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Zwischen Schutzraum und Normalität: Wie ein Tourguide den Krieg in Israel erlebt / Gastbeitrag aus Jerusalem

12. Oktober 2023 in Jerusalem. Der Platz vor der Klagemauer und auch die Klagemauer selbst, sonst jederzeit voller Menschen, fast komplett leer. „Gespenstisch“, sagt unser Gastautor. Foto: Ofer Moghadam

Text und Fotos: Ofer Moghadam (Jerusalem).

Als Reiseleiter und Tourguide kennt der gebürtige Frankfurter Ofer Moghadam Land und Leute in Israel, wo er seit vielen Jahren lebt, in- und auswendig. Durch freundschaftliche Bande ist der 54-Jährige auch eng mit Wiesbaden verbunden und regelmäßig in der Stadt zu Besuch. In einem sensor-Gastbeitrag berichtet er „tagesaktuell“ – mit zuletzt am 12. Oktober aktualisierten Eindrücken und auch an diesem Tag gemachten Fotos  – direkt aus Jerusalem über die Lage im Land und über seine persönliche Situation. Zur Wiesbadener „Stand with Israel“-Solidaritätskundgebung heute um 18 Uhr auf dem Schlossplatz vor dem Rathaus rufen unterschiedliche Organisationen auf.

*Wie ist die Stimmung im Land?*

Das Mamilla Einkaufszentrum, außerhalb des Jaffators am Rande der Jerusalemer Altstadt, menschenleer und alle Geschäfte geschlossen.

(Stand 12. Oktober) Die Stimmung im Land ist sehr gedrückt. Leute kleben am Fernseher und am Radio, und sie haben sich Apps heruntergeladen, die vor Raketenangriffen in ihren Gegenden warnen.

Grenzschutz-Polizistinnen in der Stadtmitte neben einem aufgrund der Lage geschlossenen Kaufhaus.
„Im arabischen Basar der Jerusalemer Altstadt wurden heute ausnahmsweise keine Touristen übers Ohr gehauen – weil sie nicht da waren“, schreibt unser Gastautor zu seiner Aufnahme vom 12. Oktober.

Heute bin ich in Jerusalem herumgelaufen und habe eine mehr als halbleere Stadt gesehen. Viele Geschäfte waren geschlossen, was mich sehr stark an die Anfangszeit der Corona-Pandemie erinnerte.

Auf den relativ leeren Straßen Jerusalems habe ich verhältnismäßig viele Polizisten gesehen, die an den großen Kreuzungen, an Bushaltestellen und am Eingang zum Machane-Yehuda-Markt standen. Ebenso sah ich recht viele Soldaten in ihren 30er und 40ern: Reservisten auf dem Weg zu ihrer Einheit.

Im Supermarkt in dem Vorort von Jerusalem, in dem unser Autor lebt – „Milchprodukte waren sehr begehrt bei den Leuten“.
Das Klopapier im Supermarkt war fast ganz ausverkauft, ebenso Mineralwasser – das Bild erinnert stark an die Coronazeit.

Der Armeesprecher hatte im Fernsehen die Bevölkerung gebeten, sich mit genug Wasser und Nahrung zu Hause einzudecken – für den Fall des Falles. Gestern Abend schon waren dann viele Regale im Supermarkt bei mir um die Ecke halb leergekauft.

*Wie geht es mir?*

Mir und meiner Familie geht es soweit gut und wir sind unversehrt. Ich hatte einen wundervollen Monat im Ausland verbracht, während dem ich durch Slowenien, Kroatien und Italien gereist bin – und auf einer wunderbaren Donau-Kreuzfahrt von Budapest über Wien bis nach Bayern. Letzten Freitag – 6.10. – bin ich aus Deutschland nach Israel zurückgeflogen, da ich am Sonntag – 8.10. – meine nächste Gruppe hätte führen sollen. Leider wurde diese Gruppe – wie auch zwei weitere Gruppen – sofort nach Ausbruch dieses Konflikts storniert.

Ich will mich auch bei all denen bedanken, die mir eine Unterkunft angeboten haben, falls ich nicht in Israel bleiben will. Aber die Lage ist nicht so schlimm, dass ich von hier flüchten will, und außerdem habe ich hier Eltern und Familie, denen ich zur Seite stehen will.

*Wie hat alles angefangen?*

In den frühen Morgenstunden des Samstags (7. Oktober 2023) erlebte Israel einen gut geplanten und noch besser ausgeführten Angriff durch die palästinensische Terrororganisation Hamas, bei dem ca. 900 Terroristen auf dem Land-, Luft- und Seeweg in das Staatsgebiet Israels eingedrungen waren. Diese anfängliche Invasion wurde von einem Raketenhagel begleitet, bei dem über 3000 Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert wurden.

