Die Orte mit kulturellem Mehrwert, mit eigenem Charakter und unverwechselbarem Charme verschwinden in Wiesbaden gerade im Tagestakt – oder geraten in ernsthafte Gefahr. Jüngste und endgültige Hiobsbotschaft: Das Gestüt Renz in der Nerostraße 24 ist ab heute Geschichte. Joerg Lichtenberg, der den besonderen Club 13 Jahre lang im Gebäude mit legendärer (Jazz-)Geschichte mit Herzblut, Stil und Ideen betrieb, teilte sensor soeben mit: „Wir schließen mit sofortiger Wirkung und endgültig“. Nicht freiwillig, sondern nach einem unanfachtbaren Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs in Kassel, das für Lichtenberg völlig überraschend kam: „Damit haben wir nicht gerechnet“, sagt der Gastronom, der über Jahre immer wieder Konflikte mit einigen wenigen Anwohnern austragen musste. Nachdem eine Klage gegen das Gestüt vor dem Hessischen Verwaltungsgericht abgewiesen worden war, war Lichtenberg guter Dinge, das Gestüt weiterführen zu können. Mit dem Chopan in der Bleichstraße und dem Infoladen in der Blücherstraße droht weiteren Wiesbadener Institutionen das „Aus“, ebenso bekanntlich dem Walhalla Theater.
In einem 10 Seiten umfassenden Beschluss wird dem Gestüt der Betrieb als „Vergnügungsstätte“ untersagt und festgestellt: „Die formelle Illegalität der Nutzung ist gegeben.“ Erlaubt sei lediglich ein Betrieb als „normale“ Schank- und Speisewirtschaft. Die besondere Historie des Hauses findet in dem Beschluss keine Berücksichtigung. OB Sven Gerich hat die Meldung zur Schließung des Gestüt Renz auf seiner Facebookseite spontan kommentiert mit: „ECHT TRAURIG. Schade, dass es mittlerweile gelingt, dass neu zugezogene Nachbarn, oder sogar ehemalige Gastronomen der gleichen Straße, eine ganze Straße, gastronomisch gesehen, zu töten! DISLIKE.“ Die erwähnten wenigen Nachbarn haben es geschafft, dass nun nicht nur Ausgehfreudigen ein weiteres Ziel abhanden kommt. Das Aus bedeutet auch die Kündigung für über 20 Mitarbeiter.
Der Anruf von Joerg Lichtenberg erreichte uns heute wenige Stunden nach der Mail mit dem Betreff: „Dem Infoladen Wiesbaden droht die Schließung“ und der Mitteilung: „Der seit 1988 im Westend verwurzelte Infoladen linker Projekte muss um seine Existenz fürchten. Die Bauaufsichtsbehörde betrachtet die Nutzung der einstmals als Werkstatt zugelassenen Räume als Zweckentfremdung und will die weitere Nutzung untersagen, falls keine Änderung der Raumnutzung beantragt wird.“ Die Konsequenz: „Diese wäre mit hohen Kosten verbunden und würde die Schließung des von ehrenamtlicher Arbeit getragenen unkommerziellen Projekts bedeuten.“ Neben der politischen Arbeit und einem regen Werkstattbetrieb etwa für den Bau von Möbeln aus Paletten, das Begrünen von Hinterhöfen oder kreatives Upcycling hat sich der in einem Hinterhof ansässige Infoladen auch als rege genutzter Ort für kleine, feine Lesungen und Konzerte etabliert.
