Kennen Sie einen Karrieremann,
liebe sensor-Leser:innen? Wahrscheinlich schon. Aber wohl kaum einen, der so bezeichnet wird oder sich so nennen würde. Kennen Sie Karrierefrauen? Wahrscheinlich schon. Und diese werden dann auch so benannt. Es ist schon nach wie vor etwas „Besonderes“, wenn Frauen Karriere machen, erst recht, wenn sie „richtig“ Karriere machen.
In Wiesbaden schaffen dies merklich mehr. In Kultureinrichtungen oder im sozialen Bereich – oft ehrenamtlich oder unterbezahlt im Einsatz – geben Spitzenfrauen schon lange maßgeblich die Töne an in unserer Stadt. In letzter Zeit haben Frauen aber auch Wiesbadener Chefinnensessel erobert, auf die lange Jahre, meist Jahrzehnte, Chefs abonniert waren. Einige von ihnen erzählen in diesem sensor, wie ihr Weg an die Spitze verlaufen ist und wie sie ihr Wirken an der Spitze gestalten.
Spannend wird es in den nächsten Jahren zu beobachten sein, ob und wie sich das weibliche Wirken in Wiesbadener Führungsetagen auf die Stadt auswirken wird.
Als ich neulich in einer obersten Etage unserer Stadt eine männlich-weibliche Doppelspitze zum Gespräch traf, da war das doch ein merklicher Unterschied zwischen den Beiden – allein schon, wie „er“ mir und wie „sie“ mir gegenübersaß; erst recht, wie „er“ vortrug und „sie“ sich austauschte, wie „er“ mir sagte, was er zu sagen hatte, und wie „sie“ auch zuhörte und ehrlich interessiert daran schien, was ich zu sagen hatte.
Dieser ganze sensor ist so „weiblich“ wie nie. Sie treffen Frauen, die ganz unterschiedlich – politisch, kulturell, sozial, gesellschaftlich, unternehmerisch – agieren und sich engagieren, die auch kämpfen, mit ganz unterschiedlichen Mitteln.
Einerseits, das haben wir bemerkt, wollen manche Frauen das „Frau-Sein“ gar nicht so sehr thematisieren, schon gar nicht alles darauf fokussieren. Andererseits zeigt sich, dass das „Frau-Sein“ in vielen Bereichen eben nach wie vor weit von selbstverständlich, auch oft weit von gleichberechtigt, entfernt ist. Allein unsere Zusammenstellung in dieser Ausgabe von Wiesbadener Einrichtungen und Angeboten, die ausschließlich für Frauen da sind, zeigt: Es gibt noch viel zu tun. Von Frauen selbst. Aber auch von Männern.
Ein großes Thema, so zeigte sich in unseren Gesprächen, ist nach wie vor die Vereinbarkeit von Karriere und Mutter-Dasein. Das geht schon bei vermeintlich simplen Fragen wie dem Festlegen von Sitzungs- und Besprechungsterminen los.
Ein anderes Thema ist aber auch das Selbstbewusstsein, das sich etwas (zu)trauen von Frauen. Was andererseits natürlich wieder mit dem Verhalten von Männern zu tun haben kann. Da muss man nicht drauf warten, bis eine mächtige Frau von der Leyen bei einer Besprechung von zwei mächtigen Männern aufs Sofa im und ins Abseits verbannt wird. Das kann man permanent in Talkshows und auf Podien besichtigen. Und ich selbt merke es immer wieder zum Beispiel bei der von mir organisierten und moderierten Veranstaltungsreihe „Der visionäre Frühschoppen“. „Ach nein, lieber nicht“, höre ich oft von Frauen, die ich aufs Podium einlade – und darf mir dann anhören, warum ich so wenige Frauen aufs Podium einlade.
Frauen wie Männer sind als sensor-Leser:innen, und übrigens auch im großen sensor-Team, seit jeher gleich willkommen und wertgeschätzt. Sie finden über „das“ Thema dieser Ausgabe hinaus in diesem sensor Lesenswertes und Lust Machendes. Lust auf eine Zeit, in der wir nicht mehr Tag für Tag auf die Indizidenzzahlen starren und uns nicht erklären können – und es auch nicht von offizieller Seite auch nur ansatzweise erklärt bekommen – warum diese in Wiesbaden einfach nicht unter die magische 100 fallen, die wieder mehr Freiheiten und Unbeschwertheiten erlauben.
Ich bin zuversichtlich, dass sich auch in Wiesbaden die Bundesnotbremse endlich gelöst hat, wenn Sie diesen sensor in den Händen halten. Und kaum habe ich diesen Satz geschrieben – am Drucktag dieser Ausgabe, 26. Mai 2021 – ploppt bei mir die Nachricht auf: 7-Tage-Inzidenz in Wiesbaden unter 100. Na also. 93,4 – die Richtung stimmt. Es geht abwärts und damit aufwärts. Und heute, am Tag der Online-Veröffentlichung dieses Editorials – 10. Juni 2021 – sind wir bei 32,3 und rutschen die Lockerungsstufe 2, dürfen ab heute in Wiesbaden wieder freier shoppen, essen, trinken, Kultur genießen, Sport treiben etc. Allerdings: Gestern waren wir bei 28,7. LMVB ist also angesagt: Locker machen, vorsichtig bleiben!
Genießen Sie alles, was geht. Genießen Sie es so, dass alles – und dann hoffentlich nach und nach immer mehr – möglichst lange geht. Genießen Sie diesen sensor. Das geht immer!
Dirk Fellinghauer, sensor-Feminist
(Foto: Mustafa Albash)