Weitreichende Wiesbadener Atemübungen,
liebe sensor-Leser:innen, werden in den nächsten Jahren oder gar Jahrzehnten mit Spannung zu beobachten sein. Zum Beispiel bei der Frage, ob und wo und wie und wann Wiesbaden wächst.
Das Stadtentwicklungsprojekt ist das Ostfeld. Nicht weniger als ein ganz neuer Stadtteil soll entstehen auf einer Fläche von rund 450 Hektar Gesamtfläche. Das sind 4,5 Millionen Quadratmeter und entspricht, um einen beliebten Umrechnungsvergleich zu bemühen, der Fläche von 630 Fußballfeldern. Felder anderer Natur müssten dran glauben, wenn das Ostfeld realisiert wird. Womit schon ein Kernkonflikt des gigantischen Vorhabens benannt ist.
Die Stadt braucht dringend Wohnraum (und einen zentralen Standort für das BKA), die Landwirte fürchten um die von ihnen bewirtschafteten Flächen. Und auch sonst gibt es einige Aspekte, die mindestens kritisch betrachtet werden, vorneweg jene Fragen rund um Ökologie, Umwelt, Klima. Visionen treffen auf Widerstände.
Wo die einen Chancen sehen, bekommen es andere mit der Angst zu tun. In unserer Titelstory gehen wir der Sache auf den Grund. Dem Stand der Dinge viel mehr, denn zum jetzigen Zeitpunkt des weit in die Zukunft reichenden Projekts kann die Reportage nur eine Momentaufnahme sein. Womit wir bei den Atemübungen wären.
Roland Stöcklin, als Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft SEG ein Hauptverantwortlicher in der Mission Ostfeld, weist heute schon darauf hin, dass alle Ideen, die rund um das Projekt entwickelt werden sollen, angesichts des weiten Zeithorizontes „mitatmen“ sollten. Wenn es denn so weit kommt. Ein erfahrener Baurechtler prognostizierte wenige Tage vor dem Erscheinen dieser sensor-Ausgabe in einem Interview, dem Projekt Ostfeld werde der Atem ausgehen, wenn die Preisentwicklung im Baugewerbe anhalte. Und mit Andreas Steinbauer hat kürzlich eine gewichtige Stimme der Stadt ebenfalls zu verstehen gegeben, dass nach einer Einschätzung dem Projekt früher oder später sicher der Atem ausgehen wird. Der Immobilienexperte fordert als Konsequenz im Gespräch mit dem Portal „The Good Place“ einen Stopp der Planungen.
Fest steht: Befürworter wie Gegner brauchen generell langen Atem, um ihre jeweilige Ostfeld-Geschichte zum Erfolg zu führen.
Den Atem angehalten hatten manche in der ersten Stadtverordnetenversammlung und in der Stadtpolitik nach der Sommerpause. Eine neue hauptamtliche Dezernentenstelle war zu besetzen. Die Grünen schickten, nach interner Findungsphase und mit dem Abstimmungs-Segen der Mitgliederversammlung, ihre Frontfrau Christiane Hinninger als neue Wiesbadener Wirtschaftsdezernentin ins Rennen. Dass sie gewählt wird und in dieser Funktion Nachfolgerin von CDU-Mann Oliver Franz werden wird, war angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Rathaus ausgemachte Sache. Eigentlich. Wenige Tage vor der Wahl zauberte die gesamte Rathaus-Opposition mit Ausnahme der AfD – also „die demokratischen Fraktionen CDU, FDP, BLW/ULW/BIG und Freie Wähler/Pro Auto“ – einen externen und hier völlig unbekannten Herrn aus dem Hut.
Ein gewisser Dr. Ulrich Vonderheid, zuletzt (abgewählter) CDU-Dezernent in Leonberg (ca. 49.000 Einwohner:innen) und zuvor in Lampertheim (ca. 33.000 Einwohner:innen), sollte als Gegenkandidat Christiane Hinninger und der Rathaus-Kooperation einen Strich durch die Posten-Rechnung machen. Ein aussichtloses Unterfangen. Eigentlich. Sofort kursierten wildeste Gerüchte, manche im Rathaus bekamen schlagartig Schnappatmung. Am Ende wurde es tatsächlich knapp – mit 41 zu 39 Stimmen wurde Christiane Hinninger zur neuen Wiesbadener Wirtschaftsdezernentin gewählt. Großes Aufatmen bei der Rathaus-Mehrheit!
Dirk Fellinghauer, sensor-Atemtrainer