Infoladen dringt auf Ermessensspielraum
Dass es für den Infoladen auch anders als vom Amt angedroht laufen könnte, hätten eingehende Beratungen mit einem Fachanwalt und einem Architekten ergeben. Der Sprecher des Infoladens, Michael Hodgson, fasst zusammen: “Die Bauaufsicht hat durchaus einen Ermessensspielraum bei ihrer Entscheidung. Wir appellieren an die Verantwortlichen der Behörde, diesen auch zu nutzen und die politische und soziale Arbeit des Infoladens nicht weiter zu gefährden. Sonst wird wertvolles ehrenamtliches Engagement durch eine bloße Verwaltungsvorschrift verhindert.” Das Kernziel des Vereins ist es nach eigenen Angaben, einen Ort der Begegnung und der Zusammenarbeit zu bieten für Menschen, die sich für eine solidarische, basisdemokratisch organisierte Gesellschaft einsetzen.
Chopan befürchtet das Undenkbare
Ausgetanzt haben könnte es sich auch im Chopan in der Bleichstraße – einem der wenigen Orte mit Großstadtflair im Wiesbadener Nachtleben. Die Betreiber kündigten letztes Wochenende eine Veranstaltung mit dem Titel „This Could Be The Last Dance“ mit der Erklärung an: „Liebe Freunde und langjähriges,verehrtes Publikum, Wir haben Stress mit dem Vermieter, der das Haus vor ein paar Jahren gekauft hat und uns als Mieter jetzt mal so gekündigt hat. Das Ganze ist vor Gericht, und ja, alles ist möglich,vor allem auch das Undenkbare für uns. Egaln was noch kommen magn bis dahin sind wir wie gewohnt da ,vorab schon mal ein großes Dankeschön für die tolle Zeit und Eure Unterstützung!!“
Walhalla-Zukunft – und mehr – am Sonntag in der Diskussion
Wie bereits bekannt, droht auch der Kulturstätte Walhalla Theater das Aus, wenn die Pläne der Stadt, die Räume zu sanieren und bis auf den letzten Millimeter dem bundesweiten Varietébetrieb GOP zu überlassen, realisiert werden. Die Vorhaben stehen im Mittelpunkt beim „Der visionäre Frühschoppen Spezial“ am Sonntag, 9. Oktober, um 12 Uhr im Walhalla-Spiegelsaal. Über das Walhalla selbst hinaus können und dürfen aber auch weitere Entwicklungen des Wiesbadener Kulturlebens und der Lebenskultur in Wiesbaden angesprochen und diskutiert werden – wie etwa die beschriebenen Akutbeispiele dafür, dass Wiesbaden gerade einiges flöten geht von dem, was elementar wichtig ist für eine Stadt auf der Suche nach Identität, Dynamik und Anziehungskraft.
Wenn es so weiter geht, droht Wiesbaden anstatt der Sogwirkung, die sich Wiesbaden in die Stadt hinein wünscht und so dringend nötig hat, eine fatale Sogwirkung aus der Stadt hinaus. Joerg Lichtenberg, der heute Abend mit flauem Gefühl im Magen die Premiere des Films zur „Jazzgeschichte in Wiesbaden“ besuchen wird, in dem auch das Gestüt gewürdigt wird, hat sein Kommen für Sonntag bereits angekündigt.
UPDATE: Der Wiesbadener Alexander Walser hat eine Petition „Rettet das Wiesbadener Nachtleben und Gestüt Renz“ gestartet, die innerhalb weniger Stunden von Hunderten Unterstützern gezeichnet wurde.
(Dirk Fellinghauer / Bild: Gestüt Renz)
Hare Krischna! Wir sind schon Ende der 90iger von Wi nach Hohenstein aufs Land wegen horrender Mieten und neuer Streitfreudiger Nachbarn umgesiedelt! Nur der Name blieb! http://www.iskconwiesbaden.de ……
Euer Hemanga
Ich finde es bedenklich das Gestüt Renz in dem selben Anliegen wie das Walhalla und den Infoladen zu nennen. Schließlich musste das Gestüt aufgrund der Beschwerden der Anwohner_innen schließen. Das Gestüt hatte auch die Möglichkeit sein Konzept zu ändern und weiterhin zu existieren. Das ist schon ein deutlicher Unterschied zu der Situation des Walhallas und des Infoladens.