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Von Ufer zu Ufer: Wiesbaden und Mainz in neuer Freundschaft jenseits jeder Rivalität

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Von Hannah Weiner. Fotos Katharina Dubno. 

Obwohl nur zehn Kilometer Luftlinie zwischen Mainz und Wiesbaden liegen, gab es lange an den tiefen Gräben und der traditionellen Rivalität zwischen den beiden Landeshauptstädten nicht zu rütteln. Doch es scheint, als könnte das bald der Vergangenheit angehören.

Eine gute Freundschaft war es nie, eigentlich nicht mal eine nette Bekanntschaft, zumindest nicht eine von besonderer Sympathie geprägte. Links die Mainzer, rechts die Wiesbadener, in der Mitte der Rhein als Grenze in Köpfen und Gesetzbüchern. Obwohl nur zehn Kilometer zwischen beiden Rathäusern liegen, fand man nicht zusammen. Neckereien und Animositäten um Zuständigkeiten, Eitelkeiten und Stadtteile dominierten das meist kühle Nebeneinander. Doch neuerdings wächst ein zartes Pflänzchen der Freundschaft heran. Die Einsicht, dass man zusammen weniger alleine und gemeinsam stärker ist, scheint sich durchzusetzen. Ob in Politik oder Wirtschaft, in Kunst, Kultur oder Sport, Vereinen und Initiativen, Mainz-Wiesbaden und Wiesbaden-Mainz, der Doppelname ist in.

Von Rathaus zu Rathaus

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, beschreibt der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich den frischen Wind in Sachen Annäherung. So sei das nämlich gewesen, als zwischen ihm und seinem rheinland-pfälzischen Pendant Michael Ebling die Idee einer vertiefenden Zusammenarbeit geboren wurde. Die beiden „Lieblingskollegen“ verbindet eine berufliche und private Freundschaft. Man lacht und feiert zusammen, stößt Projekte oder mit Gläsern an. „Gemeinsam“ ist das neue Motto. Es gehe darum „miteinander auszuloten in modernen Zeiten“, findet Ebling. Diese Sympathie wirkt sich auf die Politik- und Verwaltungsapparate aus. Große Visionen für die kommenden Jahre entstehen etwa im Städteausschuss Mainz-Wiesbaden. Verbindende Radwege sollen verbessert werden, das Rheinufer gemeinsam neu gestaltet, eine Schiffsverbindung wiederbelebt und Brücken saniert. Im Sport will man zusammen Turniere veranstalten, von Rathaus zu Rathaus laufen und den Wiesbadener Inklusiven Fackellauf nach Mainz ausweiten. Neben dem städteübergreifenden Kulturprojekt „Brückenschlag“ soll es 2017 eine gemeinsame Museumsnacht geben. Ja, man will sogar Themen wie Luftreinhaltung, Fluglärm und Klimaschutz Hand in Hand angehen. Mainz und Wiesbaden finden endlich zueinander. Was in der Politik noch Neuland ist, haben viele Bürger jedoch schon früher bemerkt.

Verbindende Kunst

Den scheinbar ewigen Clinch um Amöneburg, Kastel und Kostheim etwa sehen Gisela Winterling, Dolores Hackenberg und Elke Wolf entspannt. Für die Künstlerinnen hat die „Sandwich-Situation“ Kostheims, das Mainz heißt und zu Wiesbaden gehört, sogar Vorteile. So haben nämlich die 24 Frauen, die im Verein Gedok Wiesbaden-Mainz organisiert sind, den gleichen Anfahrtsweg. Gedok schlägt seit fünf Jahren die Brücken über den Rhein durch die Kunst. Als Vereins-Treffpunkt dient ein großer Raum voller Ideen und Inspiration. In einem Kamin lodern warme Flammen, gemütliche Sofas laden zum Hineinsinken lassen ein, Gemälde und Fotografien hängen an den Wänden. Hier kommen die Frauen zusammen, produzieren Kunst und sprechen ihre Projekte. Goldschmiedin Wolf lebt seit einem Vierteljahrhundert in Kostheim, geboren ist sie Mainz. „Als Regionalgruppe ist man stärker, wenn man sich zusammen tut“, findet sie. Dem Verein geht es um gegenseitige Unterstützung, um eine Plattform zum Austausch. Eines ist dabei seit der Gründung wichtig: „Gedok für Mainz und für Wiesbaden – das war die Voraussetzung“, erinnert sich Winterling. Entweder gemeinsam oder gar nicht. „Für Kunstmenschen gibt es keine Grenzen“, findet auch Hackenberg, „weder geographisch noch disziplinär“. Offenheit gegenüber Kunst, gegenüber Städten und Ideen ist den Frauen wichtig. So haben sie den interdisziplinären und städteübergreifenden „Tag des Kunstbrötchens“ ausgerufen. Diesen feierten sie mal in Mainz, mal in Bingen und „komme, was da wolle“ im nächsten Jahr in Wiesbaden. Als Hackenberg vor 30 Jahren in die Region zog, erlebte sie noch eine „krasse Konkurrenz“ zwischen den beiden Städten. „Keiner hat damals mit dem anderen geredet.“ Doch das sei lange vorbei. Dazu trägt auch Gedok jeden Tag ein bisschen bei.

