Von Martina Meisl. Fotos Kai Pelka.
„Menschen bilden bedeutet nicht, ein Gefäß zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen.“ Dieses Zitat, das dem griechischen Dichter Aristophanes zugeschrieben wird, ist rund 2400 Jahre alt. Keine neue Erkenntnis also. Dennoch geht es auch im heutigen Schulsystem oft nur darum, möglichst viel abfragbares Wissen zu speichern. Schaut man jedoch genauer hin, finden sich in Wiesbaden an den verschiedensten Ecken Menschen, die sich damit nicht abfinden wollen, die laut darüber nachdenken, was sich ändern könnte oder schon dabei sind, ihre Ideen umzusetzen. Und auch im Rahmen der Regelschule wird immer mehr ausprobiert. Dabei ist zu beobachten, wie sich die Prioritäten verschieben.
Der Weg eines neuen Bildungsdenkens führt weg von der reinen Wissensvermittlung, hin zur Stärkung von Kompetenzen und Förderung persönlicher Talente. In diesem Verständnis dient Bildung als Werkzeugkasten, um das Leben und die Anforderungen der Zukunft zu meistern.
Die Sache mit dem Potenzial
„In der Schule wird sehr viel Potenzial verschenkt“, findet Adrian Metzger. „Und das, obwohl wir jedes Potenzial brauchen für die Herausforderungen, vor denen wir geradestehen.“ Wie wichtig das Umfeld für die persönliche Entwicklung ist, hat er am eigenen Leib erfahren. Der 21-Jährige hat vor zwei Jahren Abitur gemacht – und zwar mit einem Durchschnitt von 1,6, was er seiner früheren Englisch-Lehrerin gerne unter die Nase reiben würde. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte er es nämlich gar nicht erst geschafft. Auf dem Gymnasium, das er damals besuchte, fielen ihm wegen seiner Legasthenie die Sprachen sehr schwer, da half alles Lernen nichts. Er wurde über seine Noten definiert, galt als faul und dumm, und er identifizierte sich selbst damit. Die Folge: „Ich war zwölf Jahre alt und fertig.“
Schulwechsel brachte die Wende
Zu Adrians Glück brachte ein Schulwechsel die Wende. Am Campus Klarenthal, einer privaten Schule mit reformpädagogischer Ausrichtung, machte er ganz andere Erfahrungen: Hier wurde er als Mensch gesehen, sagt er, konnte Freiräume nutzen, die eigenen Fähigkeiten entdecken und seine Gestaltungskraft entfalten. Er profitierte vor allem von den freien Projekten. „Der Druck war weg, und nach und nach habe ich wieder etwas in mir gespürt.“ Adrian wurde erst Klassen-, dann Schulsprecher, übersprang eine Klasse, gründete die Schulband und wurde technischer Leiter des Schultheaters. Während seiner Schulzeit hat er um die 500 Videos produziert, und direkt nach dem Abitur gründete er sein eigenes Unternehmen für Videoproduktion. Ein Studium erschien ihm nicht notwendig, denn er habe sich schon „fertig“ gefühlt, sagt er – diesmal natürlich in einem ganz anderen Sinne. „Ich musste nicht erst etwas werden, sondern ich war schon jemand.“
Eine individuelle Sache
Adrians Geschichte zeigt: Bildung ist nicht gleichzusetzen mit den schulischen Leistungen, und sie geht über das bloße Anhäufen von Wissen hinaus. Sie verdeutlicht die Defizite im herkömmlichen System, aber auch, wie individuell die Sache mit der Bildung ist. Denn nicht für jeden seien die Methoden am Campus genau das richtige, das weiß der Jungunternehmer auch.
