Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.
Fünf Tage, hundert Menschen, eine zentrale Frage: „Wie stellen wir uns die Gesellschaft von morgen vor“? Beim ersten Utopival wurde in 25 Workshops neues Handeln erprobt und diskutiert. sensor hat bei drei Ansätzen die Ohren gespitzt – und sie mit dem Status quo in unserer Stadt abgeglichen.
Noch bevor das erste Utopival beginnt, steht bereits fest, wo es im kommenden Jahr stattfinden wird. So schnell hat sich die Begeisterung über das Konzept verbreitet. Fünf Tage lang geldfrei leben, vegan speisen und möglichst wenig Energie verbrauchen. Unter diesem Ansatz hat in Wiesbaden das erste Utopival stattgefunden. Auch beim Wiesbadener Stadtjugendring war man gleich überzeugt und hat daher für die Premiere eine Woche lang den Jugendnaturzeltplatz auf dem Freudenberg kostenfrei zur Verfügung gestellt. „Ganz ohne Geld ist das in einem kapitalistischen System nicht möglich. Aber alle Referenten, selbst wenn sie sonst für ihre Workshops viel Geld bekommen, schenken uns auch die Anreise“, freut sich Tobi aus dem fünfköpfigen Team der Utopival-Initiatoren. Das verwendete Feuerholz stammt von einer Baustelle, auf der es entsorgt worden wäre. Ein Gleichgesinnter hat die Website gespendet, andere Sponsoren haben Zelte oder Nahrung zur Verfügung gestellt. „Es ist unglaublich, was wir in bester Bioqualität geschenkt bekommen haben“, fügt er hinzu. Manches davon ist aus Müllcontainern gerettet, so dass die Wiesbadenerin Talley Hoban daraus jeden Mittag „restlos glückliche Suppe“ kocht. Vegan natürlich. „Wir wollen zeigen, dass wir in Kooperation statt in Konkurrenz zueinander leben können. Geld trennt die Menschen. Wenn alle in bedingungsloser Solidarität leben, können wir viel erreichen“, ist der Co-Organisator überzeugt. Deshalb benötigt während des Festivals keiner der hundert aus ganz Deutschland angereisten Teilnehmer Geld. Stattdessen sind alle eingeladen, ihre Tatkraft und Inspiration einzubringen. Aus der Idee soll noch viel entstehen: Weitere Tage der Utopie, wie zum Abschluss des Utopivals am Wiesbadener Hautbahnhof und das Netzwerk Living Utopia. Um die Idee bereits weiter zu tragen, bevor im kommenden Jahr auf dem Findhof im Bergischen Land das zweite Utopival startet.
Wirtschaft: Ohne Gewinn kalkulieren vs. …
Gelebte Utopie: Aus Sicht der Lehrbücher ist es unmöglich, was Uwe Lübbermann mit Premium Cola praktiziert. Das hat er schon oft gehört. Dennoch gedeiht das Unternehmen seit zwölf Jahren. Seit knapp vier Jahren kann der Gründer davon leben. „Ich glaube nicht, dass Unternehmen Gewinne machen müssen“, macht der „zentrale Moderator“ des Unternehmens deutlich. Seine Funktionsbezeichnung verweist darauf, dass Entscheidungen über die Herstellung des Produkts im Konsens getroffen werden. Vom Abfüller der Cola über den Produzenten der Kronkorken bis zum Spediteur sind alle beteiligt. Einmal getroffene Absprachen gelten nur so lange, wie alle damit zufrieden sind. Uwe selbst erhält pro verkaufter Flasche zur Zeit drei Cent. Eine Kalkulation, die auf einen Stundenlohn von 15 Euro ausgelegt ist. Dieser soll bei wachsendem Umsatz gleich bleiben. Steigt der Absatz, sinkt der Preis pro Flasche für die Abnehmer. „Ich will beweisen, dass Wirtschaft auch anders geht“, erläutert der Hamburger seine Motivation. Außer einem Cent pro Flasche für Rücklagen, stehen bei Premium allen Einnahmen auch Kosten gegenüber. Für Werbung wird mit Ausnahme der Website kein Geld ausgegeben und die Aufnahme von Krediten wird vermieden. Ungewöhnlich auch der Anti-Mengen-Rabatt. Kleine Abnehmer werden auf diese Weise unterstützt, damit das Unternehmen nicht von wenigen Großkunden abhängig ist.
