Wer hätte das gedacht? So wirklich wohl so gut wie niemand – nicht mal der Wahlsieger selbst: Der neue Oberbürgermeister von Wiesbaden heißt Sven Gerich. Knapper und spannender ging es auch kaum: 50,8 % der abgegebenen Stimmen gingen in der OB-Stichwahl am Sonntag an den bis vor wenigen Wochen noch so gut wie unbekannten 38-jährigen Herausforderer von der SPD. Mit einem niederschmetternden Ergebnis von 49,2 % wurde der eigentlich als populär geltende CDU-Amtsinhaber Dr. Helmut Müller nach sechs Jahren im Amt abgewählt. Bei Gerich und seinen Anhängern regierte am langen Wahlabend der Freudentaumel, im Müller-Lager Enttäuschung und Fassungslosigkeit. sensor war im Rathaus und fieberte mit.
Um kurz nach 18 Uhr hatte sich erst eine Handvoll Medienvertreter und anderer Interessierter im Rathaus-Festsaal versammelt und wartete darauf, dass es auf der Großbildleindwand „losging“, dass also die wahlbezirksweise Bekanntgabe der Wahlergebnisse begann. Als um 18:14 Uhr die ersten Ergebnisse anzeigt wurden, hatte Gerich die Nase vorn: 53,8 zu 46,2 Prozent, bei 26 von 239 Wahlbezirken. Das musste also noch nichts heißen, tat es aber, wie sich gut eine Stunde später herausstellen sollte. Wann immer der Stand der Dinge aktualisiert wurde, hatte Gerich die Nase vorn – mal mehr, mal weniger deutlich.
Jubel, Stille, Jubel
Im wie schon zum ersten Wahlgang in clubbiges Rotlicht getauchten und noch mehr als zum ersten Wahlgang restlos überfüllten SPD-Raum im 3. Stock des Rathauses, im dem auch die „Wahlempfehler“ von den Grünen willkommen und präsent waren, gesellte sich schon recht früh Jubelstimmung zu den Endlosschleifen-Klängen des Vangelis-Spannungssongs „Conquest of Paradise“. Immer mehr Bezirke waren ausgezählt, immer gefestigter schien der Vorsprung, immer sicherer die Sensation. Ryhtmisches Klatschen und „Wir wollen Gerich sehen“-Sprechchöre befeuerten das Geschehen. Doch plötzlich rutschte das Ergebnis von deutlich über 51 Prozent ab, „nur“ noch 50,8% Prozent standen auf der Leinwand, auf die alle starrten. Und drei Wahlbezirke fehlten noch. Und ließen, anders als die im Minutentakt eintroffenen Ergebnisse der 236 Wahlbezirke davor, schier endlos lange auf sich warten. Der Jubel verstummte, es wurde stiller und stiller, es würde doch nicht doch nicht reichen? Dann endlich Erlösung: Wahlbezirk 237 – weiterhin 50,8. Rückkehr des Jubels. Wahlbezirk 238: immer noch 50,8. Und dann: tumultartige Szenen, Kampf der Kamerateams, Hektik und: Er! Sven Gerich, der künftige Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Wiesbaden, zog mit seinem Gefolge ein, und nun gab es kein Halten mehr, dafür Emotionen und Euphorie pur: Lachen, Tränen, Schreien, Klatschen, Singen, Johlen, Umarmungen.
