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„So viel Enttäuschung war nie“: Wiesbadener Grüner startet Petition aus Frust über Ampel-Koalitionsvertrag

Daniel Sidiani 2016 bei einem Verkehrswende-Event auf der Schwalbacher Straße.  Foto: Dirk Fellinghauer

„Die schönen Bilder, die ihr aus Berlin liefert, wirken wie aus einer anderen Welt, ich wollte sie heute gar nicht mehr sehen.“ Mit deutlichen Worten an die Parteispitze kommentierte der bekannte Wiesbadener Grüne Daniel Sidiani die Vorstellung des „Mehr Fortschritt wagen“- Ampel-Koalitionsvertrags der künftigen SPD-Grüne-FDP-Bundesregierung. Sein Satz steht in einer „Hilferuf“-Petition, die der einstige Wiesbadener Grünen-Vorsitzende und frühere Stadtverordnete, der heute als Stabsstellenleiter im grün geführten Wiesbadener Verkehrsdezernat arbeitet, gestartet hat. Und die bundesweit auf Resonanz stößt.

Die Forderung: „Mehr Grün in der Ampel“. Die Botschaft: Er selbst hadere wegen der enttäuschenden (Nicht-)Inhalte in Sachen Verkehrswende und denke über ein „Nein“ zum Koalitionsvertrag in der bis 6. Dezember laufenden Urabstimmung der 125.000 Grünen-Mitglieder nach, Grüne Parteifreunde seien schon zum „Nein“ entschlossen, auch von Parteiaustritten sei die Rede.

Der Titel von Sidianis hier veröffentlichter Petition lautet: „Mehr Grün in der Ampel: Verkehrswende-Ziele nachschärfen, Städten und Gemeinden Spielräume eröffnen.“ Unterzeichnet haben die Petition bis Samstagnachmittag 363 Personen („Sammelziel: 500“), darunter einige bekannte Wiesbadener Grüne wie zum Beispiel diverse Stadtverordnete, aber auch Unterstützer:innen aus ganz Deutschland. Bisher knapp 120 Kommentare zur Petition haben einen ebenfalls überwiegend kritisch bis verzweifelten Tenor und zeigen, dass Sidiani mit seiner Petition offenbar einen Nerv der Grünen Mitgliederschaft und Wähler:innenschaft getroffen hat.

Hier sein kompletter Petitionstext im Wortlaut:

„Es gibt heute nichts schönzureden: Das Verkehrskapitel im Ampel-Koalitionsvertrag ist nicht ausreichend, um den so dringend notwendigen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten. Alles, was nicht geht, ist sehr konkret aufgeführt: Kein Tempolimit, keine höheren CO2-Preise auf Benzin. Dem boomenden Radverkehr gesteht man gerade mal 3,5 Zeilen zu, dem Fußverkehr eine einzige. Umweltschädliche Subventionen wie Pendlerpauschale und Dieselprivileg werden unvermindert fortgesetzt. Diejenigen Maßnahmen, die wirklich für Verkehrswende und Klimaschutz helfen würden, bleiben dagegen allesamt vage formuliert – und bieten somit Ermessensspielräume, die der künftige FDP-Verkehrsminister sicher gerne in seinem Sinne ausnutzen wird, sobald er im Amt ist.

Die gute Laune des grünen Spitzenduos Annalena Baerbock und Robert Habeck kann der Wiesbadener Daniel Sidiani – und mit ihm die Unterstützer:innen seiner Petition – mit Blick auf den ausgehandelten Koalitionsvertrag nicht teilen. Foto: Bündnis 90/Die Grünen

Viele Parteifreund:innen, denen die Mobilitätswende ein Herzensanliegen ist und mit denen ich heute gesprochen habe, haben die Nachrichten aus Berlin heute enttäuscht bis fassungslos aufgenommen und tendieren aktuell zu einem NEIN bei der Urabstimmung bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Koalitionsvertrag. Das trifft auch für mich selbst zu. Bei einigen ist diese Absicht sehr gefestigt.

