Eines der ältesten Häuser Wiesbadens ist verschwunden – das Haus in der Nerostraße 22, hier links zu sehen auf einer historischen Aufnahme, neben dem heutigen Walhalla im Exil und früheren Gestüt Renz, Wirthaus, Jazzkeller … Stadtentwicklungsdezernent Hans-Martin Kessler, der auch für den Denkmalschutz zuständig ist, beruhigt die ob des Anblicks der momentanen Baulücke direkt vor dem Neubauprojekt „Nero 22“ offenbar zahlreichen besorgten Bürgerinnen und Bürger: „Das Einzelkulturdenkmal wird Stück für Stück abgebaut, nach traditionell-handwerklichen Methoden instandgesetzt und anschließend an Ort und Stelle wieder zusammengebaut“, verspricht er: „Die derzeit sichtbare Baulücke wird bald wieder geschlossen.“ Warum ist dieses aufwendige und ungewöhnliche Sanierungsverfahren notwendig?
„Der vollständige Abbau eines denkmalgeschützten Fachwerkhauses stellt immer die letzte aller Möglichkeiten im Umgang mit dem Denkmalbestand dar“, heißt es in der Erkläung. Nach intensiven Voruntersuchungen und Sanierungsplanungen sei in diesem Fall festgestellt worden, dass das kleine zweigeschossige Gebäude in der Nerostraße vielfältige Schadensbilder aufweise. Neben einem einsturzgefährdeten Keller sei auch die Fachwerkkonstruktion in allen Teilen des Gebäudes durch diverse Holzschädlinge stark geschädigt.
Dass bei der Reparatur historischer Fachwerkkonstruktionen die typischen Ausfachungen aus Holzstaken, Stroh und Lehmbewurf nicht immer erhalten werden können und Teile der Holzkonstruktion ersetzt werden müssen, komme immer wieder vor: „Aufgrund des hohen Umfangs der notwendigen Reparaturarbeiten fiel in diesem Fall nach intensiven Diskussionen zwischen den Projektbeteiligten jedoch die Entscheidung, die Konstruktion vollständig auseinanderzunehmen und durch einen erfahrenen Zimmerei-Betrieb reparieren zu lassen.“
Absoluter Ausnahmefall für Denkmalpfleger
Für Denkmalpfleger ist dies ein absoluter Ausnahmefall, der nach Aussage der Stadt aber neben dem zunächst erschreckenden Anblick auf die Baulücke in der Nerostraße auch Vorteile für das denkmalgeschützte Gebäude mit sich bringe: „Auf diese Weise kann der Schädlingsbefall kontrolliert und gezielt bekämpft werden.“ Das sorgsame Auseinanderbauen des Fachwerks ermögliche zudem den Erhalt möglichst vieler wiederverwendbarer Hölzer der historischen Konstruktion. In der Zwischenzeit können außerdem die statischen Probleme des Kellers behoben und der Baugrund für den Wiederaufbau des Gebäudes vorbereitet werden.
Zur Geschichte des Bergkirchenviertels
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts entstand der heute unter dem Namen Bergkirchenviertel bekannte Stadtteil für Handwerker, Händler, Gehilfen und Tagelöhner. Er war von Beginn an durch diese spezifische Sozialstruktur geprägt. Die Bautätigkeit begann mit ein- und zweigeschossigen Fachwerkgebäuden entlang der neu angelegten Nerostraße. Die städtebauliche Planung für dieses neue und preisgünstige Siedlungsgebiet oblag dem Baudirektor Carl Florian Goetz. Dieser verordnete für die neu zu errichtenden Wohngebäude Goetz eine regelmäßige Fassadenaufteilung und sprach Empfehlungen für die Fassadengestaltung aus (Klappläden, Putzfassaden, Stockgesimse etc.). Für die schlichten Gebäude konnte auf diese Weise ein gefälliges Erscheinungsbild erreicht werden.
Die Nerostraße 22 ist ein Beispiel des Goetz‘schen Musterhauses, bestehend aus einer symmetrischen fünfachsigen Aufteilung mit mittig liegendem Hauseingang. Durch eine dendrochronologische Untersuchung konnte das Gebäude auf die Zeit um 1810 datiert werden. Es gehört damit zu den ältesten erhaltenen Gebäuden der Stadt Wiesbaden.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vermutlich in den 1840er Jahren) wurde das Hoftor überbaut, um im Erdgeschoss ein Ladengeschäft zu integrieren und im Obergeschoss weiteren Wohnraum zu gewinnen. Die nachträgliche Veränderung und Nutzbarmachung der vorhandenen Flächen bis in den Dachraum hinein ist charakteristisch für die zunehmende Wohnraumknappheit des 19. Jahrhunderts.
Zusammen mit dem Nachbargebäude Nerostraße 24, dem heutigen Walhalla im Exil, bildet es eine kleine zweigeschossige Baugruppe aus der Zeit der Erstbebauung, der im Straßenraum eine gesteigerte städtebauliche Wirkung zukommt. Als ein seltenes Zeugnis der Wiesbadener Stadterweiterung des frühen 19. Jahrhunderts mit einem sehr hohen stadtbaugeschichtlichen Wert ist das Gebäude ein Einzelkulturdenkmal. An seiner Erhaltung und Instandsetzung besteht daher ein besonderes öffentliches Interesse. Hinter den Gebäuden ist seit 2017 ein Neubau-Gebäudekomplex mit Eigenumswohnungen gestanden, Projektname „Nero 22“. (dif/Fotos Landeshauptstadt Wiesbaden)