbindung oder tatsächlich über die öffentliche Hand, die wieder baut. Die Privatisierungen der letzten fünfzehn Jahre waren falsch und rächen sich jetzt bitterlich. Das wären schon mal ein paar Maßnahmen, die greifen würden.
Dynamik der Demokratie wertvoller als Prozente
Die letzten Monate dachte man, die Demokratie ist in Gefahr, die letzten Tage ist hier im Endspurt des hessischen Wahlkampfs auf einmal fast ein neues Fieber zu spüren, die Menschen interessieren sich plötzlich für die Wahl, die Veranstaltungen sind voll. Spürst du dieses neu erwachte Interesse an der Politik auch?
Ich spüre das auch. Und dass meine Partei da eine Rolle hat, ist ganz großartig. Ich freue mich natürlich auch über gute Umfrageergebnisse. Aber im Zweifelsfall wäre ich auch bereit, auf zwei oder drei Prozente zu verzichten, wenn diese Dynamik der Demokratie weitergeht. Dass nun ausgerechnet die Grünen, als Protestpartei gegründet, diese Leidenschaft für Zivilcourage mit befeuern, ist die stärkste Bestätigung, die ich mir vorstellen kann. Das ist wirklich ganz ganz ganz großartig.
Für wie gefährdet hältst du nichtsdestotrotz die Demokratie?
Man muss sich gleichwohl Sorgen machen und kann sich nicht auf diesem Zuspruch oder dieser Leidenschaft, die jetzt auch neu erweckt wird, ausruhen. In der Tat formiert sich die deutsche Parteiendemokratie gerade um. Wir haben das tatsächlich noch nicht geübt miteinander, was das bedeutet, keine starken Volksparteien mehr zu haben. Das heißt auch für meine Partei natürlich, nochmal stärker in der Verantwortung zu sein, sich also nicht zu verstecken hinter unangenehmen Entscheidungen, die dann möglicherweise lieber bei anderen abgewälzt wurden. Das ist auch für uns eine neue Herausforderung. Aber eine, die wir annehmen wollen.
Welche Herausforderungen siehst du?
Insgesamt haben wir die Chance, mit einer Neubeatmung der demokratischen Prozesse diese liberale rechtsstaatliche Demokratie zu stabilisieren. Aber es ist eben eine neue Zeit, und wahrscheinlich ist die Zeit, wo eine Partei bei 40 Prozent lag und sich eben einen Partner gesucht hat, einfach die nächsten Jahre vorbei. Wir werden drei oder vier mittelgroße Parteien haben, die dann je nach Tagesform und je nach politischer Agenda zwischen 15 und vielleicht 25 Prozent schwanken. Das heißt nicht, dass nicht auch mal eine Partei 30 machen kann oder eine nur 10, aber so wird die neue Republik aussehen. Und das heißt, dass alle Parteien sich darauf einstellen müssen, jeweils wechselseitig miteinander bündnisfähig zu sein.
Es wird aber eine Parteienrepublik bleiben, oder könnten in Deutschland auch Bewegungen wie in manchen Nachbarländern eine Chance haben?
Ich hoffe, es bleibt eine Parteiendemokratie. Immer, wenn wir jetzt mit Blick auf den Zuspruch mit Bewegungen verglichen werden, werde ich immer ganz nervös und widerspreche auch. Wir wollen das gar nicht sein – weil Bewegungen quasi gegen die Institutionen der Republik gerichtet sind und immer so eine Art Ermächtigung gegen „die da oben“ bedeuten. Das halte ich für falsch. Wir brauchen zwar ein neues Denken des politischen Raum, eine neue Leidenschaft für Politik, auch eine neue Radikalität in den Antworten. Aber all das eigentlich aus den Institutionen heraus. Und Parteien sind eine Institution, und die politische Sprache selbst ist eine Institution, und wir müssen die nicht aufgeben oder übersteigern in immer radikaleren Populismen. Wir können sie auch reformieren und auf das Beste der Institutionen besinnen. Deshalb möchte ich gerne die Parteiendemokratie, die wir haben, erneuern, aber nicht abschaffen.