260 Menschen, zwei Städte, eine Liebe

Ein Vorzeigeverein in Sachen Städtefreundschaft ist auch der Teckelklub Wiesbaden-Mainz. Hier steht der Hund und nicht der Wohnort von Herrchen oder Frauchen im Mittelpunkt. Fast 90 Jahre schon treffen sich die Dackelfreunde regelmäßig in Wiesbaden. Mit Ingrid Henrich hat der Teckelklub nun seine erste Vorsitzende, die auf der linken Rheinseite lebt. Zur ihrer achtjährigen Zwergrauhaardackeldame Flori, mit der sie gerne in den Weinbergen bei Bodenheim spazieren geht, verbindet sie eine enge Beziehung. Wenn Henrichs nachdenkt, sucht ihr Blick den Hund, der in einem Körbchen auf dem Boden döst. 1925 ist der Teckelklub erst nur für Wiesbadener gegründet, 1972 auch für Mainzer geöffnet worden. „Natürlich war wichtig, dass Wiesbaden im Namen zuerst steht“, erinnert sich die Vereinsvorsitzende und zieht eine Augenbraue hoch. Da habe es dann doch Empfindlichkeiten gegeben. Doch die geteilte Hundeliebe schlägt stetig die Brücke zwischen Mainzern und Wiesbadenern. Die 260 Mitglieder und ihre Kurz,- Lang- oder Rauhaardackel unternehmen viel zusammen. Jedes Jahr im Januar gibt es in Eltville Sauerkraut und Rippchen, im Februar feiern sie Fastnacht, im Frühling machen sie einen Osterspaziergang. Gemeinsam veranstalten sie Dackelrennen, Dackelfreizeiten und „Halligalli auf dem Hundeplatz“. Zentral ist, dass die hessischen und rheinland-pfälzischen Vierbeiner im Umgang miteinander Sozialverhalten trainieren und nicht „Krach anfangen.“ Ohne die Wiesbadener würde im Klub etwas fehlen, findet Henrich. Kleine Neckereien gibt es trotzdem. „Auf dem Hundeplatz wird sich nicht fein gemacht“, schmunzelt die Rentnerin, fügt aber hinzu: „Es spielt keine Rolle ob Mainz oder Wiesbaden, weder für den Hund noch für den Menschen.“

Ein Mann für zwei Städte

Ali Reza Zeinali Yazdi vereint Mainz und Wiesbaden in einer Person. Der Mann mit dem klangvollen Namen leitet die Wu-Te-Akademie für asiatische Kampfkunst in der Mainzer Steingasse, die als Ableger des Wiesbadener Vereins gegründet wurde. Seit 17 Jahren wohnt Zeinali Yazdi in der hessischen Landeshauptstadt. Anfangs haderte er damit. „Ich hatte Probleme Kontakte zu knüpfen. Die Wiesbadener waren so nasehoch.“ Damals hätte er lieber in Mainz gewohnt. Heute profitiert der 37-Jährige davon, dass er beide Städte gut kennt. „Der Spagat und die Verbindung machen mir Spaß“, sagt er. Junge Leute in Wiesbaden mit der kreativen Energie in Mainz zusammenzubringen ist sein Ziel. Die enge Beziehung zwischen beiden Akademien ist auch Zeinali Yazdi zu verdanken. „Die Liebe zur positiven Auseinandersetzung bringt die Leute zusammen“, weiß der vielseitige Kampfsportler. Er hat soziale Arbeit studiert, einen Schein für Traumreisen und Hypnose, ist Sexualtherapeut und Kindercoach. Die beiden Wu-Te-Akademien mit insgesamt 200 Mitgliedern seien eine Familie, erklärt er. Jedes Wochenende treffen sich alle abwechselnd in Mainz und Wiesbaden. Als Trainer sei es seine Aufgabe, Widerstände zu erkennen draufzuschauen. Für die Städte heiße das: „Rüberfahren und gucken, wie sind sie wirklich, sich kennenlernen“. Wu-Te, das ist Kampf- und Bewegungskunst, Meditation und Mediation, Energiearbeit und Mut zur positiven Auseinandersetzung. „Da zählt kein Mainz gegen Wiesbaden“, sagt Zeinali Yazdi. Auch er selbst hat zwischen den beiden Städten seinen Frieden gefunden. Der Kampfkunstlehrer lebt heute mit seiner Frau, einem „echten Meenzer Mädsche“, und seinen Kindern in Biebrich. Jeden Tag überquert er den Rhein mit seinem Fahrrad. „Man muss es den Menschen vorleben“, sagt er, bevor er wieder über den Fluss nach Hause radelt.

