Von Sebastian Wenzel. Fotos Arne Landwehr.
Matthias Hill lebt noch immer. Das ist nicht selbstverständlich und wird für ihn langsam zum Problem. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Der 51-jährige liebt das Leben. Trotz seiner unheilbaren Krankheit.
Matthias tanzt mit dem Leben durch Raum und Zeit, wirbelt es durch die Luft und fängt es immer wieder auf. Doch der Wiesbadener muss aufpassen, denn manchmal wird das Leben plötzlich so schwer, dass es ihn mit seinem Gewicht fast erschlägt. Ach was: auf den Boden drückt und zerquetscht. So wie vor 22 Jahren, mitten im August. Hill hatte Schmerzen. Er ging ins Krankenhaus. Die Ärzte untersuchten seinen Körper und machten nebenbei einen Aids-Test, ohne ihn zu fragen. Genauso beiläufig teilten sie ihm das Ergebnis mit: positiv. Später, in einem weiteren Nebensatz, verrieten sie ihm seine statistische Lebenserwartung: drei Jahre. Hill war damals 28. Er erzählte seinen Freunden und Arbeitskollegen von der Diagnose, natürlich auch seinem Partner. Die beiden Männer verhüteten immer mit Kondomen. Außerhalb der Beziehung war Hill nicht so konsequent. Wahrscheinlich schlüpften die HI-Viren in New York in seine Blutbahn. Mit seinem Partner blieb Hill noch 13 Jahre zusammen. Dann trennten sie sich. Nicht wegen der Krankheit, sondern wegen anderer Dinge. Der Abschied war unschön. So wie das eben ist, wenn der Zauber zwischen zwei Menschen verfliegt.
Aids. Das klang früher nach Verfall und Tod. Inzwischen hat das Wort scheinbar seinen Schrecken verloren. Doch Aids ist immer noch eine unheilbare Krankheit, das Endstadium einer HIV-Infektion. Ohne Medikamente attackieren HI-Viren das Abwehrsystem. Irgendwann ist der Körper so geschwächt, dass er aufgibt. Eine einfache Infektion bedeutet dann das Ende. Dazu muss es nicht kommen. Tabletten und Pillen helfen dem Abwehrsystem im Kampf gegen die Krankheit. In Deutschland leben, lieben und lachen laut Angaben der Aids-Hilfe etwa 78.000 Menschen mit HIV. Einer von ihnen ist Hill.
Jeden Morgen und jeden Abend eine Handvoll Medikamente
Er schluckt jeden Morgen und jeden Abend eine Handvoll Medikamente. Sie geben ihm Kraft, Hoffnung und Verdauungsprobleme. Die Nebenwirkungen nerven. Vor einem Jahr hatte Hill genug. Er wollte frei sein und tanzte bewusst aus der Reihe. Er setzte die Medikamente ab. Eigenmächtig. Keine Tabletten, keine Nebenwirkungen. Eine gefährliche Entscheidung. Ohne die Tabletten attackierten die HI-Viren das Immunsystem. Inzwischen schluckt Hill die Medikamente wieder. Keine Tabletten, keine Zukunft. Und die will Hill unbedingt erleben, obwohl er Angst davor hat. Nicht vor dem Tod. Der ist für ihn seit 22 Jahren ein ständiger Begleiter. Aber vor dem Alter und der drohenden Armut. Um seine Altersvorsorge hat sich der Antiquariats-Buchhändler nie gekümmert. Warum auch? Die Ärzte hatten ihr Todesurteil schließlich schon gesprochen. Aber Hill lebt noch immer. Inzwischen gehen auch die Ärzte davon aus, dass er das Rentenalter erlebt. Trotz Aids, trotz seiner anderen Krankheiten.
Gerade als Hill das Leben mal wieder in die Höhe geworfen hatte und auf dem Parkett eine Pirouette drehte, spürte er plötzlich wieder die Schwere. In seinem Körper wütete auf einmal nicht nur das HI-Virus, sondern auch Krebs. Eine Chemotherapie half. Dann kamen Hepatitis C und die Spritzen dagegen. Hill verlor zwanzig Kilo. Seine Muskeln verschwanden, seine Beine schmerzten, doch Hill besiegte die Krankheit. Er redet offen über diese Zeit, auch über seine damaligen Depressionen.
Nie vor anderen versteckt
Es macht ihm nichts aus, dass Menschen in der Umgebung seine Geschichten hören. Er spricht übers Rumvögeln, Aids und Hepatitis C wie andere über das perfekte Fünf-Minuten-Ei zum Frühstück. Hill hat sich nie versteckt. Er spricht frei über seinen Drehungen, Schritte und Ausrutscher auf der Tanzfläche, die mal so traurig sind wie ein Tango, mal so langsam wie ein Walzer und mal so flott wie eine Polka.
So wie im Sommer 2012. Damals rannte Hill 42,195 Kilometer durch Berlin. Nach knapp über vier Stunden hatte er das Ziel erreicht. Marathon geschafft. Hill hatte sich selbst bewiesen, wozu sein Körper noch immer fähig ist. Auch in Wiesbaden läuft er regelmäßig, vorbei an Wiesen und Bäumen, vom Westend Richtung Fasanerie. Inzwischen geht das wieder. Zwischendurch hatte Hill Probleme mit dem Knie. Doch die haben ihn nur kurz gestört. Er ist einfach weitergelaufen, hat das Leben aufgefangen und erneut durch die Luft gewirbelt.
Der Welt-Aids-Tag findet am 1. Dezember unter dem Motto „HIV positiv & Mitten im Leben“ statt. Die Wiesbadener Aids-Hilfe ist am 2.12. von 10 bis 18 Uhr mit einem Infostand auf dem Mauritiusplatz vertreten und organisiert am Samstag, 7.12., die Ballnacht im Kurhaus ab 19.30 Uhr. Wir verlosen 3×2 Freikarten: losi@sensor-wiesbaden.de
Matthias Hill engagiert sich auch in der Initiative „Sportler gegen Stigma“ : www.sportler-gegen-stigma.de