Zusammen mit der Lucca Foundation (siehe Infokasten) und dem Schloss Freudenberg organisiert Adrian Metzger Anfang September das erste Wiesbadener Bildungsfestival – die Vision, die er auf der Bühne der sensor-Veranstaltung „Der visionäre Frühschoppen“ vorstellte, wird Wirklichkeit. Bei der dreitägigen Veranstaltung soll es auch darum gehen, individuelle Wege für sich selbst zu finden. Das elfköpfige Team will mit dem Programm Impulse für Austausch und Auseinandersetzung bieten, unter dem Motto „Mut zur Lücke“ aber gleichzeitig genügend Raum für eigene Ideen lassen – im Kleinen also ganz ähnlich, wie es Adrian während seiner Schulzeit am Campus Klarenthal erlebt hat, komprimiert auf drei Tage. „Wir wollen die Leute ermutigen, sich selbst Fragen zu stellen.“
Experiment mit offenem Ausgang – und mindestens einer konkreten Idee
Dies sind die Fragen, die die Menschen weiterbringen, da ist sich das Team einig. Auch wenn das Bildungsfestival als Experiment mit offenem Ausgang angelegt ist, haben die Organisatoren doch ein festes Ziel: Aus den – gerne auch kontroversen – Diskussionen sollen Bilder und Visionen für eine bessere Bildung entstehen, und daraus soll mindestens eine konkrete Initiative hervorgehen, die in Wiesbaden über das Festival hinauswirkt.
„Wildwuchs“ für eine neue Schule
Da ist die Elterninitiative Wildwuchs schon einen Schritt weiter. Diese ist gerade dabei, ihre Vision zu verwirklichen. Den Gründerinnen und Gründern schwebt eine Schule ganz ohne Stundenplan und Unterrichtsfächer vor, mit altersübergreifenden Klassen, wo es weder Noten noch Hausaufgaben gibt. Kinder lernen aus eigenem Antrieb, Lehrer heißen Lernbegleiter und Spielen ist die Hauptaufgabe. Um diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen, plant der Verein eine eigene Schule zu gründen. Vorbild ist die Freie Inklusive Schule (Frisch) in Erbach und Michelbach, und im Sommer 2020 soll es losgehen.
„Wir sagen nicht, dass alles andere schlecht ist“, betont Constanze Frank-Oster, Mitgründerin von Wildwuchs und selbst Lehrerin. Schlechte Erfahrungen sind es auch gar nicht, die die sechs Elternpaare aus Mainz, Hochheim und Wiesbaden zu diesem Schritt bewogen haben. Dafür sind ihre Kinder noch zu klein, nur eines geht überhaupt schon zur Schule.
Gute Erfahrungen mit „anderer“ Pädagogik
Es sind vielmehr die guten Erfahrungen mit dieser „anderen“ Art von Pädagogik. Das Team hat sich über das „APC Kinderhaus“ in Biebrich kennengelernt, das ebenfalls von einer Elterninitiative getragen wird. Auch dort läuft es schon anders als in Regelkindergärten: Es gibt nur eine altersgemischte Gruppe, und weil das Kinderhaus gleichzeitig ein Hort ist, reicht die Spanne von 15 Monaten bis 14 Jahren. „Da entstehen schon mal unerwartete Spielkombinationen“, sagt Frank-Oster. Im Kinderhaus habe sie erlebt, wie Kinder und Erwachsene sich auf Augenhöhe begegnen: „Regeln werden nicht einfach aufgestellt und durchgesetzt, sondern ausgehandelt.“ Im nächsten Jahr wird Constanze Frank-Osters Tochter Phelina schulpflichtig. „Es wäre schön, wenn das so weitergehen könnte.“
Grundschulstart im Container
Wildwuchs hat inzwischen ein Grundstück in Hochheim in Aussicht, wobei die Genehmigung der Stadt, dort eine Schule zu bauen, noch aussteht. Für den Anfang plant die Initiative noch keinen festen Bau, die zehn bis 20 Grundschüler sollen zunächst in einem Container unterkommen. Das Finanzierungskonzept steht noch nicht ganz, klar ist aber, dass der Verein einen hohen Kredit aufnehmen muss. Sogenannte „Ersatzschulen“ bekommen vom Land Hessen erst nach drei Jahren eine staatliche Förderung, erklärt Elisabeth Reimann, und dann auch nicht in gleicher Höhe wie öffentliche Schulen. „Es wird also auf jeden Fall einen Elternbeitrag geben“, sagt die Mutter von zwei Kindern. Der Beitrag soll möglichst nicht hoch sein, um niemanden seiner Herkunft wegen auszuschließen – so jedenfalls die Hoffnung.