Der einzige Strohhalm, an den wir uns momentan noch klammern können, ist die festgehaltene Absicht, die Straßenverkehrsordnung (StVO) und das Straßenverkehrsgesetz zu ändern. Dabei sollen Ziele wie Umwelt- und Klimaschutz und Gesundheit „berücksichtigt“ werden. Wohlklingende Schlagworte – aber völlig unverbindlich. Außerdem solle das „Verkehrssicherheitsprogramm weiterentwickelt“ werden – auch hier ohne jede Konkretisierung, was das genau bedeutet. Dabei liegen genau hier die größten und am schnellsten umsetzbaren Chancen: Zahllose Städte und Gemeinden in Deutschland stehen in den Startlöchern, die Verkehrswende vor Ort auf die Straße zu bringen – wenn die Bundes-Ebene sie nur ließe. Sie sind bereit, Straßen und Schulwege sicherer zu machen, Alternativen zum Privat-Auto zu stärken, die Benachteiligung von Rad- und Fußverkehr umzukehren und so CO2 einzusparen. Momentan werden sie jedoch von StVO und Straßenverkehrsgesetz gegängelt und bevormundet, etwa bei der Einführung von Tempo 30 – selbst an dicht bewohnten Straßen.

Dieser Strohhalm ist jedoch dünn und brüchig, solange er nicht mit Leben gefüllt ist.

Unsere Forderung: Der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möge allen Mitgliedern bis Donnerstag, 2. Dezember überzeugende, konkrete und verbindliche Eckpunkte der Reform der StVO, des Straßengesetzes und des Verkehrssicherheitsprogramm vorlegen, die mit den Koalitionspartnern umgesetzt werden sollen.

Es geht hier nicht darum, den Koalitionsvertrag selbst noch zu ändern – denn dass dieser nicht mehr angetastet werden kann, gehört zur Natur von Koalitionsverhandlungen, das ist uns bewusst. Es geht um ein inhaltliches Füllen der Lücke, die dieser Koalitionsvertrag im Bereich der Verkehrswende heute noch offengelassen hat. Wir brauchen eine Konkretisierung des Vereinbarten, wir brauchen eine Interpretationshilfe, die uns etwas Halt und Hoffnung gibt und idealerweise dazu führt, dass wir bei der Urabstimmung nicht mit NEIN, sondern zumindest halbguten Gewissens mit JA abstimmen können.

Begründung

Ich habe heute lange mit mir gerungen, ob ich diese Petition starten soll, weil mir der Gedanke irgendwie „destruktiv“ erschien. Ich bin seit 2009 GRÜNES Mitglied und weiß aus eigener Erfahrung von kommunaler Ebene, wie anstrengend Koalitionsgespräche sein können. Demnach weiß ich auch, dass Kompromisse nötig sind, zuweilen auch schmerzhafte Kompromisse. Und ich weiß euren Einsatz in den letzten Wochen, lieber Bundesvorstand und liebe Verhandlungsdelegation, zu schätzen.

Allerdings habe ich in meinem GRÜNEN Umfeld am heutigen Tage so viel Enttäuschung wahrgenommen wie noch nie zuvor. Die Verkehrswende ist seit jeher GRÜNES Schlüssel-Thema, sie ist für den Klimaschutz unabdingbar. In den letzten Jahren war der Sektor Verkehr bekanntlich der einzige, dessen CO2-Emissionen nicht gesenkt werden konnten. Gleichzeitig der Sektor Verkehr derjenige, in dem am Klimaschutzmaßnahmen am schnellsten Wirkung zeigen können, weil – bspw. im Gegensatz zum Gebäudesektor – sprichwörtlich vieles in Bewegung ist.

Seit 15 Jahren kämpfen wir nun dafür, das Bundesverkehrsministerium endlich der CSU zu entreißen – um es jetzt, mit einem GRÜNEN Rekordwahlergebnis im Rücken, der FDP zu überlassen. Das war heute der erste Nackenschlag. Der zweite war dann, um 15 Uhr im Koalitionsvertrag zu lesen, was alles nicht geht.

