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Das große 2×5-Interview: Marc Dieroff, Leiter Impfzentrum Wiesbaden, 49 Jahre, 3 Töchter

Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.

BERUF

Sind Sie der größte Lebensretter Wiesbadens?

Nein, das würde ich nicht sagen. Es ist aber schon eine gewisse Art von Befriedigung, wenn man 150000 Impfungen durchführen und einen Immunisierungsprozess begleiten und gestalten kann – also zu organisieren, dass Menschen nicht schwer krank werden, nicht ins Krankenhaus müssen, nicht auf einer Intensivstation landen.

Wie kamen Sie zu diesem buchstäblich einmaligen Job?

Durch meine geteilte übliche Arbeitswelt – je hälftig leitender Oberarzt der Notfallmedizin in der HSK sowie ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Wiesbaden – bringe ich Erfahrung sowohl im medizinischen Bereich als auch in der Verwaltung mit. Als die Wahl auf mich fiel, gab es nicht den Spielraum, zu sagen, ich überlege mal ein paar Monate, ob ich das mache. Das ist auch mein Anspruch, vielleicht auch ein bisschen ein Helfersyndrom. Wenn man da selbst gestalten kann, auch in der Führung eines Teams mit etwa 260 Köpfen und einem so großen wie vielschichtigen Aufgaben- und Verantwortungsspektrum, ist das etwas Positives.

Der Großteil der Bevölkerung wünscht sich die Impfung. Es gibt aber auch jene, die ängstlich und skeptisch sind. Für welche Vorbehalte haben Sie Verständnis?

Wir sind in einer völligen Freiwilligkeit. Natürlich ist es eine Grundrechtsentscheidung, was mit einem passiert. Jedem steht frei zu sagen, das möchte ich nicht. Die Bundesrepublik Deutschland stellt ihren Bürgern umsonst einen teuren Impfstoff zur Verfügung, stellt Personal, Material und alles, was dazugehört. Das ist schon auch eine Riesenleistung. Wer es nicht will, wird nicht gezwungen und auch nicht überredet. Von unserer Seite erfolgt eine sachliche, fachlich klare Darstellung anhand bisheriger wissenschaftlicher Daten. Natürlich hat man noch keine Studien über den Langzeitverlauf oder darüber, wie lange die Qualität einzelner Impfstoffe bestehen bleibt. Da wird es sicher noch mannigfaltige Situationen geben, die wir neu bewerten müssen. Verständnis habe ich, wenn man tatsächlich schon schwere allergische Reaktionen hatte auf einen Impfprozess. Aber auch da kann man mittlerweile gut abwägen und vorbeugende Maßnahmen treffen.

Es gibt auch „allergische Reaktionen“ anderer Art – jene der „Querdenker“ und Verschwörungstheoretiker. Wie erleben Sie diese rund um das Impfzentrum?

Wir haben, bis heute immer mal wieder, Sachbeschädigungen – Schmierereien, Plakate, Graffiti mit Parolen, kleinere Demonstrationen. Wir erleben Sachbeschädigungen gegen Fahrzeuge, aufgestochene Reifen bei Mitarbeitern. Es gibt verbale Drohungen gegenüber dem Personal, auch zum Thema der Wahl des Impfstoffes, bis hin zu eindeutigen Gestikulationen. Es gab aber noch keine körperliche Gewalt. Und es gab, was anfangs sogar eher befürchtet wurde, keine kritischen Situationen bei Impfstoffanlieferungen. Wir haben allerdings auch hohe Sicherheitsstandards in Zusammenarbeit mit der Polizei.

Gesundheitsminister Spahn hat gesagt „Wir werden einander viel verzeihen müssen“. Gibt es etwas, was die Wiesbadener:innen Ihnen als Impfzentrums-Leiter verzeihen müssen?

Man muss vielleicht mal umschalten vom Gedanken einer individualmedizinischen Versorgung, die wir alle in der Regel durch Hausarzt, Fachärzte und Kliniken erfahren. Da haben Sie immer eine 1:1-Situation. Das gibt es in einer Pandemie, wo man eine Massenimpfung durchführen muss, nicht. Von dem Anspruch, dass alles auf einen individuell zugeschnitten ist, muss man Abstriche machen im Sinne des Allgemeinwohls. Da muss der Einzelne hintanstehen, um den Prozess gemeinsam zu bewältigen.

MENSCH

Nobody is perfect – wo fällt es Ihnen im privaten Alltag schwer, sich an die Corona-Regeln zu halten?

Ich habe mich selbst auch schon mal erwischt, dass ich – nach einem Tag, an dem ich nur mit dem Thema Pandemie zu tun hatte – in einen Supermarkt gegangen bin und die Maske nicht auf der Nase hatte. Natürlich fehlen mir die sozialen Kontakte genauso wie den Kindern und Jugendlichen, die am meisten unter der Pandemie leiden. Als sozialer Mensch fühlt man sich in der Gruppe am wohlsten, wenn man zusammen Sport treibt, Geburtstage feiert oder nur mit den Nachbarn grillt. Kleine Auszeiten, auch zur Erholung vom belastenden Arbeitsalltag. Was natürlich Jammern auf hohem Niveau ist. Ich habe immer gesagt, dass ich lieber arbeiten gehe als in die Kurzarbeit oder um meine Existenz bangen muss, wie es ja in vielen Branchen der Fall ist. Abschalten gelingt mir durch die Familie – wenn man trotz allem noch ein Lächeln in die Kindergesichter zaubern kann.

