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Wiesbadener Wald zwischen Sehnsucht und Sorge – Ein Zustandsbericht

Mitten in der Natur, aber immer auch die Wirtschaft im Blick. Die Verbindung dieser Aspekte reizt die Forstinspektor-Anwärterin Nora Waldbrun besonders an ihrem Beruf, der in Zukunft noch anspruchsvoller werden dürfte.

Von Hendrik Jung. Fotos Samira Schulz

Ob beruflich oder privat, viele Menschen zieht es in den Wald. Doch der Sehnsuchtsort der Deutschen gibt auch Anlass zur Sorge. Ein Zustandsbericht aus dem Wiesbadener Wald. Mit Stationen, Begegnungen und Aktivitäten von Waldbaden bis Mountainbiken, von Forst-Ausbildung über Bürger-Pflanzaktionen und Jägerei bis zur letzten Ruhestätte voller Leben.

Eine Dreiviertelstunde sind wir im Goldsteintal unterwegs und nur 500 Meter weit gekommen. Aber was haben wir beim Waldbaden mit Antje Jung nicht alles erlebt. Wir, das sind Georg Siderus und ich. Drei Frauen, die sich ebenfalls angemeldet hatten, haben wegen der Corona-Pandemie abgesagt. „Dabei stärkt Waldbaden noch die Immunabwehr“, bemerkt Antje Jung. Für uns geht es los, ganz langsam: Wir fokussieren uns erst mal auf jeden einzelnen Schritt, um das Tempo raus zu nehmen.

Dann lenkt die Waldbaden-Expertin unsere Sinne auf das Rauschen des Goldbachs, die verschiedenen Grüntöne und den würzigen Geruch des Mooses. Lange lehnen wir uns an einen Baum, um den Halt zu genießen, den er uns gibt und um bei einem Blick in die noch unbelaubte Krone über sein Streben zum Licht zu sinnieren. Im Wurzelwerk von gestürzten Bäumen riecht es modrig, und die Erdbrocken, die wie in den Barten eines Wales zu hängen scheinen, verleihen den Eingängen zu winzigen Höhlen etwas Mystisches. „Ich spüre die Natur intensiver, als wenn ich jogge“, urteilt der 68-jährige Georg. Das geht mir genauso, denn ich bewege mich durch den Wald wie früher als Kind. Dennoch entdecke ich erst auf dem kurzen Rückweg einen Baum, der sich auf Brusthöhe in drei starke Stämme teilt und uns trotz aller Aufmerksamkeit auf dem Hinweg entgangen ist.

Erholung, Naturschutz, Einnahmen

Gelegenheit zum Waldbaden bietet Wiesbaden genug. Rund 58 Quadratkilometer bewaldete Fläche gehören zum Stadtgebiet. 72 Prozent davon gehören der Landeshauptstadt. „Es geht in erster Linie um einen Erholungswald, zweitens um Naturschutz und dann erst um das Erzielen von Einnahmen“, erklärt Sabine Rippelbeck, Leiterin der Abteilung Landwirtschaft und Forsten im Grünflächenamt. Vom Wegenetz über Aussichtspunkte bis zu Schutzhütten sorgen die rund zwanzig Mitarbeitenden in vier Revierförstereien und Verwaltung für Infrastruktur im Stadtwald. Dieser trägt sowohl ein Naturland- als auch ein FSC-Zertifikat, weshalb er seit rund 20 Jahren auch über stillgelegte Flächen verfügt. „Bei uns sind viele geschützte Arten nachgewiesen. Interessanterweise alle in bewirtschafteten Flächen“, berichtet Sabine Rippelbeck.

Geschützte Arten, bedrohte Fichten

Flächendeckend seien etwa Wildkatze und Bechsteinfledermaus zu finden, neun weitere Fledermausarten und Hirschkäfer festgestellt worden. Nicht gut sieht es bei den Fichten aus. Obwohl die Zahlen noch nicht abschließend erhoben sind, müsse man allein für das vergangene Jahr bereits jetzt mit 15.000 Festmetern Katastrophenholz bei dieser Baumart rechnen. „Sonst hatten wir über alle Baumarten hinweg einen Einschlag von 20.000 bis 25.000 Festmeter“, verdeutlicht Sabine Rippelbeck. In weniger als zehn Jahren sei der Anteil der Fichten am Stadtwald von 13 auf 7 Prozent gesunken. Eine Alternative könne die Tanne sein, die in der Naturverjüngung gut funktioniere. Für Pflanzungen wähle man in der Hauptsache Eichen, unter dem Motto „Vielfalt statt Einfalt“ seien aber auch mal Kirschen, Speierling oder Mehlbeere dabei. Eine geplante Pflanzaktion unter Beteiligung der Bürgerschaft ist der Pandemie zum Opfer gefallen. Ein weiterer Termin ist für den Herbst geplant.