Das ist dann für dich auch kein Platz für eine linke Sammlungsbewegung, das hast du ziemlich deutlich gesagt – oder sogar fast schon etwas arrogant, scheinbar ohne die Bereitschaft zu verstehen, dass es auch Menschen in der Bevölkerung gibt, die sich eben genau mit einer solchen Idee anfreunden würden oder gar eine Sehnsucht danach verspüren und artikulieren.
Wir haben eine Sammlungsbewegung gesehen, und zwar in Berlin, mit 250.000 Menschen auf der Straße. Wer nicht dabei war, war „Aufstehen“. Ich glaube, dass Bewegungen nicht verordnet werden und nicht an der Küche im Saarland geplant werden, sondern die entstehen durch die Leidenschaft der Menschen. Und wenn diese Menschen sich auf die Straße begeben, und man ist nicht dabei, ist man eben nicht Teil der Bewegung. Also ohne Frau Wagenknecht zu nahe zu treten, aber die Dynamik ist gerade woanders.
Die grüne Programmatik ist schärfer geworden, schon sehr kapitalismuskritisch …
Du hast das Wort „Radikalität“ genannt. Aber ein bisschen erkaufen sich die Grünen ihre Wählbarkeit ja gerade auch mit einer Abkehr von einer Radikalität, die mal ein Markenkern der Partei war.
Das sehe ich nicht so. Ich glaube eher, dass wir in der Programmatik sogar schärfer geworden sind, zumal unter dem Vorsitz von Annalena Baerbock und mir – Überwindung von Hartz IV, die Besteuerung der Digitalkonzerne, neues Kartellrecht – das ist schon alles sehr kapitalismuskritisch, und auch in einer ausgesprochenen Form, die wir so lange nicht gepflegt haben. Nur bemühen wir uns dabei um eine Sprache und Begründung, die nicht eine Gesellschaft spaltet und auseinander treibt, sondern das, was wir an radikalen Vorstellungen haben, breit gesellschaftlich zustimmungsfähig macht. Das ist vielleicht der Unterschied. Aber in den Inhalten sind wir eher schärfer geworden.
Heute Abend bei der Veranstaltung hast du auch ein paar Mal das Wort „Verbote“ in den Mund genommen. Ist es nicht gefährlich, auf dem Höhenflug das andere Image der Grünen, die Verbotspartei zu sein, weiter zu bedienen? Wäre es nicht jetzt eine gute Chance zu sagen, wir versuchen mal die Verbotsforderungen etwas im Hintergrund zu halten?
Ich habe das Wort im Zusammenhang mit Wegwerfplastik gesagt oder die Untersagung von Binnenflügen, beispielsweise von Frankfurt nach Stuttgart oder München nach Nürnberg, was ja offensichtlicher Quatsch ist. Nee, da habe ich eigentlich keine Lust drauf einzugehen. Ich glaube, das Geheimnis des Erfolges ist jetzt tatsächlich, keine Angst zu haben – die Dinge, die offensichtlich sind, auch auszusprechen und anzusprechen, das allerdings nicht mit einem Gestus „Wir wollen die Republik umstürzen“, sondern mit einem Gestus „Wir wollen die Republik stabilisieren“. Wenn man sich fragt, warum Mikroplastik in Zahnpasta ist, dann muss man die Antwort auch sagen: Das weiß eigentlich kein Mensch, die sollen Volumen schaffen, darauf hat die Menschheit nicht gewartet. Wenn wir das nicht rausfiltern können, dann sollten wir das schnell verbieten. Wenn sich Politik das nicht zutraut, auch in dem Sinne, mal durchzugreifen, dann sollten wir lieber ganz bescheiden die Klappe halten und sagen: Uns braucht ihr nicht wählen, wir werden die Probleme auch nicht lösen. Das will ich aber nicht. Ich will die Probleme angehen, und hin unter wieder muss man die ganz unsinnigen Dinge eben auch mal untersagen.
„Aussöhnend zu sprechen, das ist Arbeit“
Kommen wir zum Thema Sprache: Du bist ursprünglich Schriftsteller, sprichst auch sehr „schön“, da hört man in einem Rahmen wie heute auch gerne zu. Aber wie schwer oder herausfordernd ist es für dich, auch die Politiksprache oder die Politikersprache zu sprechen?
