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Das große 2×5-Interview: Susanne Lewalter, Leiterin Literaturhaus Wiesbaden, 48 Jahre, 1 Sohn

Interview: Dirk Fellinghauer. Foto: Arne Landwehr.

Welche Bedeutung hat das Literaturhaus für die und in der Stadt Wiesbaden?

Ich wünsche mir, dass es ein Ort ist, in dem viel über unsere Gesellschaft diskutiert wird – ein Ort der Debatte, das finde ich auch gerade in einer Stadt wichtig, die keine geisteswissenschaftlichen Fakultäten hat. Literatur hat oft auch ein seismographisches Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen. Es soll auch ein Ort sein, an dem Menschen an die Literatur herangeführt werden. Die Angebote für Kinder und Jugendliche haben wir ausgebaut. Nachdem wir das Café zum Glück wiedereröffnet haben, ist es einfach ein Ort, an dem sich Menschen treffen, miteinander ins Gespräch kommen. Ein Ort, der sinnlich ist, aber auch intellektuelle Auseinandersetzung mit sich bringt.

Wie gestalten Sie das Programm?

Ein Literaturhaus muss ganz vieles leisten – die regionale Szene einbinden, gleichzeitig sind wir im Netzwerk der Literaturhäuser und laden internationale Autoren ein. Das ist ein Spagat über unterschiedliche Gebiete, die man abdecken muss. Wir setzen thematische Schwerpunkte, aktuell etwa Norwegen als Gastland der Buchmesse oder das Jugendstiljahr, wo wir die Brücke in die Gegenwart schlagen. Und es geht darum, aus dem Büchermarkt, den kaum noch jemand überblicken kann, Bücher herauszusuchen, Leseanreize zu geben. Wir haben eine Debütreihe, mit der wir auch junge Autoren fördern möchten. Insgesamt achten wir auf eine gute Mischung, die eine breite Zielgruppe anspricht.

Gelingt es Ihnen, eine breite Zielgruppe anzulocken?

Es ist schon schwierig, jüngere Menschen anzusprechen – damit meine ich jetzt unter 40-Jährige. Wir denken gerade darüber nach, was wir da konzeptionell machen können. Ich vermute fast, es liegt ein wenig an der schönen alten Villa Clementine, dass die zu bürgerlich daherkommt und für junge Leute nicht lässig und cool genug ist. Die Atmosphäre von einer Kulturinstitution spielt eine große Rolle. Wir sind am überlegen, ob wir ab und zu auch mal etwas an völlig anderen Orten machen. Ansonsten haben wir aber ein gutes Stammpublikum.

Die Digitalisierung bestimmt immer mehr unser Leben und damit auch unser Lesen. Wie reagieren Sie darauf?

Ich glaube nicht, dass die digitalen Medien komplett das Buch verdrängen werden. Das Leseverhalten ändert sich stark. Menschen sind nicht mehr so sehr bereit, längere Texte zu lesen. Alles muss leichter konsumierbar sein, kürzer, knackiger. Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass durch die Beschleunigung, die die Digitalisierung im Alltag mit sich bringt, das Buch wieder einen Gegenpol bilden kann – sich mal wieder versenken in etwas und zur Ruhe kommen. Ich finde auch, mit E-Books könnte man noch viel mehr machen – es noch intermedialer gestalten. Das kann auch eine Chance sein, Leute wieder für das Geschichten erzählen zu begeistern.

Das nächste große Ereignis sind die Wiesbadener  Literaturtage, die bis zum 21. September laufen – was bringen diese in diesem Jahr in unsere Stadt?

Das Schöne an den Literaturtagen ist, dass sie die Handschrift der Kuratoren tragen. Eva Menasse ist in diesem Jahr eine sehr politisch interessierte Autorin. Das merkt man auch dem Programm an. Bei dem Dokumentarfilmabend zu Michael Glawogger mit Sven Regener, der eine Einführung hielt, ging es um das Thema Arbeit, auch um Kapitalismuskritik. Im Museum gibt es den Abend „Wie frei ist die Kunst?“, da haben wir mit der Erdogan-Statue bei der Wiesbaden Biennale selbst Erfahrungen gesammelt. Eva Menasse hat auch eine hohe Affinität zu Musik und schafft schöne Verbindungen. Senta Berger wird kommen und zum Abschluss mit Eva Menasse gemeinsam einen Abend zu Heimito von Doderer gestalten – sehr schön, sehr schräg, sehr österreichisch. Wie er den Menschen in seinen Abgründen porträtiert hat, das macht großen Spaß.

