Der Mensch ist ein nostalgisches Wesen. Immerzu war früher alles besser, schöner und sicherer. Wenn irgendwo in den sozialen Netzwerken ein Foto aus dem vorherigen Jahrtausend auftaucht, das eine Tankstelle und die damals aufgerufenen Spritpreise zeigt, dauert es meist nur wenige Sekunden, bis ein klagender Kommentar über die heutigen Benzinpreise darunter gepostet wird. Denn: Früher war nicht nur alles besser, es war auch alles günstiger.
Was eigentlich niemand verwundern sollte. Der Effekt ist lange bekannt. Er nennt sich Inflation.
Die Nostalgie beiseitegelegt, ist die Aussage „Früher war alles besser“ natürlich großer Quatsch. Nehmen wir zum Beispiel den Sommer 1986. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war gerade geschehen und die radioaktive Wolke über Europa hinweggezogen. War die Welt damals wirklich besser? Für Ehefrauen definitiv nicht. Die durften bis 1997 nämlich noch legal von ihren Ehemännern vergewaltigt werden. Oder nehmen wir das Jahr 1960. Da starben Männer im Schnitt mit 63,5 Jahren. Heute müssen sie erst mit fast 77 Jahren ins Gras beißen.
Immerhin war die Schule besser, Pisa-Tests, die das Gegenteil beweisen könnten, gab es früher nicht. Dafür trugen nicht wenige Schulbücher noch den Stempel des Reichsadlers auf dem Deckblatt und die Schüler saßen in asbestverseuchten Klassenräumen. Und man konnte 1970 ohne Gurt in airbaglosen Autos fahren, was auch die siebenmal so hohe Zahl der Verkehrstoten im Vergleich zu heute nachvollziehbar macht.
Damals war einfach mehr Abenteuer, verklärt der nostalgische Verstand solche Erinnerungen und hübscht sie auf. Das macht er gerne. Das halbe Jahr, dass man arbeitssuchend zwischen zwei Jobs verbrachte, wird im Lebenslauf zum Sabbatical und zur spirituellen Reise zu sich selbst gepimpt. Der schüchterne Malte aus der Buchhaltung ist in den Schwänken aus seiner Jugend ein Draufgänger, der auch nach dem 20. Bier noch fehlerfrei den Unterschied zwischen Aktiva und Passiva erklären kann – dabei schmeckt ihm Bier bis heute nicht.
Und Opa und Ur-Opa verwandeln sich in den Erzählungen der Enkel und Urenkel in entschiedene Widerstandskämpfer, obwohl die Hitler-Büste bis zu ihrem Tod neben der signierten Ausgabe von „Mein Kampf“ im Bücherregal stand.
Die Erinnerung ist wählerisch. Sie trägt eine rosarote Brille. Sie macht es einfacher, Erlebtes zu verarbeiten. Aber sie ist kein neutraler Chronist, sie beugt die Vergangenheit, bis sie zu unserem Selbstbild passt, fast wie ein Reporter der Yellowpress, der sich seine Geschichte durch Fakten nicht kaputt machen lässt.
Früher war vieles nicht besser, aber fast alles anders. Zumindest in meiner Erinnerung.
Mehr Falk Fatal: “Saure Äppler im Nizza des Nordens – 100 sensor-Kolumnen”, Edition subkultur, ISBN: 978-3-948949-24-2