Von Laura Ehlenberger (Text und Fotos)
Wiesbadener „Weltverbesserer“ und solche, die es vielleicht gerne werden wollen, versammelten sich letzten Sonntag bei hohen Außentemperaturen im 60/40. „Der visionäre Frühschoppen im Exil“ hatte – in Anlehnung an das Buch von Stéphane Hessel und seine Frage: „Die Verletzung der Menschenrechte und die Zerstörung der Umwelt gehen uns alle an. Wie aber kann sich jeder Einzelne ganz konkret für eine bessere Gesellschaft stark machen?“ – das Thema: „Engagiert euch! Wiesbadener Weltverbesserer“. Die präsentierten und diskutierten Ideen stießen auf große Zustimmung, lockten den ein oder anderen Gast aber auch aus seiner Komfortzone.
Ideen für eine bessere Welt – die keimen wohl durchaus mehrheitlich in den Köpfen der Wiesbadener regelmäßig auf. Mal sind sie konkreter, mal abstrakter, aber zumeist geleitet durch das Gefühl: Was in dieser Welt so läuft, ist alles andere als fair. Eben das dachten sich diese sechs Weltverbesserer und ließen ihren Träumen und Hoffnungen konkrete Handlungen folgen: Birgit Pilz, Vorsitzende des in der Dominikanischen Republik aktiven Vereins „Café con leche“, Jakob Kirfel, der sich für eine „Jugend gegen AIDS“ stark macht, Reinhard Sczech vom frisch gestarteten „Reflecta Network“, Anjelina Nafula Namwaya, die Gründerin von „Kenya-ChildVision“ sowie Dr. Gerhard Trabert, Professor für Sozialwesen an der Hochschule RheinMain, “Obdachlosen-Arzt”, Vorsitzender von “Armut und Gesundheit” und weltweit in Kriegs- und Krisengebieten aktiv.
Während draußen die Sonne auf den Asphalt knallt und definitiv Freibad-Zeit angesagt ist, hat sich im Schlachthof-Lokal eine Runde von Freunden des visionsgeladenen Frühschoppens versammelt, um den genannten sechs – um diesem Begriff einmal die Aufwertung zu verpassen, die er eigentlich verdient – Gutmenschen zu lauschen. Im Laufe des Vormittags gab es jede Menge Informationen und Inspirationen, und es entfachte sich eine rege Diskussion. Eine Quintessenz des Weltverbessern war es, dass meist ein ganz persönlicher Anstoß am Anfang des Engagements steht, das sich von da aus weiter entfalten kann. Auch Wut und Empörung im Hesselschen Sinne kamen als Auslöser für persönliches Engagement zur Sprache.
Den Anfang macht Birgit Pilz, die durch Zufall dazu kam, Gutes zu tun. Ihr Sohn hatte sie im Zuge seines FSJ mit dem „Café con leche“ zusammengebracht. Der Verein nutzt den Fußball als Möglichkeit, Jugendliche in der Dominikanischen Republik von der Straße zu holen. Warum es gerade Fußball sei, dazu sagt sie: „Es eignet sich einfach gut.“ Mit dieser einfach klingenden, jedoch mit viel Mühe und Arbeit verbundenen Idee erreichen Pilz, die Vorsitzende, und ihre Kollegen inzwischen an die 150 Mädchen und Jungen. Eine erfolgreiche Aktion, die sie direkt in Wiesbaden organisiert und „nach Bedarf“ wiederholt, ist das Sammeln von Fußballschuhen für die Jugendlichen. Jedes Jahr reist die Mutter und Sportlehrerin in Teilzeit für sechs Monate in das Land: „Diese Kinder leben zum großen Teil ohne Strom, Wasser – und ohne Ansprechperson.“ Um ihnen eine – sportliche – Perspektive zu geben, engagiert sich die Wiesbadenerin auch hierzulande, sammelt Spenden und ist im stetigen Austausch mit den Hauptamtlichen vor Ort – alles für ihr, wie sie es nennt, „Herzensprojekt“.