Ich kann das gar nicht so unterscheiden. Ich rede so, wie ich rede. Ich weiß, dass ich verführbar bin, auch mal zuzulangen. Ich bin ein ziemlich leidenschaftlicher Mensch und bin auch leicht reizbar. Für mich ist es echte Arbeit, immer wieder den Weg der Vernunft und des Zuhörens und des Interessensausgleichs zu gehen, von dem ich weiß, dass er der richtige ist. Aber ich bin ganz bestimmt kein Engel und bin auch überhaupt nicht dagegen gefeit, auch mal zurückzupoltern. Das passiert mir hin und wieder, meistens bin ich dann schlechter, oder es ist falsch. Lange Rede, kurzer Sinn: Aussöhnend zu sprechen, ist Arbeit.
Würdest du dir mehr Quereinsteiger in der Politik wünschen als Counterparts oder Mitstreiter?
Was heißt Quereinsteiger? Ich war sechs Jahre lang Minister, ich bin seit 2005 oder 2004, also seit bald 15 Jahren, in Spitzenpositionen. Ich habe halt nur nicht den Weg durchlaufen, seit 16 bei der Grünen Jugend oder so, sondern bin mit Anfang 30 in die Politik gegangen und hatte ein Leben davor und habe keine Angst vor dem Leben danach.
Also eher Späteinsteiger.
Ja, Späteinsteiger ist vielleicht das richtige Wort. Ich fände es insgesamt gut, wenn die Durchlässigkeit zwischen anderen Berufsbildern und Politik größer werden würde. Wenn man also nicht dieses „Ich bin gelernter Politiker – Kreißsaal, _Hörsaal, Plenarsaal“ als einzige Vita hat, sondern wenn man halt rausgeht und macht das zehn Jahre, und dann geht man wieder in einen anderen Beruf, das fände ich schon attraktiv.
Stimmen zu gewinnen ist das eine. Ein anderes Riesenproblem aller Parteien ist es, Leute zu gewinnen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen als Mandatsträger – hast du da Ideen, wie man das ändern könnte?
Das ist nicht unser Problem im Moment. Wir haben so viele Neueintritte, und die Leute sind heiß drauf, sich politisch zu engagieren. Ich glaube, dieses Problem löst sich nicht abstrakt, indem man Menschen an die Hand nimmt und sagt, mach´ doch mal Folgendes, sondern über Inhalte – wenn Menschen für eine Idee brennen, wenn sie sich wertgeschätzt fühlen, wenn sie eine Sinnhaftigkeit in ihrem Tun erkennen, dann sind sie auch bereit, kommunale oder landespolitische Mandate zu übernehmen. Wenn das aber nur so Parteileichentum ist, damit man noch ´n Job mehr bekommt, darauf hat keiner Bock. Alles hängt von der politischen Idee ab und von der Gruppe von Menschen, die eine Leidenschaft hat, sie auch umzusetzen.
Du hast nun gerade deinen, sicher auch sehr anstrengenden Job, als Minister im eher gemütlichen Schleswig-Holstein aufgegeben und bist jetzt ganz frisch im vielleicht etwas härteren Berlin. Wie sind deine Erfahrungen der ersten Wochen dort?
Dass es so viel härter nun auch nicht ist als in Schleswig-Holstein. Nur anders.
Nämlich?
Schnelllebiger. Nervöser. Hektischer. Aber letztlich kochen die Leute in Berlin auch nur alle mit Wasser und kennen das alles mit der Tag hat 24 Stunden und müde sein und Kinder sehen wollen. Umgekehrt war Schleswig-Holstein mit den Kollegen, die ich da hatte, Kubicki, Stegner, um mal zwei zu nennen, auch nicht nur „alle Tiere lieben sich“-mäßig. Da hat sich eigentlich nicht so viel geändert. Das Umfeld und die Aufgabe ist eine andere, aber vom Denken von Politik hat sich eigentlich nichts geändert.
Letzte Frage: Sehen wir dich am Sonntag in Wiesbaden wieder, dann im Hessischen Landtag?
Nee, da seht ihr Annalena. Wir tauschen – ich war ja in Bayern am Abend der Landtagswahl und sie in Berlin. Und an diesem Sonntag bin ich in Berlin, und dann später bei „Anne Will“.