Sie haben Ihr Studium der Humanmedizin an der jetzt nochmal besonders berühmt gewordenen Charité absolviert. Wie haben Sie die Zeit in Berlin erlebt?

Das war kurz nach dem Mauerfall, in der Umbruchphase des gelebten, wiedervereinigten Deutschlands. Das war extrem spannend. Wenn Sie den Mauerstreifen haben fallen sehen und dann die Stadt zusammenwächst, und Sie die Großereignisse der Zeit – ob Love Parade, verpackter Reichstag oder politische Entwicklungen – alltäglich hautnah miterleben können, dann ist das eine Lebenserfahrung, die nimmt Ihnen niemand. Es waren super prägende sechs Jahre – den Ost-West-Konflikt nicht nur in der Zeitung zu lesen, sondern unter Studierenden, Lehrenden, aber auch in Freizeit und Alltag zu erleben. Ich bin in Baden-Württemberg groß geworden, also aus einem fortschrittlichen hochtechnisierten Bundesland nach Ost-Berlin gezogen, wo sie noch mit Kohle geheizt haben und keine Telefonleitungen in der Straße lagen. Das hatte schon einen anderen Charakter als das vorherige behütete Leben.

Ein Klassiker für junge Leute ist es, nach dem Studium in Wiesbaden zum Beispiel nach Berlin zu gehen. Sie haben es umgekehrt gemacht. Wie konnte das passieren?

Da hat das Weib gelockt. Bis dahin hatte ich keine Beziehung zu Wiesbaden. Meine damalige Freundin hat hier gewohnt und gearbeitet. So kam ich von Zürich, wo ich das letzte Praktische Jahr gemacht hatte, nach Wiesbaden – und bin bis heute hier hängen geblieben.

Im Oktober werden Sie 50 – ein besonderes Datum für Sie?

Man denkt schon dran. Aber das Arbeiten und die Kinder halten einen jung. Würde das Knie nicht ab und zu schmerzen, würde ich mich auch nicht fühlen wie 50. Feiern gehört natürlich auch zum Leben. Angedacht ist bisher nichts, der Pandemie geschuldet. Aber eine schöne Geburtstagsfeier ohne Hygienekonzept und ohne Genehmigung durch das Gesundheitsamt wäre natürlich mal wieder was Schönes.

Haben Sie einen Lieblings-Virologen?

(lacht) Von Herrn Drosten, seinem Auftreten und seinen wissenschaftlichen Grundlagen, kann man schon sagen, dass ich diesem Menschen vertraue, auch in seinem menschlichen Wirken in der Pandemie. Er ist sicherlich der Virologe, der ganz viele Fähigkeiten in seiner Person vereint, um Menschen die Angst zu nehmen und transparent zu kommunizieren, um in einer solchen Pandemie auch Vertrauen aufzubauen. Ich habe öfters in seinen Podcast reingehört, er macht ja auch wöchentliche Fortbildungen, wo wir uns als öffentlicher Gesundheitsdienst dazuschalten. Das macht er echt klasse.

Hinter den Kulissen : Making of-Impressionen

Pressekonferenz

Donnerstag, 15. Juli, 11 Uhr, www.facebook.com/stadt.wiesbaden:

Im Rahmen einer virtuellen Pressekonferenz werden Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende sowie Bürgermeister und Gesundheitsdezernent Dr. Oliver Franz zur aktuellen Situation rund um die Corona-Impfungen Stellung nehmen.

Weitere Gesprächspartner sind:

  • Marc Dieroff, Leiter des Wiesbadener Impfzentrums
  • Prof Dr. Ralf Kiesslich, Ärztlicher Direktor der HSK
  • Christian Sommerbrodt, Bezirksvorsitzender des Hausärzteverbandes Hessen

Die Pressekonferenz wird auf dem städtischen Facebook-Kanal www.facebook.com/stadt.wiesbaden gestreamt und ist für alle Interessierten zugänglich. Journalistinnen und Journalisten können im Chat Fragen stellen.

Sonder-Impfaktion

Das Impfzentrum Wiesbaden bietet von Donnerstag, 15. Juli, bis einschließlich Samstag, 17. Juli, jeweils von 9 bis 18 Uhr Menschen, die älter als 18 Jahre sind, eine Sonderimpfung mit einem Kontingent von insgesamt 900 Impfdosen Johnson und Johnson der Firma Janssen an. Pro Tag können maximal 300 Bürgerinnen und Bürger geimpft werden. Voranmeldungen sind nicht möglich. „Ich appelliere an alle, dieses Impfangebot wahrzunehmen. Wir versprechen uns von der Aktion, möglichst viele Menschen von den Wartelisten zu bekommen“, so Marc Dieroff. Der Impfstoff des US-Konzerns Johnson & Johnson ist ein so genannter Vektor-Impfstoff und muss nur einmal gespritzt werden. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Es wird gebeten, einen Aufklärungs- und Einwilligungsbogen mitzubringen, der auf der RKI-Seite abrufbar ist, ebenso den Personalausweis sowie das Krankenkassen-Kärtchen.

Neuer „Impftermin innerhalb von 4 Tagen“-Service

Damit verfügbarer Impfstoff rasch zum Einsatz gebracht werden kann, haben Impfberechtigte ab sofort die Möglichkeit, über das offizielle Terminportal des Landes Hessen (www.impfterminservice.hessen.de) einen Impftermin für die Erstimpfung innerhalb von maximal vier Tagen zu buchen.