Mit Herz und jeder Menge Verstand ist auch der ehemalige Stadtschülersprecher Jakob Kirfel am Start. Um die „Jugend gegen AIDS“ zu mobilisieren, tourt der 19 Jahre junge Weltverbesserer durch das Land, trifft die Jugendlichen auf Festivals, verteilt fleißig Kondome – und betreibt wichtige und seriöse Aufklärung. „Wir sprechen eine Sprache, die die jungen Leute verstehen“, nennt er den Vorteil seiner Organisation, die mit rund 600 Mitgliedern und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Schirmherrn an deutschen Schulen über Sex, HIV und Aids und andere Geschlechtskrankheiten aufklärt. „Wir sind nicht viel älter als die Schüler“, betont Kirfel, „deswegen stellen sie uns auch Fragen, die sie sich vielleicht sonst nicht trauen würden.“ Da könnten dann durchaus sehr amüsante, aber auch und weitaus wichtiger sehr intime aufkommen – die zu beantworten und auf Gefahren hinzuweisen, sei ihm ein Anliegen, aber stets ohne erhobenen Zeigefinger: „Die meisten von ihnen kennen HIV – dass sie selbst betroffen sein könnten, liegt ihnen jedoch oft fern.“
Was diese Krankheit für Betroffene bedeuten kann, musste die gebürtige Kenianerin Anjelina Nafula Namwaya hautnah erleben. In ihrem Heimatland verlieren Kinder ihre Eltern an Aids, die restliche Familie nimmt diese jedoch oftmals nicht auf und es droht ein hartes Schicksal im Kampf um das eigene Überleben, das dann oft erneut in einem frühen Tod mündet. Diesem Teufelskreis entgegen zu wirken, ist Ziel ihres gegründeten Vereins. Zaghaft stellt sich die junge Frau an das Mikro: „Kenia ist ein von bitterer Armut gezeichneter Ort.“ Sauberes Wasser und Bildung seien Mangelware – mit „Kenya-ChildVision“ versucht sie, ihren Landsleuten in passender Weise zu unterstützen. Sporteinrichtungen, eine bereits realisierte Bäckerei und einer geplante Näherei sollen Abhängigkeiten nehmen. „Und den Anreiz, das Land zu verlassen“, sagt die Visionärin, die regelmäßig nach Kenia reist: dorthin, wo sie selbst herkommt, wo sie in Armut aufwuchs und wo ihre Geschwister auch heute noch leben. Doch in Deutschland sei vieles einfacher zu erreichen. Auf die Frage, mit was sie die Welt noch ein weiteres Stück zu verbessern gedenkt, sagt Namwaya: „Ein Zehn-Kilometer-Lauf, um Spenden zu sammeln, und ein Waisenhaus.“ Ihr nächstes großes Projekt in Wiesbaden ist die Organisation einer ganztägigen Spendengala am 5. August im Tattersaal.
Die Welt verbessern? „Eine ganz gute Idee“, sagen sich jetzt sicher viele. „Nur wie?“, fragen sich vermutlich genauso viele. „Und wann?“ Einer, der sich diesem gesellschaftlichen Nicht-nur-sagen-sondern-auch-machen-Dilemma gleich vielfach stellt, ist Dr. Gerhard Trabert. Als “Obdachlosen-Arzt”, als Professor für Sozialwesen und im weltweiten Einsatz stellt sich der Weltverbesserer Fragen von “Armut und Gesundheit”, so der Name seines Vereins, mit dem er sich für mehr soziale Gerechtigkeit stark macht: „Wir haben es heute mit einem Sozialrassismus zu tun.“ Zum Einstieg bedient sich der Idealist und Aktivist eines Zitats von Warren Buffett zum „Krieg Arm gegen Reich“, den nach Buffets Überzeugung die Reichen gewinnen werden, und weiß: „Reichtum ist das Problem.“ Und Armut sei geschaffen durch den Menschen. Der streitbare Professor beantwortet auch die Frage, was sich dagegen tun lasse. „Ein Verständnis für gefestigte Strukturen bekommen und dann dagegen angehen – und das sofort und dort, wo man lebt und wirken kann!“ Jene permanente Revolte und neue „außerparlamentarische Opposition“, die Trabert da einfordert, müsse wie ein Feuer entfacht werden. Dass einige diesem radikalen Wunsch nicht ganz entsprechen, erwidert er klaren Worten, nennt die Missstände, fordert mehr Mut von der Politik und sagt mit spürbarer Wut über die Zu- und Missstände: „Ich bin es einfach leid, um den heißen Brei zu reden.“ Dafür gibt es starken Applaus.