Das einzige Ziel der Terroristen war es, so viele Israelis wie möglich zu töten – egal ob Soldaten oder Zivilisten. Diese Zahl der Toten ist einfach unfassbar hoch, und deswegen wird dieser schwarze Tag in unserer Geschichte schon jetzt als „Israels 11. September“ bezeichnet.

Besonders in den sozialen Medien habe ich erschütternde Bilder und Videos des barbarischen Verhaltens der Terroristen gesehen, die mich wirklich sprachlos gemacht haben. Dort konnte man Hamas-Terroristen sehen, die nach Herzenslust töteten, schossen, brannten, plünderten und raubten. Das Schlimmste war aber, dass es den Terroristen gelungen war, weit über 100 Israelis in den Gazastreifen zu entführen. Angesichts der barbarischen Natur dieser Terroristen will ich mir nicht einmal vorstellen, was mit diesen armen Geiseln – unter denen sich Kinder, Jugendliche, alte Leute und Soldaten befinden – nun passieren kann.

Update Tag 5 des Krieges, der von der israelischen Armee Operation „Eiserne Schwerter“ getauft wurde. – 12. Oktober: Die Grenze zu Gaza ist wieder gesichert und die meisten Terroristen, die sich noch in Israel befunden haben, sind jetzt getötet. Erst jetzt versteht man das Ausmaß der Barbarei.  Die Zahl der Toten ist auf über 1200 gestiegen. Bilder und Clips kommen zum Vorschein, in denen geköpfte Soldaten, ermordete Kinder und verbrannte Frauen gesehen werden können. Ich selbst habe mir einige dieser Bilder auf dem offiziellen Telegram-Kanal der Hamas angeschaut, wo sie stolz gepostet werden – mir ist dabei richtig schlecht geworden.

*Wie konnte so etwas passieren?*

Israel hat diese Situation einfach verschlafen! Viele Israelis fragen sich jetzt ganz offen: Wo war die Armee? Warum hat es so lange gedauert, bis eine Reaktion der Armee kam? Wieso haben Israels Sicherheitskräfte und Geheimdienste diese Gefahr nicht kommen sehen? Es wird die Aufgabe der Historiker und der Untersuchungsausschüsse (die als Reaktion auf dieses Desaster sicherlich bald gebildet werden) sein, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Meiner Meinung nach war Israel einfach nachlässig und sorglos in Bezug auf seine Sicherheit geworden. Aber noch schlimmer ist, dass Israel zur Zeit in einer politischen Identitätskrise steckt, welche tiefe Spaltungen innerhalb unserer Gesellschaft aufgerissen hat. Ich bin ziemlich sicher, dass unsere Feinde diesen politischen Zustand mit berücksichtigt haben, als sie ihren Angriff auf Israel geplant haben.

*Wie sieht der Alltag jetzt aus?*

Der Machane Yehuda-Früchte- und Gemüsemarkt war ebenfalls verhältnismäßig leer.
Jaffa Straße in Jerusalem – die Hauptstraße durch das Stadtzentrum ist beinahe ausgestorben.

Zur Zeit besteht für mich keine wirkliche Gefahr, dass irgendwelche Terroristen bei mir an die Tür klopfen, da ich in einem Vorort Jerusalems wohne, der ziemlich weit vom Gazastreifen entfernt ist. Auch im Süden herrscht diesbezüglich keine wirkliche Gefahr mehr. Der Sprecher der israelischen Armee hatte erklärt, dass die meisten Terroristen, die sich noch auf israelischem Boden befinden, getötet wurden und die Grenze nun gesichert ist.

Die einzige Gefahr, der ich hier in der Region um Jerusalem ausgesetzt bin, sind die Hamas-Raketen. Bisher durfte ich mehrere Sirenenalarme miterleben, bei denen ich den Schutzraum aufsuchen musste, um dort einige Minuten zu verbringen. Schon zweimal sind diese Raketen in meiner unmittelbaren Nähe eingeschlagen. Dabei wurden Häuser beschädigt und deren Bewohner verletzt. Mehrmals habe ich auch die recht lauten Detonationen der Raketeneinschläge gehört, während ich in meinem Schutzraum saß.

*Wo bleibt die Regierung?*

Viele Israelis fragen sich laut, wo unsere Regierung bleibt. Bisher haben wir kaum irgendwelche offiziellen Antworten und Anweisungen durch unsere politische Führung erhalten. Es ist die Armee, die uns – unabhängig von der Regierung – mit den nötigen Informationen versorgt und uns dabei hilft, ruhig zu bleiben und zu verstehen, dass die Situation unter Kontrolle ist.

