Von Anne-Marie Butzek. Foto Erika Ehrenberg
Als sie 1994 Michail Gorbatschow in Wiesbaden während ihres Chorauftritts einen Blumenstrauß überreichen soll, ergreift sie aus Angst vor dem großen Mann die Flucht – an Mamas Rockzipfel. Zeiten ändern sich, Selbstbewusstsein entwickelt sich. 2018 wagte sich die 28-Jährige erstmals mit einem Soloabend auf die Theaterbühne. Titel: „Ego ist in“. Hierin gibt die gebürtige und Wieder-Wiesbadenerin ein Ego, „hin- und hergerissen im heutigen Leben“, in den Worten der Macherin, zwischen Egowahn und gesunder Abgrenzung, narzisstischer Selbstdarstellung und heilsamer Selbstfindung.
Schon der Begriff Ego(-ismus) sei vielschichtig, erläutert die 28-Jährige: „Erst mal denkt man an etwas Negatives. Aber es gibt auch einen gesunden Egoismus, der kann dann Selbstfürsorge heißen oder Selbstschutz.“ Dass das Ergebnis ihrer Überlegungen keine trockene Angelegenheit ist, konnte im Januar das Premierenpublikum im ausverkauften Theater im Pariser Hof feststellen. Stattdessen schuf Anja S. Gläser, mit der Vorwarnung „Kann Spuren von Lustigkeit enthalten“, ein temporeiches Wechselbad, mal ernsthaft, mal komisch, mal absurd oder parodistisch spitz.
Bibbern beim aktiven Schreiben
Alles am Stück hat sie selbst gemacht, von der Konzeption, über die Regie und die Proben bis hin natürlich zur Aufführung. „In meinem Ideenbuch gab es einen Riesenhaufen an Liedern, Ideen, Formen. Ich musste auswählen, um konkret zu bleiben“, erklärt die Multitaskerin. Als Dramaturgin und Schauspielerin in Personalunion musste sie stets Bauchgefühl gegen begründete künstlerische Entscheidungen abwägen und habe „auf ganz andere Art gebibbert.“ Fast bis kurz vor Premiere habe sie am Stück gearbeitet, für sie ein „aktives Schreiben“. Natürlich habe sie auch lange vor dem Computer gesessen, aber genauso lasse sie viel Raum für Improvisation. „Ich schöpfe aus eigenen Erfahrungen und spiele damit.“
Wie viel des Stücks von ihrer eigenen Biographie inspiriert ist, wüssten allerdings selbst Freunde nicht, denn Anja möchte „aus der Rolle eine eigene Welt kreieren. Ich will Geschichten ein Gesicht geben und Konflikte sichtbar machen. Kunst in der Form ist gut, aber ein gesellschaftspolitischer Bezug ist mir ebenso wichtig.“ Das Ego ist schließlich keine Insel. Und so wie der erste gelungene Theaterabend auch vom Publikum abhing, war auch das Projekt erst möglich geworden durch einen zufälligen Kontakt zum späteren Aufführungsort. „Dann mach‘ ich bei euch mal ´nen Soloabend“, hatte Anja zunächst gescherzt. In Kombination mit einem gebührenden Vertrauensvorschuss der Theatermacher in der Spiegelgasse wurde daraus im Herbst 2017 eine Zusammenarbeit.
Der Reiz des Solos
Dass ein Solostück Mittel der Wahl werden würde, sei ihr schon seit dem zweiten Studienjahr an der Ludwigsburger Akademie der darstellenden Kunst klar. Damals stand das „Herzensstück“ auf dem Stundenplan, „ein Monolog, 50 Minuten, ein Gegenstand, ein Scheinwerfer, die Bühne und du.“ Obwohl Anja damals noch einen Shakespeare-Text sowie einen Dozenten an der Hand hatte, spürte sie den Reiz der Prüfung: „Man muss genau wissen, was man eigentlich will.“ Vermutlich ist das eine Quelle der immer wiederkehrenden Stakkatozeile „Veränderung. Verantwortung. Jetzt.“ in ihrem aktuellen Stück.
„Ego ist in“ fragt aber nicht nur danach, was dieses Ego überhaupt ist. Für Anja ist die Frage zentral: „Was macht man daraus?“ Die gebürtige Wiesbadenerin hat ihre eigene Antwort darauf. Zunächst ging sie in der hessischen Landeshauptstadt zur Schule, verließ nach dem Abi jedoch die Stadt. Obwohl in ihrem schulischen Lebenslauf weder Theater AG noch Improworkshops fehlen oder der Theaterlehrer, der ihr sagt „Du wirst mal Schauspielerin!“, habe sie erst einmal „das Leben genießen“ wollen. Nach einigem Reisen und Jobben spricht sie dann doch an Theaterschulen vor. Als eine von zehn wird sie an der Akademie in Ludwigsburg aufgenommen: „Ich habe mich dort wohl gefühlt und gefordert.“ Sie ergatterte schon während des Studiums ein Theaterengagement in Osnabrück, im Anschluss daran dann eines am Hessischen Staatstheater. So kam sie auch wieder zurück in ihr „kleines feines Wiesbaden“, ihr Zuhause, zu Familie und Freunden.
Offen für – fast – alles
Die Rückkehr konnte nicht von Dauer sein. Das moderne Selbst ist flexibel und bei einer Schauspielern sowieso immer auf Achse: Festivals, Castings, Vorsprechen. Anja S. Gläser ist seit Kurzem freischaffend und spielt mittlerweile sowohl auf der Theaterbühne als auch im Film. „Ich mag beides“, sagt sie und erklärt die Unterschiede: „Beim Film ist der Prozess ein ganz anderer. Alles ist vorbereitet, der Text sitzt, es geht um die Feinheiten – ein bloßes Augenzwinkern –, minimalistisches Spiel.“ Beim Theater arbeite man im Team: „Manchmal kennst du deine Rolle vorher noch gar nicht. Man erarbeitet gemeinsam das Stück.“ Ein wenig habe ihr das auch gefehlt bei ihrem jetzigen Soloprojekt: „Das war schon eine ganz besondere Herausforderung. Aber ich habe sie auch gesucht.“ Ambitioniert ohne eine Spur von Verbissenheit, arbeitet die junge Frau sich quer durch alle Rollen und Genres. „Ich habe eine generelle Offenheit und schaue mir erst mal alles an, auch Werbung. Außer für Firmen, die Wasser privatisieren… Und es gibt Menschen, die stellen Joghurt her und sind Nazis. Aber einen Massenmörder spielen? Super gern!“
Anja S. Gläsers Solostück „Ego Ist In“ ist nach der erfolgreichen Premiere am 8. März um 19.30 Uhr erneut im Theater im Pariser Hof zu sehen. Die Wiesbadenerin plant eine Tour durch deutsche Städte.
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