Schlachthof, Sauna, Svensation
Der Sieger, der in der Nacht zum Wahltag noch bis in die Puppen im Schlachthof getanzt hatte (und dort von vielen der jungen Partygänger als „der von den Plakaten“ erkannt wurde) und sich am Sonntag nach einem ausgedehnten Frühstück mit seinem Mann Helge bei einem Saunabesuch entspannt hatte, stieg auf den Tisch, schaute fassungslos auf die Menge und sagte als erstes: „Ich bin sprachlos!“. Schnell fand er aber doch wieder Worte, Worte des Dankes natürlich, aber auch inhaltliche mit dem Hinweis darauf, dass die Stadt eben kein Konzern sei. Abrupt unterbrochen wurde die ausgelassene Jubelarie, das lautstarke Feiern der „Svensation“, als Wahlverlierer Helmut Müller den Saal betrat und, begleitet vom CDU-Kreisvorsitzenden Horst Klee, Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und von plötzlich fast gespenstischer Stille im Raum, sich den für ihn bitteren Weg durch die Genossenmassen bahnte, um Sven Gerich zu gratulieren. Auf dem Weg zurück durch den langen Rathausflur in den CDU-Raum schüttelte er die Hände seiner Anhänger, die ihm Dank, Trost und gute Wünsche mit auf den Weg gaben. Sieger und Besiegter trafen wenige Minuten später unten im Festsaal aufeinander, wo die Hessenschau die Beiden, die sich vor laufenden Kameras jetzt keines Blickes würdigten, live zum Wahlausgang interviewte. Die Frage der Moderatorin nach Müllers Slogan „Weil er´s kann“ kommentierte dieser mit „Nicht mehr“. Ob und was Gerich kann, kann er nun beweisen. Im Hessenschau-Interview versprach er „ich werde umsetzen, was ich gesagt habe“ und meint damit auch einen „Schwerpunkt hin zum Sozialen“.
Rathaus, Bäckerbrunnen, Park Café
Der Schwerpunkt des Abends und einer langen Nacht lag für Gerich und seine Genossen, Gefährten und Anhänger erst mal auf, na was wohl: Feiern! Die Vorräte an Getränken aller Art, die zu Beginn des Abends unerschöpflich erschienen, waren bald aufgebraucht. So wurde diesmal nicht wie noch vor zwei Wochen bis in die Nacht hinein im Rathaus gefeiert, sondern die SPD-Partyzentrale kurzerhand in die Altstadt verlegt. Im Bäckerbrunnen kam das Team kaum nach mit dem Kölsch-Zapfen. „Mittendrin statt über allem“ und irgendwie auf wundersame Weise überall und bei allen gleichzeitig: der künftige OB der Landeshauptstadt Wiesbaden, der sich – nach einer weiteren Station im Park Café, wo Geschäftsführer Kaan Gökalp mit ihm mit Champagner anstieß – via facebook um 3 Uhr morgens mit der Statusmeldung „zuhause gelandet. Wahnsinn…, immer noch wie im Traum…! Gute n8…!“ in die Nacht verabschiedete und sich zwölf Stunden später am Montagnachmittag auf seiner vor Glückwünschen überquellenden Pinnwand mit den Worten zurückmeldete: „Ich danke Ihnen und Euch für all die lieben Glückwünsche! Ich bin immer noch überwältigt.“
Erst mal in den Urlaub – Amtsantritt am 1. Juli
Mit einer Mischung aus Tatendrang und Erholungsbedürfnis wandte er sich zudem an die Presse: „Nun beginnt die eigentliche Arbeit.“ Bis zur Amtsantritt am 1. Juli sei zwar noch etwas Zeit, in Ruhe alle Dinge inhaltlich und organisatorisch zu strukturieren, danach soll es aber direkt losgehen: „Denn ich habe versprochen, mich für eine menschliche Stadt einzusetzen. Das will ich auch halten und bereits vom ersten Tag an neue Akzente setzten.“ Zunächst stehe jedoch noch ein kleiner Urlaub auf dem Programm: „Jetzt freue ich mich aber erst einmal und werde die nächsten Tage genießen. Danach werde ich einige Tage mit meinem Mann wegfahren und mich neu sortieren. Danach geht es frisch gestärkt an die Arbeit“. Wie sensor in Erfahrung brachte, wird Gerich vom 17. bis 21. März in den österreichischen Bergen Kraft tanken. Auch sein unterlegener Kontrahent wird sich in den nächsten Tagen einige Gedanken machen, auf die er eigentlich nicht vorbereitet war: „Jetzt muss ich mal sortieren und mir überlegen, was ich mache“, sagte der abgewählte OB am Sonntagabend mit Blick auf seine persönliche Zukunft, nach dem ihm diese Niederlage wider Erwarten „zugestoßen“ sei. (Dirk Fellinghauer)
Hier geht es zum sensor-Fotoalbum vom Wahlabend