Biurbanität im Wirtschaftsbereich

Auch die Wirtschaft ist der Politik einen Brückenschlag voraus. Schon lange kooperieren regionale Unternehmen auf beiden Seiten des Rheins miteinander. Im Marketing-Club Mainz-Wiesbaden, einem der zehn größten deutschen Berufsverbände seiner Art, finden viele zusammen. Der Club ist deutschlandweit der einzige, der zwei Landeshauptstädte vereint. Seit 25 Jahren schon bemüht er sich Unternehmen miteinander bekannt zu machen. 30000 Kontakte über den Rhein haben sich so bereits gefunden. „Die Wirtschaft kennt die Grenzproblematik nicht“, findet Mainzer und Vorstandsmitglied Heinz Meloth. Man verbinde Netzwerke einfach über den Fluss hinweg. „Deswegen ist die Brücke unser Symbol“, erklärt Club-Präsidentin Bettina Fischer, die in Wiesbaden arbeitet und in Mainz lebt. Die Grenze gebe es nur in den Köpfen und im Karneval, bei ihnen sei sie kein Thema. Die Biurbanität zeigt sich auch im Vorstand des Marketing-Clubs. Sven Clasen, Leiter des Amts für Wirtschaft und Liegenschaften, ist „Wiesbadener durch und durch“. „Wir haben früh gewusst, was jetzt Wirklichkeit wird, dass beide Städte zusammenwachsen“, sagt er. Günter Jertz, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen sieht das ähnlich. „Vertrauensvoll“ und „Routine“ sei die Kooperation zwischen den beiden Kammern in Mainz und Wiesbaden. 2015 schicken die zwei IHKs sogar erstmals ein gemeinsames Fußball-Team zu einem bundesweiten Turnier. Heinz Meloth wünscht sich, dass die Leute, die heute noch in Ufern denken, anfangen Brückenpfeiler zu bauen – auch außerhalb der Wirtschaft.

Uferlos auf beiden Seiten

„Vom anderen Ufer zu sein, das heißt alle und keines zu haben“, findet Katja Kraus-Kühn. Sie ist Sängerin bei den Uferlosen, dem schwul-lesbischen Chor Mainz-Wiesbaden. Das passe, so sagt sie, auch zum Rhein und zu beiden Städten. Wie Kraus-Kühn ist auch Christian Sontag Teil der singenden hessisch-rheinland-pfälzischen „Rosa Familie“. Er ist Geschäftsführer der Mainzer Schwulenkneipe „Bar jeder Sicht“ und lebt seit 2001 in Wiesbaden. In ihrem Leben haben die beiden Sänger schon genug mit Vorurteilen und Klischees zu kämpfen. Deswegen sei ein Chor für Mainzer und Wiesbadener ein „Automatismus“ gewesen, erzählt Sonntag. „Inkludieren ist unser Ziel.“ Geboren wurde die Idee 1997 in Mainz. Da die schwul-lesbische Szene eng verflochten sei, habe man schnell auch Wiesbadener aufgenommen. Jeden Montag proben die rund 30 Laiensänger in der Reduit. Sie haben Auftritte bei der Fastnacht, bei schwul-lesbischen Festivals und veranstalten Chorwochenenden. Dabei kennen sie auch in ihren selbstgeschriebenen Texten keine Grenzen „Wir nehmen uns selbst auf die Schippe, die Klischees rauf und runter“, lacht Kraus-Kühn. Es gehe aber auch um ernste Themen, um den Kinderwunsch etwa. Gegenseitig Unterstützung ist bei den Uferlosen zentral. „Wir sind insgesamt nicht so viele und müssen als Minderheit zusammenhalten“, betont die Sängerin. So kann auch durch die sexuelle Orientierung der Graben zwischen Mainz und Wiesbaden überwunden werden. Eines liegt Kraus-Kühn trotzdem für die Zukunft am Herzen: „Es sollte mehr Brücken geben.“

Es sind gemeinsame Lieben und Interessen, Sympathien, geteiltes Anderssein, Philosophien, Musik, ökonomische Ziele, Kunst und Politik, die die Menschen rechts und links des Rheins immer mehr zueinander finden lassen. Es ist ein fließender Wandel, symbolisiert durch den Rhein der zwar trennt, aber doch viel mehr verbindet.

Es gibt noch vieles mehr, was Wiesbaden und Mainz verbindet. Demnächst veröffentlichen wir den großen Überblick über städteübergreifende Initiativen, Vereine, Vorhaben, Facebook-Gruppen und anderes. Noch Ideen, was und wer auf die Liste gehört? Mail an hallo@sensor-wiesbaden.de, Betreff „WI<->MZ“