Von Julia Bröder. Fotos Samira Schulz, privat.
Elin und Ben Kamm haben Wiesbaden gegen einen abgelegenen Ort getauscht. Auf dem Land erfüllen sie sich einen Lebenstraum und ihren Gästen Urlaubsträume. Seit neuestem zu dritt.
Elin knöpft den Mantel zu und zieht die Mütze über ihre Ohren. Zuhause hat es um diese Jahreszeit oft noch an die 15 Grad, an die winterlichen Temperaturen in Wiesbaden, die zum Zeitpunkt unsereres Treffens noch herrschen, muss sich die Wahlportugiesin erst wieder gewöhnen. Seit sie und ihr Mann Ben vor fünf Jahren in das kleine Dörfchen São Luís, etwa 15 Kilometer von der Atlantikküste entfernt, gezogen sind, kommen sie jeden Winter in die Heimat zurück. Diesmal blieben sie länger als sonst, denn im Dezember kam ihr erstes Kind zur Welt. Dass es in Wiesbaden geboren werden sollte, hatte weniger nostalgische Gründe als pragmatische – von São Luís ist das nächste Krankenhaus fast eine Stunde entfernt.
Mehr einheimische Gäste „dank“ Corona
Mit dem Umzug nach Portugal haben sich Ben und Elin einen Traum erfüllt, den viele träumen, aber nur wenige wahr machen: Sie leben in einem alten Bauernhaus mitten auf dem Land. Sie bewirtschaften ein riesiges, teils verwilderten Grundstück, bauen Obst und Gemüse an, halten Hühner und Schafe. 2016 haben die beiden das Gebäude samt Gästehaus komplett saniert. Für rund 150 Euro pro Nacht kann man es mieten. „Bisher kam ein Großteil unserer Gäste aus Deutschland“, berichtet Ben. Im ersten Corona-Jahr war das anders, aufgrund internationaler Reisebeschränkungen buchten viele Einheimische. „Für uns war das eine schöne Erfahrung, denn so kamen wir noch intensiver mit den Menschen hier in Kontakt“, sagt Elin.
Drei Anläufe zum Grundstückskauf
Als sie und Ben nach Portugal kamen, konnten sie kein Portugiesisch. Sie kannten das Land nur aus Urlauben – ihr Grundstück hatten sie, nachdem sie den Entschluss gefasst hatten, auszuwandern, online gefunden. „Es waren in der Anzeige kaum Bilder, aber die Beschreibung hat uns so überzeugt, dass wir hingefahren sind und vor Ort noch einmal positiv überrascht waren“, erinnert sich Ben. Dreimal sollten sie danach noch anreisen, jedes Mal platzte die Vertragsunterzeichnung im letzten Moment, da die beiden zuständigen Anwälte doch noch nachjustieren wollten. Aber für Ben und Elin stand fest: Hier wollen wir leben.
Niemand war überrascht vom Entschluss
War es nicht schwer, Familie und Freunde hinter sich zu lassen? „Niemand war überrascht über unseren Schritt“, lacht Elin. „Außerdem haben wir unsere Zelte nicht von einem Tag auf den anderen abgebrochen und auch noch viel Kontakt in die Heimat. Eigentlich ist die Hälfte des Jahres immer jemand zu Besuch.“
Elin hatte in Wiesbaden als Erzieherin gearbeitet, nach ihrem Zusatzstudium der Sozialen Arbeit stand für sie beruflich ohnehin eine Veränderung an. Ben ist Produktdesigner und konnte für seinen Wiesbadener Arbeitgeber bis zuletzt auf reduzierter Stelle und remote arbeiten. Zum Jahresende hat er gekündigt – wenn die geplanten Holzbungalows auf dem Grundstück bezugsfertig sind, werden Ben und Elin allein von der Vermietung leben können.
Entschleunigt in der Natur
Die beiden Wiesbadener, die seit 19 Jahren ein Paar sind, mögen die Entschleunigung und die Nähe zur Natur. „Mir war schon immer klar, dass ich bei der Arbeit nicht mein Leben lang auf einen Bildschirm schauen möchte“, meint Ben. Er fühlt sich selbstbestimmt und ist zufrieden, wenn er abends sieht, was er mit seinen eigenen Händen geschafft hat. Die ländliche Gegend und die dörfliche Bevölkerungsstruktur ließen ihm und seiner Frau gar keine andere Wahl, als immer besser Portugiesisch zu lernen. „Die genügsame und gastfreundliche Mentalität der Menschen hier hat uns extrem geholfen, anzukommen“, sagt Elin. Als Fremde oder gar Eindringlinge seien sie nie behandelt worden – im Gegenteil.
Beim Schaf schlachten half Dorfbewohner José
Mit José zum Beispiel, einem älteren Mann aus dem Dorf, haben sich die beiden angefreundet. Er unterstützt sie bei landwirtschaftlichen Dingen – mit seiner Hilfe hat Ben sein erstes Schaf geschlachtet.
Ben und Elin sind sich einig: „São Luís ist unser Zuhause – Wiesbaden bleibt unsere Heimat“. Und wissen nun auch: „Wenn man aus der Ferne hierher zurückkommt, schätzt man vieles, das vorher selbstverständlich war.“ Auf Wiesbaden bezogen: Die geographische Lage zwischen Wäldern und Rhein, die schönen Altbauten, die vielen Freunde auf einem Haufen und die Musikkultur. „Die ist hier viel breiter als viele glauben“, betont Ben, der mit seiner Band The Blind Circus früher im Schlachthof geprobt hatte. „Wenn man auf dem Land wohnt und auf Wiesbaden schaut“, fasst er zusammen, „dann sieht man, dass Wiesbaden nicht zu viel Stadt ist, aber auch nicht zu wenig.“
Wiesbadener in der Welt-Steckbrief
Name, Alter, Beruf:
Ben und Elin Kamm, 38/37 Jahre, Produktdesigner und Erzieherin
Bisherige Wohnorte: Wiesbaden
Lieblingsplatz in Wiesbaden: Schlachthof und Rabengrund
Was hat São Luís, das Wiesbaden nicht hat: 300 Tage Sonne, Nähe zum Atlantik, genügsame Menschen
Was hat Wiesbaden, das São Luís nicht hat: Musikkultur, gerade genug Städtisches, ein Verkehrsproblem
Sehr schöner Beitrag, Ben rockte ja als Leadgitarrist mit The blind Circus nicht nur Wiesbaden,
empfehle hierzu den Beitrag: So wohnt Wiesbaden über The blind Circus im Proberaum im Schlachthof mit ausgezeichneten Fotos von der Band.
Hatte dann auch gleich den Märzsensor mit dem Beitrag über Eli und Ben an meinen Sohn Max nach Köln geschickt.
https://de.wikipedia.org/wiki/The_Blind_Circus