MENSCH

Was macht ein gutes Buch für Sie aus?

Gut ist ein Buch, wenn ich es nicht mehr aus der Hand legen will. Wenn ich in einen Lesesog gerate, weil mich die Geschichte so fesselt, wo ich mich persönlich wiederfinden kann. Und natürlich, wenn es einfach gut geschrieben ist und auch Spaß macht, wenn es spannend ist und auch unerwartete Wendungen hat. Mit dem Kopf kann man die Qualität eines Buches beurteilen, aber die Faszination entsteht doch über das Emotionale.

Welches Buch hat Ihr Leben verändert?

Das eine gibt es da nicht. Ein Buch hat mich ganz eng an die Literatur herangeführt als Jugendliche: „Der fremde Freund“ von Christoph Hein. Das habe ich drei oder vier Mal gelesen, da bin ich angefixt worden. Es geht um die Frage, woraus sich eine Identität oder Persönlichkeit zusammensetzt, was der Eigenteil ist und was Fremdwahrnehmung, die auf einen wirkt, was eigene Charaktereigenschaften ausmachen und was die Gesellschaft. Als Christoph Hein dann zu einer Lesung hier ins Literaturhaus kam, war das ein besonderer Moment. Da hatte ich wirklich Herzklopfen, als ich ihm die Hand geschüttelt habe.

Damit haben Sie wohl schon die nächste Frage beantwortet: Welche Veranstaltung war Ihr Highlight nicht als Chefin des Hauses, sondern ganz persönlich als Literaturfreundin?

Das waren eigentlich die Literaturtage 2011 mit Roger Willemsen. Es ist wirklich traurig, dass er so früh gestorben ist, ein so faszinierender Mensch. Ihm zuzuschauen, wie er über Literatur sprechen kann, und das ganz unterschiedlich – lustig, ernsthaft, in Verbindung mit Musik, melancholisch – und wie er es wirklich schaffte, Menschen in seinen Bann zu schlagen. Was ich nie vergessen werde: Als er vor etwa 300 Schülern im Ministerium für Wissenschaft und Kunst sprach. Normalerweise machen Schüler bei solchen Veranstaltungen alles Mögliche, aber da hätte man wirklich eine Stecknadel fallen hören können. Diese Woche mit ihm war ein Geschenk für die Stadt, die Menschen haben ihn geliebt, und es war auch für mich persönlich sehr beeindruckend.

Haben Sie als Profi einen Tipp, wie man es schafft, möglichst viele Bücher zu lesen?

Ich weiß gar nicht, ob das ein Ziel sein sollte. Ich finde es manchmal schade, dass ich viele Bücher erst mal nur professionell lesen muss, um sie zu sichten für das Programm. Ich merke, das flüchtige Lesen ist nicht schön. Man vergisst es total schnell wieder. Als Tipp kann man nur sagen: Nicht auf Masse setzen, sondern mehr auf Muße. Und sich Zeit nehmen. Es geht ja nicht nur darum, den Plot zu erfassen. Literatur ist mehr. Man muss langsam lesen. Wenn man vieles lesen will, sollte man sich vorher überlegen, welches Buch man lesen will und welches nicht. Dann kann man es sich ja nicht leisten, blöde Bücher zu lesen.

Sie waren ursprünglich Journalistin. Schreiben Sie auch selbst literarisch?

Ich habe ein paar Sachen in der Schublade, Gedichte und Kurzgeschichten. Es ist aber nicht so, dass ich mich ständig hinsetzen und schreiben würde. Mir hat das journalistische Schreiben Spaß gemacht. Programmtexte oder Einführungen schreibe ich nach wie vor. Das Literarische ist etwas komplett anderes. Da habe ich auch zu wenig Zeit dafür. Ich denke nie daran, so etwas zu veröffentlichen. Das ist nur für mich. Ich habe auch schon einfach Tagebuch geschrieben. Ich kann einfach schreibend gut Dinge verarbeiten, ohne dass ich daraus einen literarischen Anspruch ableite, das ist ganz persönlich.