Wer hätte das gedacht, liebe sensor-Leser, dass in den zwei Monaten, wo wir uns mal eine Dopppelausgabe gönnen, um ein wenig zu verschnaufen, so viel passiert! In der Wiesbadener Welt. Und in der weiten Welt.
Das – Islamisten, bitte mal weghören, jetzt kommt ein schlimmes Wort – Christkind ist wieder einmal gekommen. Damit habe ich, ehrlich gesagt, gerechnet.
Udo Jürgens, mein großes Idol, ist gegangen. Damit hätte niemand gerechnet, obwohl er gerade 80 geworden war. Ich am allerwenigsten, wo ich ihn doch, wofür ich nun unendlich dankbar bin, im November noch zwei Mal, in der Rheingoldhalle Mainz und in der Festhalle Frankfurt, erleben durfte: „mitten im Leben“ unfassbar fit, energisch und energiegeladen.
Wiesbadener Politiker sind – damit war früher oder später, so früh dann aber doch eher nicht zu rechnen – mit ihrer Idee, ein dilettantisch geplantes Stadtmuseum gegen jede Vernunft und gegen breiten Widerstand durchzudrücken, baden gegangen.
Eine Satirezeitungs-Redaktion in Paris wurde, damit hätte niemand zu rechnen gewagt, von miesesten Fanatikern ausgelöscht.
Patridiotische Europäer gegen eine vermeintliche Islamisierung eines so nur in ihren Köpfen existenten Abendlandes gehen montags spazieren und locken Zehntausende an. Damit wollte man nicht, musste man aber rechnen.
Weit mehr Deutsche aller Länder und Ausländer in Deutschland spazieren bundesweit gegen die, die sich (vordergründig) vor der Islamisierung fürchten, und für Buntheit, Offenheit und Toleranz in unserem Land. Damit konnte man nicht, durfte man aber rechnen.
Und Griechenland wählt Angela Merkel ab. Damit haben zuletzt alle gerechnet.
Ich muss zugeben, ich bin manchmal überfordert. Was ist da alles los? Und was hat das alles zu bedeuten? Lese auf Facebook wenige Tage nach dem Attentat von Paris im Vorüberscrollen von einem Aufruf zum Spaziergang in Wiesbaden. Solidarität für „Charlie Hebdo“, nehme ich an. Ja, super, mach´ ich mit. Ach so, gegen Pegida, lese ich beim genaueren Hinsehen. Auch gut. Mach´ ich auch mit. So wie an die 10.000 Wiesbadener. Was für ein starkes Zeichen. Spätestens als der Oberbürgermeister bei diesem Spaziergang „für Vielfalt, Offenheit, Toleranz und Demokratie“ an einem bitterkalten Montagabend auf dem Schlossplatz sagt: „Je suis Charlie“, wird mir klar: Alles hängt zusammen. Irgendwie.
Mein Kopf ist wirr, aber in einem klaren Moment merke ich, dass der 17-jährige Wiesbadener Schüler Henri Johna verdammt recht hat, wenn er mit Verve in die No-Pegida-Spaziergang-Menge ruft: „Der stolzeste Satz, den man 2015 sagen kann, ist: Ich bin weltoffen. Ich bin bunt. Und Pegida hat hier nichts zu suchen.“ Nicht in Wiesbaden. Nicht in Deutschland. Nirgendwo.
Dirk Fellinghauer, sensor-Wirrkopf
PS: Ein Cover als Reaktion auf den „Charlie Hebdo“-Anschlag. Sollen wir das machen? Drei Wochen nach dem grausamen Anschlag? Als Wiesbadener Stadtmagazin? Ich war mir nicht ganz sicher. Und habe die Frage an das sensor-Team gestellt: „Seid ihr dafür oder dagegen, dass wir das veröffentlichen?“ Die Antworten kamen schnell, und sie waren eindeutig wie sonst wenige Diskussionen im sensor-Team: „Dafür!“ Für „Charlie Hebdo“. Für die Presse- und Meinungsfreiheit. Heute und jederzeit. Hier und überall.