Gerade wenn man über ein Ministerium keine (direkte) Kontrolle hat, ist es doch umso wichtiger, zentrale Ziele klar und verbindlich festzuschreiben. Das ist hier bislang nicht in ausreichendem Maße passiert. Es reicht so nicht.

Zum ersten Mal in meinem Leben tendiere ich aktuell dazu, einem Koalitionsvertrag ein NEIN zu geben. Das beängstigt mich selbst ein Stück weit. Viele Parteifreund:innen, mit denen ich mich heute Nachmittag ausgetauscht habe, sind in ihrer Ablehnung noch deutlicher; auch über Parteiaustritte wird offen gesprochen, zutiefst enttäuschte GRÜNE Wähler:innen sprechen mich an. Die schönen Bilder, die ihr aus Berlin liefert, wirken wie aus einer anderen Welt, ich wollte sie heute gar nicht mehr sehen. Dies ist auch der Grund, warum ich die Petition nun gestartet habe: Wir würden es als unfair und intransparent empfinden, im stillen Kämmerlein ein NEIN anzukreuzen, und euch im Ungewissen zu lassen, warum wir das getan haben. Wir möchten die Karten auf den Tisch legen – und zwar, bevor es zu spät ist. Nach all den harten Verhandlungswochen habt ihr, lieber Bundesvorstand, ein Recht darauf, zu erfahren, wo es für uns an der Basis defacto noch nicht reicht. Deshalb ist diese Petition auch bitte nicht als Drohung zu verstehen – denn Stand heute würden viele von uns mit NEIN stimmen, wir haben also gar nichts, womit wir überhaupt Druck aufbauen könnten – sondern vielmehr als Hilferuf. Ein Hilferuf im Sinne unserer GRÜNEN Ziele, für die wir seit vielen Jahren zusammen kämpfen. Wir bitten euch, uns ein Angebot zu machen; in der Hoffnung, dass wir vielleicht doch noch „zusammenkommen“.  (dif)

Mit GRÜNEN Grüßen,

Daniel & alle mitunterzeichnenden Parteimitglieder

3 responses to “„So viel Enttäuschung war nie“: Wiesbadener Grüner startet Petition aus Frust über Ampel-Koalitionsvertrag

  1. Ich teile die Einschätzung, dass es mit einem FDP-Verkehrsminister keine Verkehrswende, wie die Grünen es in ihrem Wahlprogramm versprochen haben, geben wird.
    Es war aber schon von Anfang an klar, dass Grüne mit der FDP zu wenig gemeinsam haben, um in einer Koalition regieren zu können.
    Mein Vorschlag, Grüne raus aus der Koalition und mit der SPD eine Minderheitsregierung bilden.

    1. Das bringt leider gar nichts, da eine rot-grüne Minderheitsregierung immer auf die Stimmen der SPD oder der Unionsparteien angewiesen wäre. Anders würde es aussehen, wenn auch zusammen mit der Linken gemeinsame Mehrheiten möglich wären. Das würde tatsächlich den demokratischen Diskurs beleben, da rot-grün dann mit wechselnden Mehrheiten regieren könnte.

  2. Die grösste Entäuschung…FDP als bremsende, befangene Partei wird die Ampel nicht so gestalten, dass wir die Verkehrswende klimagerecht durchsetzten können. Hoffentlich wird nicht wieder von Befangenem regiert.
    Allein der Slogan mehr Fortschritt wagen bedeutet doch eher nur Fokus auf Wachstum so wie bisher. Der erste grösste folgenschwere Kompromiss ist doch das gecancelte so leicht zmzusetzendeTempolimit 130 (kostet gar nix!). Eine sehr wegweisende politische Richtung, die schwer zu denken gibt. Verkehrswende geht nicht ohne Energiewende und umgekehrt. Und ein weiter so liebe Lobbyisten des Wirtschaftswachstums und der antiquierten Profitmaximierung einger weniger auch nicht, sonst wird uns der Klimawandel noch teuer zu Stehen kommen. Wir alle brauchen endlich eine klar definierte Neuausrichtung mit klaren Konzepten und keine Umsetzungsvariablen die ständig angepasst werden können oder einfach gedeckelt werden.

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