Träumerisch flaniere ich durch die Alleen der Stadt. Am Himmel glänzt das Blau, soweit mein Auge reicht, nur einmal kurz geteilt durch den Kondensstreifen eines Passagierflugzeugs, das friedlich seine Warteschleife über Wiesbaden dreht und in Flörsheim wohl die Menschen in den Wahnsinn treiben wird. Die Sonne lacht und strahlt. Die Knospen knistern, die Winde flüstern, der Lenz ist da, der Lenz ist da. Alle strömen hinaus, ins Freie, in den Kurpark, auf den Kranzplatz, in die Eiscafés und Biergärten der Stadt. Der Frühling ist schön, wie immer. Fast südländisch der Flair, den Wiesbaden in solchen Momenten verströmt. Und während man da so sitzt vor seinem Lieblingscafé, Sonne tankt und sich braten lässt, wie ein gerupftes Hühnchen auf dem Grillspieß, hört man sie dann doch am Nebentisch: die Rede vom „Nizza des Nordens“. Und ich frage mich dann immer: Warum ausgerechnet Nizza? Woher dieser Spitzname?“
Liegt es wirklich nur am milden Klima, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohlhabende und adelige Touristen in die Stadt lockte? Ich fürchte schon. Zumindest konnte mir niemand eine andere Auskunft geben. Und so viele Gemeinsamkeiten haben beide Städte ja auch nicht. Ok, beide haben Fußballvereine, die schon bessere Zeiten gesehen haben. Aber sonst? Nizza ist älter, hat mehr Einwohner, die Bevölkerungsdichte ist deutlich höher, die Stadt liegt am Mittelmeer und nicht am Rhein.
Warum also Nizza und nicht etwa Cannes? Das würde doch viel besser passen. Cannes gilt als mondän, als Stadt der Reichen und Schönen. Sagt man das nicht auch Wiesbaden nach – zumindest eine Stadt der Wohlbetuchten zu sein? Klima und Stadtentwicklung sind ebenfalls ähnlich. Cannes entwickelte sich erst, nachdem es vom Adel entdeckt und zum Ferienort gemacht worden ist. Und Wiesbaden? Da musste auch erst Kaiser Wilhelm II. sein Kurdomizil an den Rhein legen, damit hier die Jugendstilvillen aus dem Boden sprießen konnten. Und natürlich sind beides Filmstädte: Cannes hat sein berühmtes Filmfestival, Wiesbaden mit dem goEast, dem Exground, dem FernsehKrimi-Festival, dem Atlantis Filmfest und der Homonale gleich fünf davon.
Und noch ein Grund spricht für einen neuen Spitznamen: die Unverwechselbarkeit! „Nizza des Nordens“ gibt es einige. Timmendorf wird zum Beispiel so genannt. Oder Dinard, ein Badeort in der Bretagne. Bei „Cannes des Nordens“ würde Wiesbaden nur mit Binz auf Rügen konkurrieren. Aber wie das so ist mit Spitznamen: Sie zu bekommen geht schnell, sie wieder loszuwerden, klappt manchmal nie.
„Noch ’nen sauren Äppler“, blökt mich plötzlich die Bedienung in meinem Lieblingscafé an und reißt mich aus meinen Gedanken. „Ja“, sage ich und weiß: In Nizza und in Cannes bekomme ich den nicht.
Illustration: Marc „King Low“ Hegemann