Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Doch eine verheißungsvolle „Stunde Null“, die noch heute vielfach beschworen wird, ist eine Illusion. Wer das behauptet, blendet fortbestehende antijüdische Strukturen aus und verhöhnt das kollektive Trauma der jüdischen Gemeinschaft. Alte Nazis waren nicht nur im Untergrund aktiv, sondern vielfach die Strippenzieher der frühen Bundesrepublik. Nachdem die Alliierten die Entnazifizierung zunächst konsequent vollzogen, vergaben Deutsche massenhaft „Persilscheine“, sodass doppelte Karrieren Gang und Gäbe wurden. So wählte Wiesbaden 1954 den ehemaligen Nazi-Oberbürgermeister Dr. Erich Mix wieder ins Amt. Ironie des Schicksals: Ausgerechnet der Mann, der von 1937 bis 1945 an der Macht war, konnte nun wieder über das Schicksal der Jüdischen Gemeinde mitbestimmen. Entschädigungen gab es in homöopathischen Dosen oder gar nicht.
Wer im Frühjahr 1945 die Synagogenruine in Wiesbaden betrat, stand vor den Trümmern einer Gesellschaft, die sich weigerte anzuerkennen, dass sie weiterhin im braunen Sumpf watete. Die Überlebenden, die Gründungsmütter und -väter der Jüdischen Gemeinden, nannten sich selbst auf Hebräisch sherit ha-plita – „der überlebende Rest“. Sie hatten alles verloren und begannen sofort, in provisorischen Unterkünften, Gottesdiensten und Kulturabenden eine neue Gemeinschaft zu organisieren, die aus einer hochtraumatisierten Transitgesellschaft bestand.
Auch in Wiesbaden waren es Überlebende, die in einem Provisorium Gottesdienste abhielten und für die Reparatur der Synagoge in der Friedrichstraße stritten. Die Jüdische Gemeinde Wiesbaden ist die rechtliche, historische und moralische Nachfolgerin der vernichteten Vorkriegsgemeinde.
Die US-Army stellte den Displaced Persons (DPs) in Camps Wohnraum und Verpflegung zur Verfügung. Doch der wahre Motor für den Wiederaufbau einer Jüdischen Gemeinde in Wiesbaden, wie in vielen deutschen Städten, bot der kollektive Lebenswille der Überlebenden. Viele wollten das kontaminierte Europa hinter sich lassen – nicht zuletzt, weil sie auch nach 1945 Pogrome erlebten. Ehemalige Nachbarn, zum Beispiel in Polen, waren wenig entzückt, wenn Überlebende ihre Habseligkeiten zurückforderten. Um der brutalen Ablehnung zu entkommen, kehrten manche nach Deutschland zurück – ausgerechnet in das Land der Täter! Hier war die Versorgung durch die Alliierten gewährleistet.
Palästina blieb in dieser Situation ein Ort der Sehnsucht und der Sicherheit. 1948 griffen die arabischen Nachbarländer den jungen jüdischen Staat an. Der Unabhängigkeitskrieg begann – und das ganz ohne die heute scheinbar alles dominierenden Fragen nach der Zugehörigkeit von Jerusalem, Gaza oder Siedlungen! Die Zuwanderer, die sich trotz des Krieges nicht davon abhalten ließen, nach Israel auszuwandern und sich hier eine Zukunft aufzubauen, wurden bei ihrer Einreise oft gefragt: Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?
Israel bedeutet bis heute Sicherheit für Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt. Womöglich hätte die Existenz eines jüdischen Staates vor 1939 sogar den industriellen Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden verhindern können.
Diejenigen, die in Deutschland blieben, versuchten einen Neuanfang. Am 11. September 1966 wurde die neue Synagoge in der Wiesbadener Friedrichstraße an exakt derselben Stelle, an der 1882 das Vorgängerbauwerk errichtet worden war. Die alte Synagoge war aufgrund der schweren Beschädigungen aus den Novemberpogromen und des langen Leerstandes nach der letzten großangelegten Deportation aus Wiesbaden nicht mehr instand zu setzen. Der hessische Landesrabbiner Dr. Isaak Emil Lichtigfeld sagte bei der Einweihung: „Die Herrlichkeit und Würde der Königstochter ist im Innern. Wir sind nicht dafür, dass wir mit Gepränge auftreten, mit einem großen Aufwand. Wir sind mehr dafür, dass wir überzeugen durch den inneren Wert unserer Tätigkeit“ – ein Leitgedanke, der bis heute unser Handeln prägt. Während andere Hass verbreiten, laden wir zu uns ein, fördern Begegnung und vermitteln Wissen.
Anfang der 1990er Jahre wanderten Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein. Auf der einen Seite standen die Alteingesessenen – Überlebende und ihre Nachfahren aus Osteuropa, gezeichnet von Trauma und Verlust. Ihnen gegenüber traten Zuwandernde, die sich als „Sieger über Nazi-Deutschland“ verstanden – Juden aus dem Baltikum, aus Moskau, Kasachstan und Usbekistan. Zentraler Ort des Zusammenfindens war die Synagoge. Beim Schabbat und den jüdischen Festen lernten wir, gemeinsam Wurzeln zu finden. Unsere 2.000-jährige Integrationsfähigkeit erwies sich mal wieder als tragfähiges Fundament für eine stabile Gemeinschaft.
Das Massaker vom 7. Oktober 2023 – der größte Mord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah – entfachte gleichzeitig eine noch nie dagewesene Welle des Judenhasses. Dem offenen Terror in Israel folgte eine soziale Kälte in den deutschen Städten, die Jüdinnen und Juden wie in eine Parallelwelt sperrte und abschottete. Bis heute florieren Hasskommentare im Netz. Brandanschläge auf Synagogen, körperliche Übergriffe, Anfeindungen auf Schulhöfen und das Gefühl, in der eigenen Nachbarschaft nicht mehr willkommen zu sein, zeigen, dass der Judenhass weiterlebt und die Mehrheitsgesellschaft gravierende Erinnerungslücken hat.
Eine wirkliche „Stunde Null“ hat es nie gegeben. Am 8. Mai 1945 endete ein globaler Alptraum. Aufgabe bleibt es, den nächsten zu verhindern. Denn wir Jüdinnen und Juden sind noch da – und diesmal möchten wir vertrauensvoll auf Sie zählen.
Der Autor dieses Gastbeitrags, Steve Landau, ist Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und Leiter des Jüdischen Lehrhauses.