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Hobby: Wikipedia – Martin Kraft ist einer der wenigen Wiesbadener aktiven Mitarbeiter der Online-Enzyklopädie

Text: Julia Anderton, Foto: Kai Pelka

Schnörkel, Schnecken, Sterne – war die Physik-Stunde wieder besonders öde, sind die Schulhefte mitunter voller Kritzeleien. Die Lehrer ärgert’s, vermuten sie dahinter doch oft die geistige Abwesenheit ihrer Schützlinge. Martin Kraft aber ist der personifizierte Beleg für die These des „Science“-Magazins, nach der Krakeln der Konzentration dienlich ist: Als ihm einst sein Lehrer im Mathe-Leistungskurs das Malen untersagte, wurde die Situation durch Krafts ausgeprägte Multitasking-Befähigung so anstrengend für alle Beteiligten, dass er schlussendlich doch die offizielle Lizenz erhielt. Kraft malte und designte, löste nebenbei die kniffligsten Rechenaufgaben und war glücklich.

Kreativ-analytische Doppelbegabung

„Ich bin ein Hybrid, eine Schnittstellen-Existenz, ich beschäftige mich gerne mit ganz unterschiedlichen Dingen“, erklärt der heute 37-Jährige seine kreativ-analytische Doppelbegabung. Nur wenn die eine Hirnhälfte beschäftigt sei, sei die andere aufnahmefähig. Weil er keine seiner Stärken aufgeben wollte, studierte er Kommunikationsdesign, um das Ästhetische mit dem Technischen zu verbinden. Hierzu zog er eigens aus dem Westerwald nach Wiesbaden – und ist über fünfzehn Jahre später immer noch da: „Klassischer Fall von hängengeblieben!“, resümiert er und sieht dabei nicht so aus, als würde ihn dieser Umstand schmerzen.

Zwischenzeitlich ist viel passiert: Kurz nach Beginn seines Studiums unternahm Kraft seine ersten fotografischen Schritte mit der analogen Leihgabe einer Freundin, knipste mit wachsender Begeisterung vornehmlich Menschen und Landschaftsszenen. „Fotografieren ist ein schöner Weg, die Welt zu begreifen“, erklärt Kraft. Davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, war ihm jedoch zu riskant. Also entschied er sich, die Leidenschaft als vorrangig als Hobby zu betreiben und andere Menschen auch kostenlos an seinen Bildern teilhaben zu lassen:  Die Wahl fiel auf die Mitmach-Enzyklopädie Wikipedia, die damals noch in ihren Kinderschuhen steckte. Als erstes Foto lud Kraft das Logo seiner Hochschule hoch. Der Knoten platzte, als er bei der Berlinale das einzige Bild von Clint Eastwood schoss, das nun den Wikipedia-Eintrag über den Schauspieler ziert. Es folgten gemeinsame Projekte mit anderen Wikipedianern – so nennen sich die aktiven Mitarbeiter am Wikipedia-Projekt – wie etwa das Durchfotografieren der Landtagsabgeordneten, die den entsprechenden Texten zugeordnet wurden, was Kraft einen Heidenspaß machte. Jede Menge Wiesbadener Motive sind auf seiner Wikipedia-Benutzerseite zu finden, von Sehenswürdigkeiten bis zu Schlachthof-Konzerten, aber auch Fotos vom anderen Ende der Welt, aus Australien.

Türoffner zu Orten, an die man sonst nicht gelangt

„Wikipedia ist mittlerweile ein Türöffner geworden, man sieht Orte, an die man sonst nicht gelangt“, freut er sich über die steigende Anerkennung. Etliche Stunden gehen pro Woche für sein Hobby drauf, zumal Kraft, der sich schon als Teenager ehrenamtlich engagierte, im Support-Team aktiv ist. Hier trifft er auf krude Zeitgenossen wie Reichsbürger oder Verschwörungstheoretiker, die mit ihren Beiträgen Stimmung zu machen versuchen. Grundsätzlich kann jeder Interessierte Texte in Wikipedia veröffentlichen, die Qualitätssicherung richtet sich in erster Linie nach Belegbarkeit und Relevanz. Gleichwohl kann jeder Besucher Inhalte nach seinem Gutdünken ändern  – und dies unter Wahrung seiner Anonymität. Hinter diesem Deckmantel werden Sachverhalte gerne einseitig verzerrt dargestellt, sobald sie einer speziellen Gesinnung dienen. Werden Persönlichkeitsrechte oder der Neutralitätsanspruch verletzt, kann der Support einschreiten. Ebenso besteht bei Streithähnen eine Konsenspflicht.

Fake-News als Symptom der Überforderung

Auch Fotos werden zu Zwecken der Meinungsmache oder Hetze missbraucht, von Wikipedia heruntergeladen und gepostet oder verschickt. Allerdings können  Kraft und seine Mitstreiter dies häufig mit Verweis  auf eine Verletzung des Urheberrechts stoppen, wenn der Name des Fotografen oder eine Bildbearbeitung nicht  angegeben wurde: Und schon fliegt der daran aufgehängte Post bei Facebook mit sämtlichen haarsträubenden Kommentaren heraus. Das Phänomen der Fake-News sieht Kraft als Symptom der Überforderung durch die Digitalisierung, hervorgerufen durch ein Überangebot an Informationen, das die Gesellschaft nicht verarbeiten kann.  Eine finanzielle Aufwandsentschädigung erhält Kraft, der im Hauptberuf als freiberuflicher Designer und Entwickler (und durchaus auch als Fotograf) arbeitet,  für seinen zeitintensiven Einsatz zwar nicht. Dafür werden seine Reisekosten bezuschusst, und es steht hochwertiges Equipment zur kostenfreien Ausleihe zu Verfügung. Er ist nicht der einzige Wikipedianer in Wiesbaden,  beispielsweise ist ein Experte für Nassauische Geschichte darunter. Doch es dürften ruhig mehr Engagierte werden. „In Mainz gibt es eine aktivere Szene“, weiß er.

https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedianer

https://en.wikipedia.org/wiki/User:Martin_Kraft

Beim „Donnerstalk“ im „heimathafen“ am 6. April spricht Martin Kraft ab 19 Uhr über „Alternative Fakten, Fake News, Filter Bubble & Co – Wahrheit in den sozialen Medien“.