Im Geiste von Gerald Hüther und Jesper Juul
Mit ihrem pädagogischen Konzept stützen sich die Schulgründer auf moderne wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa auf die Arbeiten des Neurobiologen Gerald Hüther oder die des kürzlich verstorbenen dänischen Familientherapeuten Jesper Juul. Lernen ohne Angst und ohne Druck soll die intrinsische Motivation entfachen. „Im Kern heißt das, dem Kind zu vertrauen“, sagt Constanze Frank-Oster, „darauf, dass es selbst weiß, was es braucht und es sich nimmt.“ Dafür steht in Anlehnung an die Montessori-Pädagogik anregendes Material bereit und bietet Anreize zum selbstbestimmten Lernen. Außerdem setzen die künftigen Lernbegleiter auf den unmittelbaren Lebensweltbezug: Die Kinder werden selbst verantwortlich für die Mahlzeiten sein, vom Essensplan über das Einkaufen bis zum Kochen. „Dabei erkennen sie ganz nebenbei, wie sinnvoll Lesen, Schreiben und Rechnen sind und werden es von sich aus lernen wollen.“
Keine Zensuren, aber Zeugnisse
Auch wenn es keine Zensuren geben wird, kann auf Zeugnisse nicht verzichtet werden. Bei aller Freiheit soll die neue Schule schließlich anschlussfähig, der Übergang auf weiterführende Schulen möglich sein. „Verbalbewertungen erlauben eine individuellere Beurteilung der Entwicklung der Kinder und werden auch von vielen Regelschulen geschätzt“, da ist sich Frank-Oster sicher.
Dass Regelschule nicht gleich Regelschule ist, zeigt das Beispiel der Biebricher Wilhelm-Heinrich-von-Riehl-Schule. Noten gibt es hier zwar, aber Hausaufgaben müssen auch die Riehlschüler nicht machen. Seit gut 14 Jahren ist die Schule eine Integrierte Gesamtschule (IGS). In dieser Zeit hat sie immer wieder Neues ausprobiert und inzwischen ein ganz eigenes Profil entwickelt. Dahinter stehen ein engagierter Schulleiter und ein junges Kollegium mit einem Altersdurchschnitt von unter 40.
„Schule muss sich ändern“ – Die Riehl-Schule geht neue Wege
„Schule muss sich ändern“, sagt Schulleiter Thomas Schwarze. „Die Schüler, die wir heute ausbilden, stehen dem Arbeitsmarkt 2070 immer noch zur Verfügung – was brauchen die dann?“ Es gehe also auch nicht mehr nur um die reine Wissensvermittlung, sondern auch um die nötigen Kompetenzen, um im Leben zurechtzukommen.
Den Anfang machten in der Biebricher Schule zunächst einmal strukturelle Veränderungen. Alle Kurse im Klassenverband zu unterrichten, ist für Gesamtschulen kein Standard – in Hessen dürfen das insgesamt nur sieben Schulen. Die Riehlschule war hier Vorreiter und hat damit auf das „Durcheinander“ reagiert, das durch die Aufteilung in Grund- und Erweiterungskurse mit der Umstellung zur IGS entstanden war. Über ein besonderes Modell wird seitdem außerdem in den Hauptfächern für zwei Stunden die Klassengröße halbiert. Für die Lehrer sei der gemeinsame Unterricht natürlich eine Herausforderung, „aber es hat allen gut getan“, glaubt Schwarze, der übrigens bei der letzten Landtagswahl im Schattenkabinett der SPD als Kultusminister vorgesehen war.