Viele wollen dem Wald helfen

Das wird viele Engagierte freuen, allen voran das Dotzheimer Ehepaar Sesterhenn, das die Pflanzaktion mit initiiert hat. Dass sich dabei lediglich 120 Menschen eingebracht hätten, lag lediglich daran, dass nicht mehr hätten fachlich betreut werden können. „Viele wollen helfen, die Folgen des Klimawandels abzumildern und sie wollen sofort etwas tun und nicht auf die Wirkung des Kohleausstiegs warten“, verdeutlicht Sabine Sesterhenn. Ihr selbst mache es Angst, wenn sie sehe, wie sich das Weilburger Tal gewandelt habe, in dem sie mit ihrem Ehemann viel Zeit verbringe. Sie habe auch Zusagen für mehr als eintausend Euro für die Anschaffung von Setzlingen gehabt. Da diese jedoch seitens der Stadt zur Verfügung gestellt worden wären, wolle sie nun recherchieren, wo Spenden im Sinne des Waldes auch sinnvoll verwendet werden. Ihre eigenen Sinne seien nun geschärft, das Ehepaar will den Stadtwald weiter im Auge behalten.

Gewirkt hat die Pflanzaktion, obwohl sie vorerst gar nicht stattgefunden hat. „Viele Leute haben sich gemeldet und gesagt: Wir wollen das kopieren. Mit fünftausend Bäumen retten wir das Klima nicht. Aber wenn die nächsten Orte sich anschließen, werden es immer mehr Bäume“, berichtet Jürgen Sesterhenn. Vor allem aber erhofft sich das Ehepaar, dass alle, die sich an zukünftigen Aktionen beteiligen, eine noch stärkere Bindung zum Wald entwickeln.

Vorsicht vor zu viel des Guten

Dem Bedürfnis, zu helfen, hatte man auch beim Forstamt Chausseehaus Raum geben wollen. Hier waren die Sesterhenns ebenfalls angemeldet, konnten aber wegen Corona nicht aktiv werden. In der Gemarkung Wiesbaden betreut das von Hessen Forst betriebene Forstamt rund 16 Quadratkilometer Staatswald. Gepflanzt wird hier eigentlich möglichst wenig. „Bei großen Sturmereignissen der vergangenen zwanzig Jahre stellt man oft fest, dass man zu viel des Guten getan hat“, erläutert Forstamtsleiter Ralf Bördner. Deshalb wolle man nicht in Hektik verfallen, sondern vor allem dort, wo keine großen Freiflächen entstanden sind, mutig die Naturverjüngung Standort-heimischer Baumarten abwarten. Wenn gepflanzt werde, dann mit einer Mischung aus Baumarten, die zumindest aus heutiger Sicht klimastabil seien, wie Eiche, Douglasie oder stellenweise Lärche.

„Der eigentliche Kern der Nachhaltigkeit ist, den nachfolgenden Generationen Wälder zu hinterlassen, die auch noch Wälder sind“, findet Ralf Bördner. Damit das gelingen kann, hoffe er auf einen kühlen, verregneten Sommer, weil Buchen hinsichtlich ihres Anspruchs an Temperatur und Wasser den Fichten relativ ähnlich seien. Bei Darmstadt gebe es bereits flächig absterbende Buchenbestände. Diese machten im deutschen Wald etwa die Hälfte der Bäume aus, die Fichten ein Viertel. Der Verlust beider Baumarten lasse dem Förster den Angstschweiß auf der Stirn stehen. „Wenn wir einen einigermaßen mit Regen gesegneten Sommer haben, gibt es Hoffnung, dass die Entwicklung bei der Buche nicht eintritt. Für die Fichte ist das kein Rettungsanker“, betont Ralf Bördner: Es könne drei bis vier Jahre dauern, bis eine Borkenkäfer-Population wieder abebbe.

Angehende Försterin reizt Verbindung aus Wirtschaft und Naturschutz

„Wenn man den ganzen Tag nur Bohrmehl sucht, ist das zwar nötig, aber nicht so spannend“, blickt Nora Walbrun auf das vergangene Jahr zurück. Für die Forstinspektor-Anwärterin war es kein normales Ausbildungsjahr im Forstamt Chausseehaus. Oft hat sie unter Fichten nach Bohrmehl Ausschau gehalten, um von Borkenkäfern befallene Bäume zu identifizieren. Nach drei Jahren Studium hat sie aber auch Pflanzungen geplant, Waldpädagogik angeboten und einen Einschlag koordiniert. Dafür hat sie entschieden, welche Bäume eines Waldstücks als Zukunftsbäume in ihrem Wachstum gefördert werden sollen, indem Konkurrenten um das Sonnenlicht entnommen werden. Welche Bäume als Habitat für Tiere wie den Specht stehen bleiben und welche gefällt werden sollen. „Man muss sehen: Was kann ich nachhaltig entnehmen, ohne den Einrichtungsplan zu verletzen, und wie viel Arbeitskapazität brauche ich?“, erklärt Nora Walbrun. Entsprechend des benötigten Personals erfolgt die finanzielle Kalkulation, und es gehört zur praktischen Prüfungsleistung zu entscheiden, für welchen Bedarf das Holz geschnitten werden soll.

