Von Inka Mahr. Fotos Mary Goldfinger.
Alle zwei Jahre treffen sich die besten Nachwuchs-Artisten Europas in Wiesbaden. Vom 1. bis 4. November findet das internationale Festival European Youth Circus im großen Chapiteau auf dem Dernschen Gelände statt. Die Teilnehmer kommen aus Tschechien, Litauen, Italien, Russland und vielen anderen Ländern. Nur einer von ihnen hat in diesem Jahr ein Heimspiel …
Die Tür steht, wie vereinbart, für mich offen. Ein Schritt und ich betrete eine – mir bis dato fremde – ganz eigene Welt: Die artistische Welt des Zirkus. Hier in der Circus-Varieté-Schule in der Büdingenstraße 8 treffe ich den Jonglage-Artisten Yussuf Haji-Nasir und dessen langjährigem Lehrmeister Joan Dumitru. Unzählige Fotos, Ehrungen und Bilder von Clowns zieren die Wände. Überall in dem kleinen, mit federnden Teppichen ausgelegten Trainingsraum finden sich Akrobatik-Utensilien.
Yussuf kam im Alter von vier Jahren mit seiner Familie aus Somalia nach Deutschland. Eine Freundin der Familie gab den Tipp, den damals siebenjährigen Jungen, der „immer verrückte Sachen machte“, neben der Grundschule in der Wiesbadener Circus-Varieté-Schule anzumelden. Eine gute Idee, denn Yussuf war sofort Feuer und Flamme, als er in die Zirkuswelt des Joan Dumitru und seiner Zöglinge eintauchte: „Ich war so begeistert, so fasziniert!“ Das talentierte Kind entwickelte ein Faible für Trampolinspringen und Jonglage. Und Yussuf blieb am Ball: „Wie haben in Frankreich und Belgien die Festivals durchgejagt, Preise mit nach Hause gebracht.“ Nach fünf Jahren, einem Zertifikat und einer Lehre als Karosserie-Instandsetzer ist der Michael Jackson-Fan heute, professioneller Artist mit dem Schwerpunkt Jonglage.
Der Meister
Joan Dumitrus Maxime ist die Vielseitigkeit der Ausbildung, die neben den artistischen Disziplinen auch die musikalische Erziehung umfasst. Yussuf und die anderen Schüler nennen Joan Dumitru einfach nur Meister. Einfach, weil er ein Meister seines Faches ist. Der aus einer Artistenfamilie stammende gebürtige Rumäne war immer bestrebt, sein Wissen an die Jugend weiterzugeben. Und so gründete der heute 80-Jährige vor nunmehr 35 Jahren die 1. Circus-Varieté-Schule in Wiesbaden. „In Deutschland gibt es nur eine vergleichbare Schule, in Berlin“, berichtet so Herr Dumitru stolz und zeigt Fotos des kleinen Yussuf beim Training. Sein Anliegen, die Jugend zu fördern und seine Künste weiterzugeben, widmet er sein ganzes Leben. Die Liebe zum Zirkus lässt ihn nicht an Ruhestand denken.
1987, zehn Jahre nach Eröffnung der Schule, rief Joan Dumitru das 1. Internationale Wiesbadener Zirkusfestival ins Leben, aus dem das heutige, vom Kulturamt Wiesbaden organisierte Artistenfestival European Youth Circus hervorging. Hier betritt alle zwei Jahre hochkarätiger Nachwuchs aus 13 Ländern Europas die Manege, um sein Können unter Beweis zu stellen. Jetzt ist es wieder soweit: Vom 1. bis 4. November finden sich die besten ihrer Zunft im Chapiteau auf dem Dern´schen Gelände ein und die allerbesten werden ausgezeichnet.
Yussuf sieht den European Youth Circus, an den er in diesem Jahr als Soloartist mit seiner Hutnummer teilnimmt, als Sprungbrett für seine Karriere: „Mein Ziel war es, das Alte zu modernisieren, zu beleben und ihm eine neue Geschichte geben. Man muss die Bühne beleben. Tanz muss dabei sein; genau auf die Musik abgestimmt.“ Die Choreographie stammt von ihm, sein Lehrer aus Kindertagen feilt mit ihm an der Technik: „Ich habe das Glück, dass mein Meister noch da ist, mir immer noch meine Fehler zeigen kann.“
Langfristig träumt der 25-Jährige von einem Engagement in einer Show in Las Vegas. Bis dahin tritt er als John Pathic bei Festen mit seiner Sprungstelzenperformance auf, begeistert auf Kreuzfahrten mit tänzerischer Jonglagekunst, engagiert sich bei den Clowndoktoren und hilft nun selbst in der Circus-Varieté-Schule mit.
Metamorphose
Dann schlüpft Yussuf in sein rot-schwarzes Bühnen-Outfit, und die Vorstellung beginnt. In diesem Moment wird Yussuf zu John Pathic. Der Künstlername: ein Wortspiel. John erinnert an das Wort JONglage, Pathic steht für AkroBATIK. Vielleicht auch ein wenig für symPATHIQUE. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen; das passt einfach. Ganz locker, ohne sich vorher aufgewärmt zu haben, jongliert John Pathic kunstvoll fünf feuerrote, nach seinen Vorgaben angefertigte Hüte bis knapp unter die hohe Decke. Maßarbeit.
Der anschließende Balanceakt mit Stock und Hut wirkt so unverschämt spielerisch und leicht. Der Zuschauer kann nur erahnen, wie lange es braucht, um eine solch anspruchsvolle Nummer zu beherrschen. Mir hat er es anvertraut. Gut ein Jahr. Und das bei sechs Stunden Training am Tag. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor John und Yussuf.
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