Projekte und Experimente – Vier Wochen ohne normalen Unterricht
„Unsere Schüler tragen ein Riesenpäckchen mit sich, das sie von daheim mitbringen“, sagt Deutschlehrerin Kerstin Quernheim mit Blick auf das sozioökonomisch eher schwache Einzugsgebiet der Schule. Daher habe sich in den letzten fünf Jahren auch pädagogisch viel getan. „Wir versuchen Unterricht anders zu gestalten, zum Beispiel projektorientiert.“ Die Riehlschule ist dabei durchaus experimentierfreudig, und so durfte die Jahrgangsstufe sieben im vergangenen Jahr auch mal längere Projektphasen ausprobieren. In diesen zweimal vier Wochen gab es keinen normalen Unterricht, alle Fächer waren einem einzigen Hauptthema untergeordnet.
In verschiedenen Workshops wurden etwa zum Thema Mittelalter Fachwerkhäuser berechnet, Balladen besprochen oder mittelalterliche Musik behandelt. Nach der „Input-Phase“ setzten sich die Schüler eigene Ziele und beendeten die Projektwochen mit einem fertigen Produkt – einem Kunstwerk, einem Theaterstück, oder was immer ihnen zum Thema eingefallen war. „Die Kinder haben es genossen, dass man ihnen zugetraut hat, alleine etwas auf die Beine zu stellen“, erklärt Theresa Studte-Rüßmann und betont, wie wichtig die Erfahrung von Selbstwirksamkeit für die Schüler sei, vor allem für ihre Entwicklung zu mündigen Bürgern. „Wir müssen mehr so arbeiten“, nimmt die Musiklehrerin aus diesem Versuch mit. Wegen des enormen räumlichen und personellen Aufwands, der für diese insgesamt acht Wochen betrieben werden musste, wird es in Zukunft jedoch eher auf einen Projekttag in der Woche hinauslaufen, so Schwarze.
Neues Rollenverständnis für Lehrer
Mit den Veränderungen an der Riehlschule geht auch ein Wechsel in der Rolle des Lehrers einher. In der Ausbildung sieht Mehtap Gün, deren Studium und Referendariat noch nicht so lange zurück liegen, allerdings noch Luft nach oben. „An der Uni gibt es nur wenige Pädagogikmodule, besonders für Gymnasiallehrer“, kritisiert die Englischlehrerin. „Die Kollegen müssen außerdem lernen Verantwortung abzugeben. Das ist nicht für alle einfach“, räumt Schwarze ein. Doch der Erfolg gibt ihm Recht: „In der 5. Klasse kommen fünf Schüler mit einer Eignung fürs Gymnasium zu uns“, sagt er. „Nach der 10. Klasse könnte ein Drittel der Schüler in die Oberstufe wechseln.“ Begeisterte Briefe dankbarer Eltern hebt er auf – für den Schuldirektor und sein Kollegium sind sie ein weiterer Ansporn, diesen Weg weiterzugehen.
(www.bildungsfestival-wiesbaden.de – Wildwuchs sucht noch Verbündete, info@wildwuchs.de – www.riehlschule.de)
Die Lucca-Foundation
Die Lucca Foundation wurde 2014 in Wiesbaden von dem Ehepaar Dr. Renée und Armin Jaschke gegründet: „In Anbetracht der gegenwärtigen globalen Bedrohungen für die Menschheit soll die Stiftung dazu beitragen, das Bewusstsein bei möglichst vielen Menschen in der Weise zu beeinflussen, dass diese alternative Denk- und Verhaltensweisen einüben und dadurch unseren Kindern und Enkeln sowie den nachfolgenden Generationen ein lebenswertes Dasein auf diesem Planeten möglich ist.“ Armin Jaschke ist im Januar 2019 gestorben. Die Arbeit der Stiftung war ihm eine Herzensangelegenheit, die seine Frau Renée nun gemeinsam mit der nächsten Generation und weiteren Freunden und Freundinnen der Lucca Foundation engagiert fortführt. www.lucca-foundation.org