Lebenslanges Lernen ist für Waldbrun nur einer der Aspekte, die für sie den Beruf so reizvoll machen. „Was ich schätze, ist die Verbindung aus Wirtschaft und Naturschutz. Ich möchte einen möglichst ökologisch vertretbaren Kompromiss finden, zwischen Bewirtschaftung und Erhalt“, erläutert die 27-jährige. Ihr sei bewusst, dass ihr Beruf in Zukunft wohl anspruchsvoller werde. Aber sie sei jung, sehe die Dinge positiver und könne sich gut vorstellen, in der Verbindung mit der Wissenschaft mit Baumarten wie Roteiche, Esskastanie, Baum-Hasel oder Weißtanne zu experimentieren.

Wächter des Waldes kümmert sich um den Müll anderer

Von Widerständen nicht abhalten lassen will sich auch Florian Früchel, der im Internet als Wächter des Waldes firmiert. Er gehört zu der Gruppe von Menschen, die den Müll anderer einsammeln, wenn sie im Wald unterwegs sind. „Ich liebe die Natur und versuche, meinen Teil dazu beizutragen, sie zu erhalten. Auch wenn es nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist: Ich möchte auch in 30 Jahren noch einen Planeten haben“, erklärt der 28-jährige. Weil er nicht immer nur rund um seinen Wohnort Heusenstamm aktiv sein möchte, fährt er dafür auch nach Wiesbaden. Obwohl gegen ein solches Engagement eigentlich niemand etwas haben kann, wird er dafür angefeindet. „Es gibt Leute, die mich beleidigen, weil sie behaupten, das sei Selbstbeweihräucherung“, berichtet Früchel, der in den Sozialen Medien mehr als 15.000 Follower hat.

Nicht jedermanns Geschmack ist auch das Engagement der Gravity Pilots. Die 270 Mitglieder sind Mountain Biker, die am Schläferskopf eine 2,5 Kilometer lange legale Strecke mit jeweils rund zwei Dutzend Hindernissen und Anliegerkurven geschaffen haben. „Vorher hat es am Schläferskopf allein vier illegale Strecken gegeben. Die sind seit der Eröffnung verschwunden“, berichtet der Vereinsvorsitzende Oliver Strack. Er schätzt, dass das Angebot bislang jährlich mehrere tausend Mal genutzt worden sei und betont, dass es ohne den Wald darum herum bei weitem nicht so attraktiv wäre. „Der Wald ist absolute Entspannung und ein Ruhepol“, betont der Mittdreißiger. Eine Erfahrung, die er und seine Frau nun auch ihrem neugeborenen Sohn vermitteln wollen.

Jäger mit Ökobewusstein

Zu den Nutzergruppen des Waldes, die teils umstritten sind, gehört auch die Jägerschaft. Seit 30 Jahren existiert der Ökologische Jagdverein (ÖJV), der dafür eintritt, dass sich jagdliche Praxis an ihrer Wirkung auf das Ökosystem orientiere. „Wer das Gleichgewicht gefährdet, muss gejagt werden“, fordert Gerd Bauer, Geschäftsführer des ÖJV Hessen. Wer bei der Aufforstung Zäune verhindern wolle, müsse Rot- und Rehwild stärker bejagen. Deshalb setze sich der Verein dafür ein, dass Rehböcke und Schmalrehe nicht erst ab Mai, sondern bereits ab April bejagt werden können. Aufgrund des Klimawandels behindere die Vegetation inzwischen bereits im Mai den Durchblick bei der Jagd.

Reges Leben im Bestattungswald

Kein Schuss fällt dagegen auf den 15 Hektar des städtischen Bestattungswaldes Terra Levis bei Frauenstein. „Das Wild hat sofort reagiert. Die Rehe sind schon nach drei bis vier Jahren nicht so scheu“, berichtet Förster Wolfgang Schmidt. Nicht nur Menschen können hier ihre letzte Ruhe finden. Auch Bäume, die Wind, Wetter oder Schädlingen zum Opfer fallen, bleiben oft auf der Fläche, die rechtlich ein Friedhof ist. Totholz diene Igeln oder Äskulapnattern als Winterquartier. In Stämme, die stehen bleiben können, ohne dass die Sicherheit der Besucherinnen und Besucher gefährdet wird, ziehen Spechte ein, und im Feuchtbiotop findet sich kurz vor Beginn des Frühjahrs Froschlaich.

Der Bestattungswald ist also voller Leben. Verliert man einen der bislang 1.080 Bestattungsbäume, setzt man in möglichst unmittelbarer Nähe ein sechs bis sieben Jahre altes Exemplar der möglichst gleichen Baumart. Wegen der vergangenen beiden trockenen Jahre, stelle man in dem von Buchen dominierten Bereich allerdings zunehmend auf Eiche um. Zum Glück sei der Boden endlich wieder durchfeuchtet. „Bis Januar hatten wir noch Stellen, wo wir auf 70 Zentimetern keinen Tropfen Wasser gefunden haben. Seit Februar ist es jetzt so weit. Das stimmt zuversichtlich“, freut sich Wolfgang Schmidt. Aktuell können die biologisch abbaubaren Urnen auch in 80 Zentimetern Tiefe noch in feuchter Erde bestattet werden.