Von Selma Unglaube. Fotos Heinrich Völkel und Andrea Diefenbach.
Brigitte, Wolfgang und Holger und ihre beiden Mitbewohner teilen sich ein zweistöckiges Haus in der Siedlung Gräselberg. In diesem Reihenhaus, das der „Lebenshilfe Wiesbaden e. V. Betreuung und Förderung behinderter Menschen“ gehört, erprobt die sympathische Gruppe gemeinsam seit vier Jahren das eigenständige Leben. Alle fünf Bewohner dieser WG sind geistig behindert.
Tagsüber gehen die Frauen und Männer im Alter zwischen zwanzig und vierzig Jahren einer Tätigkeit nach. Vier von Ihnen arbeiten in der „Werkstatt für behinderte Menschen“. Hier erfüllen sie kleinere Aufträge regionaler Unternehmen, von der Verpackungstechnik für einen Süßwarenhersteller bis hin zum Zusammenstecken von Kugelschreibern. Holger hat eine Anstellung als Küchenhilfe bei der „Lebenshilfe“. Nach Feierabend versammelt sich die WG wieder in ihrem behaglichen Zuhause, wo sie täglich von 16 Uhr bis 22 Uhr von ihren Gruppenbetreuern Andreas Kehl und Ute Weller besucht und bei Alltäglichem unterstützt werden. „Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe“, erklärt Kehl. Auch Marcus Ahr-Schmuck, der Leiter der Einrichtung, stattet der Gruppe regelmäßig Besuche ab – wenn er nicht gerade eine der zahlreichen Freizeitaktivitäten mit ihr durchführt. „In meinem Beruf ist ein hohes Maß an Flexibilität gefordert“, erläutert der Sozial-Pädagoge. „Aber das macht’s so spannend und abwechslungsreich“, fügt Kehl hinzu.
Im geräumigen und geschmackvoll eingerichteten Wohn- und Essbereich des Hauses fühlen sich auch Besucher sofort wohl. Vom roten Ecksofa und den weißen Poufs blickt man auf einen gepflegten Garten. Vor der offenen Küche, die sowohl vom Flur wie vom Essbereich zugänglich ist, steht eine lange Tafel mit Sitzbänken, an der alle Bewohner mit Gästen Platz finden.
Hier verschläft niemand
Trotz Förderung ihrer Selbstständigkeit suchen sich die Mieter der Wohneinrichtung ihre Mitbewohner nicht selbst aus. Diese werden von den jeweiligen Betreuern und dem Leiter ausgewählt. Ob das immer gut geht, wenn die Bewohner kein Mitspracherecht haben? Im Gräselberg klappt das Zusammenleben offensichtlich besonders gut. „Die Bewohner achten auf einander, zum Beispiel wenn’s einem schlecht geht, oder sie wecken einander morgens, damit keiner verschläft und zu spät zur Arbeit kommt“, fügt Andreas Kehl hinzu.
Bei der Zimmergestaltung haben alle ein Wörtchen mitzureden. „Die individuellen Einrichtungswünsche der Bewohner werden von uns umgesetzt“, erklären Kehl und Ahr-Schmuck einstimmig. Bei Bedarf geht es zusammen zum Möbel kaufen. Fußballfan Holger beispielsweise hat sich erst kürzlich blaue Kommoden und einen bunten Teppich für sein Zimmer gekauft. Seine Zimmerwände zieren Schals und Fahnen der Deutschen Nationalelf und vom FC Bayern München.
Muscheln von der Ostsee
Die Möbel auf dem ausgebauten Dachboden, der Wolfgang als Schlafbereich dient und den man über eine kleine Wendeltreppe erreicht, hat sein Vater, ein Schreiner, angefertigt. Am Treppengeländer hängt ein Fischernetz mit Muscheln, die Wolfgang bei einer Freizeit an der Ostsee gesammelt hat. Seinen Wohnbereich hat er modern ausgestattet, mit Flatscreen, rotem Sitzsack und einem grauem Ledersofa. Darauf hat er mit Tiermotiven bestickte Kissen drapiert. Eingerahmte Bilder, die er selbst gemalt hat, schmücken die Wände.
Brigittes Zimmer befindet sich ein Stockwerk tiefer. Ihr helles Zimmer mit den apricot gestrichenen Wänden hat sie farbenfroh eingerichtet. An der Balkontür steht ein blauer Sessel auf einem bunt gestreiften, flauschigen Teppich. Auf ihrem Schreibtisch tummeln sich wohl sortiert unterschiedlichste Utensilien. Und das Bett bewachen Brigittes viele Kuscheltieren. „Sie sammelt gerne und viel“, verrät ihr Betreuer schmunzelnd. Das Schöne an dieser WG: Jeder kann sich einbringen, drinnen herrscht eine helle und lebensbejahende Atmosphäre. Ein schönes Wohnmodell, das allen Bewohnern ein weitgehend selbst bestimmtes Leben ermöglicht.