Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.
Was macht das Stadtarchiv Wiesbaden? Und für wen?
Das Stadtarchiv ist auf der einen Seite Kulturort mit dem Auftrag, Menschen mit der Stadtgeschichte Wiesbadens in Berührung zu bringen, auch über Ausstellungen oder eine eigene Schriftenreihe. Wir versuchen sehr stark, Informationen über das Internet bereitzustellen, verantworten etwa das elektronische Stadtlexikon. Wir sind aber auch Teil der Stadtverwaltung, als Dienstleister rund um das Thema Aktenführung, in Papierform wie auch in elektronischer Form. Erhaltene Unterlagen stellen wir, aufbereitet und wissenschaftlich erschlossen, allen Nutzer:innen zur Verfügung.
Der Blick eines Archivs richtet sich in erster Linie in die Vergangenheit. Was kann Ihre Einrichtung zur Zukunft der Stadt beitragen?
Wir sehen das Stadtarchiv als ein Scharnier zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Geschichte wiederholt sich zwar nicht. Aber wenn man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann man Muster, Situationen, Verhaltensweisen, Strukturen erkennen. Wenn man die begriffen hat, hilft es dabei, Herausforderungen der Gegenwart besser zu verstehen und dann auch bestenfalls richtige Entscheidungen zu treffen – im Kleinen bei der eigenen Familiengeschichte wie im größeren Rahmen.
Haben Sie seit Ihrem Amtsantritt im Mai 2020 schon erkundet, welche Muster die Stadt Wiesbaden prägen?
Wiesbaden ist einerseits eine relativ junge Stadt, wurde in hundert Jahren von einem größeren Dorf mit ein paar Tausend Einwohnern zu einer Großstadt. Das merkt man an vielen Stellen noch. Die große mittelalterliche Tradition fehlt hier. Wiesbaden ist sehr stark geprägt durch das Kurwesen im 19. Jahrhundert, durch das Glücksspiel und die Attraktivität als Erholungsort. Gleichzeitig musste Wiesbaden sich dann im 19. Jahrhundert neu erfinden. Dieser Prozess des Neuerfindens ist noch nicht abgeschlossen, das macht es sehr spannend. Was macht eigentlich das typisch Wiesbadenerische aus? Das wird immer noch ausgehandelt. Viele Aspekte sind noch gar nicht intensiver untersucht: die Geschichte der Frauen in Wiesbaden etwa oder auch die Migrationsgeschichte.
Wie stehen Sie zur Umbenennung von Straßen, die Namen mit historisch und antisemitisch vorbelasteter Personen tragen?
Wir haben die Geschäftsführung für die von der Stadtverordnetenversammlung angeregte Fachkommission, die aus unabhängigen Historiker:innen besteht, bei uns am Haus. Unsere Aufgabe ist es, historische Expertise bereitzustellen. Ob eine Straße umbenannt wird, das ist wiederum eine Frage, die sehr stark mit der Gegenwart zu tun hat und mit der Zukunft. Jede Generation hat das Recht, für sich zu entscheiden, welche Personen sie im öffentlichen Raum herausstellen möchte: Entspricht das, was wir mit der Person verbinden, den Eigenschaften, die wir heute als erstrebenswert empfinden? Das kann sich im Verlauf der Zeiten ändern. Da kann es nicht Aufgabe von wenigen Historikern sein zu sagen, der ist ein Vorbild und der ist keins. Das muss die Stadtgesellschaft selbst aushandeln.
Was ist der größte Schatz des Stadtarchivs?
Seine Mitarbeiter:innen! Das sind Menschen, die hochprofessionell sind, die aber auch ein ganz starkes Bedürfnis haben, ihr Wissen zu teilen, ohne gegenüber Benutzer:innen belehrend zu sein oder Meinungen aufzudrängen. Informationen als Einladung bereitzustellen – das ist der Spirit des Hauses. Natürlich haben wir auch bedeutende Unterlagen. Ich tue mich schwer damit, abzuwägen, ob eine mittelalterliche Urkunde mehr oder weniger wert ist als die Kartei, die in der jüdischen Bevölkerung angelegt werden musste, um die in Wiesbaden lebenden Juden zu erfassen. Wir Archivare betrachten jedes Stück als singulär.
MENSCH
Ihr Lebensweg führte über viele, auch internationale Stationen. Wie kam das?
Ich bin einerseits ein Kind der deutsch-belgischen Grenzregion, zum anderen ein Kind von Expats. Mein Vater war Ingenieur bei Bayer und aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit immer für vier, fünf Jahre im Ausland. So bin ich, ein bisschen wie Diplomatenkinder, rumgekommen. Zum Studium bin ich bewusst in meine Heimatstadt Aachen gegangen. Das hat mein Bruder genauso gemacht. Das ist vielleicht ein Bedürfnis gewesen nach den vielen Umzügen in der Kindheit.
Haben die vielen Ortswechsel Ihnen mehr gegeben oder genommen?
Wenn man mit 40 drauf schaut, überwiegt das Positive. Es hatte immer auch viel mit Abschied nehmen zu tun, mit neu auf Dinge einlassen und neue Wurzeln schlagen. Als Kind und Jugendlicher ist das alles andere als einfach. Heute würde ich aber sagen: Es hat mir ein bisschen die Angst davor genommen, Neues anzupacken, sich auch immer mal wieder zu hinterfragen – ist das, was ich mache, noch das Richtige, bin ich zufrieden? Also eine gewisse Flexibilität und wenig Angst vor Neuem.
Tauchen sie auch ein in das Leben der Stadt?
Ja, sehr. Das genießen wir auch. Wir sind beide sehr kulturinteressiert, gehen gerne ins Theater oder ins Konzert. Aber auch einfach die Stadt fußläufig vor der Tür zu haben und einzutauchen ins städtische Leben, gefällt uns Beiden sehr gut. Auch in einer Stadt dieser Größe. Sehr reizvoll an Wiesbaden finde ich: Wenn man mal wirklich eine Metropole haben will, ist es nicht weit nach Frankfurt. Und auf der anderen Seite mit Rheingau und Taunus ist man innerhalb einer halben Stunde komplett raus. Dieses Gesamtpaket ist schon toll. Ich finde es auch toll, auf meinem Arbeitsweg – ich laufe zu Fuß zum Platz der Deutschen Einheit und nehme von dort den Bus – durch verschiedene Viertel der Stadt zu gehen. Das gehört auch zu Wiesbaden – das wird manchmal vergessen, wenn man innerhalb des historischen Fünfecks wohnt: dass gerade die Wechsel auch mal über die Viertel hinaus spannend sind.
Ihr Lebenslauf wirkt etwas langweilig – Auszeichnungen, Bestnoten, Summa Cum Laude, wohin man schaut. Sind Sie ein Streber?
Nein. Ich wähle nur sehr genau aus, was ich in meinen Lebenslauf schreibe (schmunzelt). Wenn ich etwas gerne mache, bin ich auch gerne gut darin. Es gibt aber auch Dinge, die ich entweder nicht gut kann oder nicht gerne mache. Ich bin zum Beispiel furchtbar unmusikalisch. Meine Frau lernt gerade Gitarre. Mit mir würde es ein Gitarrenlehrer keine Stunde aushalten. Auch Fremdsprachen waren immer schwer für mich. Ich spreche ganz gut Französisch, Englisch ist auch passabel. Aber Vokabeln lernen und dergleichen, damit haben sie mich auch immer jagen können.