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“Diese Scheißzeit ist unsere Chance”: Ulrich Tukur über KI und Nostalgie / RMF-Konzert im Kurhaus

Von Olaf Neumann. Foto Elena Zaucke.

Ulrich Tukur ist ein Allroundtalent. Für Rollen in Filmen oder im Wiesbaden-„Tatort“ wurde er mit den bedeutendsten Schauspielpreisen ausgezeichnet, doch für ihn selbst hat die Musik Vorrang. Mit seiner Band, den Rhythmus Boys, hat er das Album „Es leuchten die Sterne“ veröffentlicht, mit dem er im Rahmen des Rheingau Musik Festivals am 6. Juli nach Wiesbaden ins Kurhaus kommt.

Ihre neue Platte ist bei Warner Music Germany erschienen. Dort sind unzählige großartige Künstler:innen aller Genres zu Hause.

Die Firma Warner hielt das Album ihres Jazz-Programms für würdig, es soll sogar eine Vinylplatte geben, was ich wunderbar finde. Vinyl ist ein schöner Trend, ein letztes Aufbäumen analoger Konservierungstechniken. Weniger als Pessimist denn als Realist glaube ich, dass der Mensch in den reproduzierbaren Bereichen der Kunst durch die komplexen Mittel der digitalen Technologie ersetzt werden wird, einfach nur, weil es möglich ist – und weil er natürlich auch in jeder Hinsicht stört, zu teuer und unzuverlässig ist, krank werden kann.

Der Mensch hat ausgedient?

Nur im archaischen Raum, der ja ohne den leibhaftigen Menschen nicht funktioniert, wird er noch eine Heimstatt haben. Das ist das Theater, die Oper, der Konzertsaal und, na ja, irgendwie vielleicht auch noch die Vinylplatte.

Sie benutzen bei Gesangsaufnahmen kein Auto-Tune, oder?

Um Gottes willen! Wir tricksen nicht, singen und spielen sogar noch selbst. Das ist alles einfach und ehrlich. Im Mastering wird dann eine Art Firnis über die Aufnahme gelegt. Wie und was die Tontechniker da genau machen, weiß ich nicht. Wir haben mit alten Mikrofonen aufgenommen und die digitalen Audiofiles in der Postproduktion über eine analoge Tonbandmaschine laufen lassen. Dadurch bekommt das Ganze etwas angenehm Weiches. Aber das hören wahrscheinlich nur Fachleute. Und mein Hund.

Versuchen Sie heute noch, die alte Epoche wachzuhalten?

Ich sehe mich als eine Art Brückenglied. Das, was ich noch kennenlernen durfte und was in mir brennt, will ich beschützen und weitertragen. Was wären wir alle, vor allem wir Künstler, ohne die Menschen, die vor uns da waren? Die um sich greifende Geschichtslosigkeit ist fatal, denn sie beraubt uns unserer Wurzeln, unserer Tiefe, und wer sie verliert, findet keinen Halt mehr in einer Welt, die sich permanent verändert.

Für Martin Scorseses Film „The Irishman“ wurden Stars wie Robert de Niro und Joe Pesci in vielen Szenen digital verjüngt. Wie denken Sie über solche technischen Tricks?

Ich finde das zum Kotzen. Es bedeutet ja, dass man uns gar nicht mehr braucht, wenn wir einmal vollkommen gescannt sind. Dann lässt sich alles künstlich neu zusammenbauen. Ich, der ich gründlich digital erfasst wurde, säße dann zuhause und würde dafür bezahlt, oder auch nicht, dass meine animierten Daten irgendwo herumlichtern. Aus der Branche höre ich, das sei zwar alles bedrohlich, aber man kriege das mit entsprechenden Regelwerken schon in den Griff. Ich glaube das nicht. Der Wahnsinn ist, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden wird. Und wer in dieser neuen, künstlichen Welt groß wird, wird mit der eigentlichen Wirklichkeit nichts mehr anzufangen wissen. Eigentlich ist das alles zum Lachen, wenn es nicht so todtraurig wäre. Da gibt es eine Spezies, die Technologien entwickelt, die sie am Ende selbst abschaffen. Intelligenz schließt abgrundtiefe Dummheit nicht aus.

Das Künstliche-Intelligenz-Tool Magenta analysiert bestehende Songs von etwa Jimi Hendrix und generiert anschließend neue Stücke.

Das Ergebnis ist natürlich seelenlos. KI fühlt nicht und wird es auch nie tun. Aber wir argumentieren ja immer noch aus einer altmodisch analogen Perspektive. Wenn ein Mensch erst an den seelenlosen Quatsch gewöhnt und Teil dieser Strukturen geworden ist, wird er nichts anderes mehr akzeptieren. Hoffentlich haben wir noch etwas Zeit bis dahin.

Ist es für Sie faszinierender, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, als mit Orakeln in die Zukunft zu blicken?

Ich weiß ja nicht, was mir die Zukunft bringt. Es wird mit Sicherheit noch viel radikaler sein, als ich es mir vorstellen kann. Mich interessieren keine Maschinen, mich interessieren Menschen. Inwiefern haben sie in ihrer Zeit bestanden, Gutes getan, Großes geleistet oder Fehler gemacht. Wie sind sie mit ihrem Leben und all den Schwierigkeiten ihrer Existenz umgegangen. Das gibt mir Orientierung und Halt. Ich bin nicht in diese Welt geworfen, um durch Supermärkte zu laufen und im Internet zu surfen. Mein Leben hat hoffentlich einen tieferen Sinn.

Viele Menschen kommen nicht mehr so richtig klar mit dem Hier und Jetzt. Wollen Sie mit Ihrem nostalgisch anmutenden Bühnenprogramm die Realität verlangsamen?

Diese Scheißzeit, die den meisten von uns zusetzt, ist ja eigentlich unsere große Chance. Da gibt es nur eine Rettung: die Rhythmus Boys! Wir schaffen den Raum, in dem Poesie, Witz, Melancholie, Blödelei, Eleganz und Rock ‘n Roll zuhause sind. Wir nehmen nur unsere Musik ernst, uns selbst aber nicht.

Ich habe gehört, dass Sie Berlin wieder verlassen und zurück nach Italien wollen. Ist es Ihnen in Deutschland zu kalt?

Es ist kühl im übertragenen Sinn, und es droht kälter zu werden. Es ist mehr das allmählich zerbröselnde Land, das mir große Sorgen macht, die schlechte Laune und eine Bevölkerung, deren Kräfte schwinden, die sich immer weniger mit seiner Geschichte, seinen Werten und Traditionen verbunden fühlt und wenig Willen zeigt, zu verteidigen, was uns seit sieben Jahrzehnten Frieden, Freiheit und ein außergewöhnlich gutes Leben beschert hat. Also gehe ich doch lieber dorthin, wo die Menschen wenigstens guter Laune sind, weil sie wissen, dass sie die beste Küche der Welt haben. Wir werden nach Süditalien in die Nähe von Neapel ziehen. Da explodieren wir dann auf den phlegräischen Feldern und implodieren nicht in Missmut und Labbrigkeit.

Das 37. Rheingau Musik Festival läuft bis zum 7. September mit 155 Konzerten an 24 Spielstätten. www.rheingau-musik-festival.de

 

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