… Wachstum als Basis der Gesellschaft
Status Quo: „Unsere ganze Gesellschaftsordnung beruht auf Wachstum. Ohne Wachstum brechen unser Gesellschaftsmodell und die soziale Marktwirtschaft zusammen“, erklärt Gordon Bonnet von der Industrie- und Handelskammer Wiesbaden. Darauf beruhe sowohl das Rentensystem als auch das Steuersystem. Steuereinnahmen ermöglichen es einer Stadt, kulturelle Veranstaltungen auszurichten, die sich nicht selbst tragen. Investitionen wie in den Neubau der Rhein-Main-Hallen seien notwendig, um als Messe-Standort attraktiv zu bleiben. Wachstum entstehe jedoch auf Kosten anderer. Durch den Neubau werde es nicht insgesamt mehr Veranstaltungen geben. Was nach Wiesbaden komme, finde an anderer Stelle nicht statt, räumt er ein. Die vergleichsweise gute wirtschaftliche Situation der Landeshauptstadt sieht er in der Branchenvielfalt begründet, die von Versicherungen über die Kreativwirtschaft bis zur Industrie reicht. „Im Industriepark ist noch Platz. Beim Handel muss man schon abwägen: Einfach auf der grünen Wiese bauen kann nicht die Lösung sein“, findet der Leiter der Unternehmenskommunikation der IHK. Für Wiesbaden wünscht er sich daher vor allem qualitatives und nur in Maßen quantitatives Wachstum. „Wer gar kein Wachstum möchte, der muss zu Verzicht bereit sein“, betont er.
Ernährung; Gemeinschaftlich Neuland erschließen vs. …
Gelebte Utopie: „Wenn man Ressourcen schonen möchte, dann muss man die Nahrungsmittel re-lokalisieren“, ist Maximilian Fitzner überzeugt. Deshalb engagiert er sich beim Verein Essbare Stadt in Kassel. In den vergangenen fünf Jahren ist es diesem bereits gelungen, drei Gemeinschaftsgärten zu schaffen. Zum Teil mit finanzieller Unterstützung von Stiftungen. Zwei der Gärten sind auf Grünflächen entstanden, der Forstfeld-Garten auf einer ehemaligen Baubrache in einem Stadtteil mit einem relativ hohen Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund. „Gerade türkischstämmige Migranten haben das Angebot gut angenommen“, berichtet der Politikstudent. Positiver Nebeneffekt sei die Gemeinschaft, die unter den Gärtnern entstanden ist. Aber die Vereinsmitglieder hätten auch fest gestellt, dass ein solches Projekt Betreuung benötigt. Etwa, um sicher zu stellen, dass tatsächlich kein Kunstdünger verwendet wird. Auch benötige man bei Baumpflanzungen in den ersten drei Jahren Menschen, die sich um die Bewässerung kümmern. Anfangs habe man zum Teil Guerilla-Gardening betrieben. Man habe jedoch schnell fest gestellt, dass Mühe und Zeit besser investiert sind, wenn man sich mit den Behörden abspricht. Idealerweise nutze man Flächen, auf denen man nicht in Konkurrenz zu anderen Nutzern tritt. „Es geht darum, Neuland zu schaffen“, verdeutlicht der 25-jährige.
… amtlich abstimmte Blühaspekte
Status Quo: Über die Bepflanzung der Grünflächen in Wiesbaden wird von Fall zu Fall entschieden, erläutert der zuständige Abteilungsleiter im Grünflächenamt, Thomas Bäder. Der Denkmalschutz könne da genauso eine Rolle spielen wie die Nährstoffversorgung. Nicht zwingend handele es sich um einheimische Pflanzen, aber oft. Blühpflanzen seien immer dabei, farblich aufeinander abgestimmt und mit durchgehenden Blühaspekten von April bis Oktober. Erste Erfahrungen mit einem Gemeinschaftsgarten habe man bei einer Zwischennutzung in Bahnhofsnähe gesammelt. Wo jetzt die Kita Geschwister-Stock-Platz entsteht, sind eine Saison lang acht Beete bewirtschaftet worden. „Viele Nutzer waren mit Begeisterung dabei, aber die Fläche ist zu stark frequentiert. Manchen ist es egal, dass da ein Beet ist“, schildert er die gesammelten Erfahrungen. Im Rahmen des Projekts „Soziale Stadt“ sollen in Zukunft im Schelmengraben Bürgergärten entstehen. „Wir haben zwei bis drei Flächen herausgesucht und sind derzeit in der Abstimmung, welche genommen werden soll. Interessenten sind genug vorhanden“, berichtet Thomas Bäder. Für weitere Projekte sei man offen. Vorausgesetzt, dass sicher gestellt ist, dass sich jemand dauerhaft darum kümmert.