Ebenso bin ich stark davon enttäuscht, dass unsere Politiker sich so viel Zeit nehmen, um eine Einheitsregierung zu bilden, die in dieser Stunde des nationalen Notstands dringend nötig ist. Anstelle einer schnellen Entscheidung finden langwierige politische Verhandlungen statt. Ich bin mir sicher (und ich hoffe), dass unsere jetzige Regierung nach diesem Krieg den politischen Preis für ihr Verhalten bezahlen wird.

*Wie reagiert die israelische Armee?*

Nach dem anfänglichen Chaos hat die israelische Armee die Situation nun endlich im Griff. Derzeit bombardiert die Luftwaffe bekannte Hamas-Positionen im Gazastreifen. Dennoch gelingt es den Hamas-Terroristen immer wieder, Raketen Richtung Israel zu schicken. Noch heute Morgen wurde im Süden Israels der Sirenenalarm mehrmals gehört.

Bisher hat die israelische Armee etwa 300.000 Reservisten mobilisiert. Diese Zahl wird sich in den kommenden Tagen verdoppeln. Dies ist in der Geschichte des Landes die größte Mobilisierung jemals. Dies bedeutet, dass Israel (welches der Hamas offiziell den Krieg erklärt hat) sehr wahrscheinlich eine Bodenoffensive in den Gazastreifen plant und vorbereitet. Ziel dieser Bodenoffensive wird die totale Vernichtung der Hamas sein. Das Ziel wird sein, die Führung der terroristischen Hamas-Organisation zu beseitigen, um eine lebenswerte Situation für die Bewohner des Südens Israels zu schaffen.

Die wichtigste Frage ist jetzt, ob der Krieg gegen die Hamas die gesamte Region in einen größeren Konflikt verwickeln wird. Diese Eskalationsgefahr ist ist real und wird dadurch verdeutlicht, dass die USA nun den größten Flugzeugträger ihrer Flotte an das östliche Mittelmeer entsendet haben. Ich hoffe auch, dass der Iran sich nicht dazu entscheidet, in diesem Konflikt mitzumischen – sei es direkt oder durch die Hisbollah im Libanon.

12. Oktober: An der Nordgrenze Israels fangen jetzt auch Kampfhandlungen an. Die Hisbollah im Südlibanon hat sich kleinere Gefechte mit der israelischen Armee geleistet und auch einige Raketen auf Israel abgefeuert. Sollte sich die Hisbollah in diesen Konflikt mit einmischen, wird eine völlig neuer Level erreicht werden, da diese Terrororganisation zehnmal stärker ist als die Hamas.

Mein Wunsch ist, dass dieser Krieg ein schnellstmögliches Ende findet und dass er auf beiden Seiten so wenig Menschenleben wie möglich fordert.

Ebenso wünsche ich mir, dass der israelische Tourismus, der jetzt erneut zusammengebrochen ist, bald wieder zurückkehrt. Diejenigen von euch, die Israel mit mir bereist haben, wissen, wie wunderschön dieses Land ist und wie sehr ich meine Arbeit als Tour Guide liebe.

Shalom – Friede – Salaam uns Allen!

Über den Autor: Ofer Moghadam ist in Frankfurt am Main als Sohn jüdisch-israelischer Eltern, die selbst aus dem Iran stammen, geboren und aufgewachsen, sein Abitur machte er in Pforzheim. Nachdem er sein Bachelor-Studium im Fach Internationale Beziehungen an der Hebräischen Universität von Jerusalem erfolgreich abgeschlossen hatte, lebte Ofer während der nächsten 15 Jahre in New York und arbeitete in den USA als selbständiger Schmuck-Großhändler.

„Letztendlich erkannte ich, dass Geld nicht das Wichtigste im Leben ist und entschloss mich somit, meinem Herzen zu folgen und in das Land zurückzukehren, in dem ich mich doch am wohlsten fühle – Israel“, sagt Ofer Moghadam, der sich nach einer mehrjährigen Ausbildung als Tourguide und Reiseleister in Israel selbstständig gemacht hat und sowohl Privatpersonen wie Reise- und Pilgergruppen und auch VIPs durch das Land führt.

Oder auch Fernsehteams – kürzlich war Ofer Moghadam Protagonist in der Serie „WDR Bustour“ – nachzuschauen hier und hier.

Fotografische Eindrücke aus Jerusalem – aufgenommen von Ofer Moghadam am 12. Oktober 2023:

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