Es leid sein, zuhause auf dem Sofa zu sitzen, über die Probleme dieser Welt zu jammern und nicht aktiv zu werden, das trifft wohl auch auf Reinhard Sczech vom „Reflecta Network“ zu. Der ehemalige Hunsrücker war bereits mit von der Partie, als in seiner Heimat eine der größten deutschen Friedensbewegungen startete, um gegen die US-Raketenstationierung vorzugehen. So erfolgreich, dass dort heute jährlich Europas größtes Technofestival „Nature One“ stattfindet. Doch auch heute, möchte es sich Sczech nicht gemütlich machen. So wurde er Teil des von Daniela Mahr gestarteten „Reflecta Network“. Wie wichtig und zeitgemäß ein solches ist, konnte er beim „Reflecta Film Festival“ erfahren: „Die jungen Menschen wollen nicht in Parteien, sondern spontaner zusammenkommen“, sagt er. Damit so etwas geht, gibt es Reflecta. Das sei offline und online – und biete Weltverbesserern völlig neue Möglichkeiten. „Mit einer Technik, der Blockchain, schaffen wir ein neues Internet.“ Hier ließen sich nicht nur Werte übertragen, auch Musik und Geld: „Also Banking ohne Bank“, sagt der wirtschaftserfahrene Netzwerker. Es sei die Basis einer neuen Wirtschaft, besser, ein Dorf im Netz.
Gute Ideen, gute Umsetzung. Nun müssen sich die sechs Wiesbadener den visionären sensor-Fragen stellen: „Was würdet ihr als die größte Herausforderung sehen?“ Dazu sagt Sczech, es sei – wie sich vermuten ließ – der Mut, der Vision Taten folgen zu lassen. „Und die Leute von der eignen Idee zu überzeugen“, ergänzt Pilz, „um tatsächlich Geld generieren zu können.“ Dass die Arbeit als Ehrenamtlicher viel Zeit, Energie und „Herzblut“ kostet, weiß auch Kirfel: „Vor allem sich gegen Zweifel durchzusetzen.“ Dem fügt Trabert an: „Ganz wichtig ist es sich nicht abschrecken zu lassen – vor allem nicht von Sätzen wie: So war es schon immer, ich kann sowieso nichts machen.“ Bei der nächsten Frage sind sich alle einig. Als Helfende dürften sie Hilfe niemals überstülpen, sondern müssen gemeinsam mit den Betroffenen Lösungen erarbeiten. „Den Menschen auf Augenhöhe begegnen“, betonen sie – und genau das heißt für den Professor in der Runde: „Wenn sie einem Obdachlosen begegnen, ist das Wertvollste, was Sie tun können, ihm ihre Zeit zu schenken!“
Themenwechsel: Obwohl die heiligen Hallen, in der das im Exil gelandete Walhalla zukünftig dauerhaft Zuflucht finden soll, doch noch nicht genannt werden dürfen, meldet sich Simon Hegenberg, seinerseits Wiesbaden-Verbesserer als Künstler und im Walhalla-Verein Engagierte, zum Abschluss zu Wort: „Exil. Das ist kein fancy Wort, sondern spielt äußerst zynisch mit dieser Stadt.“ Einer Stadt, in der es jede Menge Nachholbedarf gebe, wie er in einem engagierten und kämpferischen Plädoyer ausführte. Passend dazu, wird nach dem Sommer – beim Visionären Frühschoppen Nummer 17 am 3. September in der Skatehalle in der Kreativfabrik – die Vision eines „Folklore“-Nachfolgefestivals verkündet und intensiv diskutiert werden.
Nach der Veranstaltung steckten einige der Visionäre ihre Köpfe zusammen, tauschten Kontakte aus und verabredeten sich, die eine oder andere Vision miteinander zu „verbinden“. „Ich fand es sehr spannend, wie schnell sich Anknüpfungspunkte der unterschiedlichen Initiativen finden lassen“, meinte anschließend beispielsweise Reinhard Sczech.
Das sensor-Fotoalbum vom Visionären Frühschoppen im 60/40 findet ihr hier, alle Infos und Updates bei http://wiesbadenervisionen.de/der-visionaere-fruehschoppen/ und einen „Twitter-Rücklick“ hier.
Vielen Dank für den Bericht – ich konnte leider nicht dabei sein!