Bildung: Freilernen nach Lust und Begabung vs. …
Gelebte Utopie: „In der zweiten Klasse habe ich die Schule massiv verweigert und meine Eltern haben dann beschlossen, mich nicht mehr zu zwingen“, berichtet Immanuel Wolf, wie er zum Freilerner geworden ist. Er brauche sein eigenes Tempo, habe schon als Kind erst gesprochen, als er sich grammatikalisch korrekt ausdrücken konnte. Seine jüngeren Brüder seien dann zunächst gar nicht eingeschult worden. Erst habe man das verschleiert, aber das Lügen sei stressig gewesen. Nach einem Umzug sei man offen mit dem Thema umgegangen, aber schließlich angezeigt worden. Die Folge waren nicht nur Bußgelder. Auch das Sorgerecht der Eltern ist in Frage gestellt worden. In der neunten Klasse ist Immanuel dann wieder eingeschult worden. Englisch hatte er bis dahin noch nicht gelernt. In Deutsch, Geschichte und Mathe sei er seinen Mitschülern aber eher überlegen gewesen, weil er sich dafür interessiert habe. Von der Hauptschule sei er schnell auf die Realschule gewechselt und habe sogar noch ein halbes Jahr Gymnasium dran gehängt. „Dann hatte ich keine Lust mehr“, erläutert der 26-jährige, der heute selbstständig als Künstler und Kunsthandwerker arbeitet. Schule habe mehr Funktionen als man zunächst denke, räumt er ein. Natürlich müsse man sehen, wie man die Bedürfnisse der Kinder erfülle. An sozialen Kontakten habe es ihm jedenfalls nicht gemangelt. „In den meisten europäischen Ländern ist Home-Education legal möglich. Das sollte auch in Deutschland gehen“, betont der Mitorganisator des Schulfrei-Festivals.
… historisch begründete Schulpflicht
Status Quo: „Die Schulpflicht in Deutschland ist historisch begründet“, erläutert Roland Herrmann vom Staatlichen Schulamt in Wiesbaden. So sei es in Preußen einst darum gegangen, dass Kinder nicht ständig bei der Feldarbeit helfen mussten. Eine deutschlandweite Schulpflicht gibt es seit der Weimarer Republik. „Grund ist die Chancengleichheit. Alle sollen an der Bildung teilhaben“, fügt Herrmann hinzu. Heute entscheiden die Länder über die Dauer der Schulpflicht und die Strafen, die bei einer Verletzung verhängt werden. In Hessen beträgt die Vollzeitschulpflicht neun Jahre. Danach beginnt die Berufsschulpflicht. Ausnahmen von der Schulpflicht sind theoretisch möglich, aber sehr selten. Ebenfalls möglich ist die Durchsetzung der rechtlichen Vorgaben durch den sogenannten Schulzwang. „Es besteht nicht in allen europäischen Ländern eine Schulpflicht. Es wird unterschieden zwischen Schulpflicht und Unterrichtspflicht“, räumt Herrmann ein, dass in anderen Staaten nicht vorgeschrieben wird, dass Bildung zwangsläufig in Schulen vermittelt wird. Entscheidend ist in diesen Ländern nur, dass überhaupt Bildung vermittelt wird. „Natürlich kann man sich eine europäische Schulpolitik vorstellen. Föderalismus ist für Bildungsentwicklung manchmal auch nicht förderlich“, findet Herrmann.
www.utopival.org , www.livingutopia.org , www.wiesbaden-im-wandel.de