Text Sebastian Wenzel
Fotos Arne Landwehr
In Wiesbaden spielen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene. Sie jagen feuerspuckende Drachen, handeln mit exotischen Gewürzen und errichten prunkvolle Paläste. Wir haben mitgespielt und dabei einiges gelernt – auch von Albert Einstein und Karl Marx.
Fjodor Dostojewski ist pleite. Jetzt braucht er Geld. Schnell. In nur 26 Tagen diktiert der russische Schriftsteller einer Stenografin seinen Roman „Der Spieler“. Darin verarbeitet Dostojewski ein traumatisches Erlebnis. Im Jahr 1865 verzockte er in der Spielbank Wiesbaden 3.000 Goldrubel. Zum Glück wurde sein Roman ein Klassiker der Weltliteratur. Das rettete Dostojewski vor dem Bankrott. Die Spielbank wirbt bis heute mit dem berühmten Gast. Und genau wie damals klackern auch heute die Kugeln durch die Roulette-Kessel. Aber Wiesbaden hat mehr verspielte Seiten als das berühmte Casino. Kleine und große Spielkinder rollen regelmäßig Würfel, ziehen Karten und bewegen Pöppel – und das ganz ohne Geldeinsatz. Sie genießen in Zeiten von iPhones, Playstations und Computern das analoge Spielevergnügen, trainieren ihr Gedächtnis, treffen neue Leute und sammeln Erinnerungen.
Der Monopoly-Sammler
„Das Spiel ist die höchste Form der Forschung.“ (Albert Einstein, Physiker)
Für die Einen ist es ein nur ein Spiel, für Andreas Guntrum ist es eine Leidenschaft. Der Geschäftsführer der Stadtentwicklungsgesellschaft Wiesbaden (SEG) sammelt in seiner Freizeit ungewöhnliche Monopoly-Ausgaben. Über hundert Schachteln stapeln sich in seinen Regalen – darunter eine Edition aus Schokolade und ein illegales Plagiat aus der Zeit des Kalten Krieges. Geweckt wurde Guntrums Leidenschaft als Kind. Seine blauen Augen glänzen, wenn er sich daran erinnert: „Jedes Jahr fieberte ich Weihnachten entgegen. Nicht weil es Geschenke gab, sondern weil wir nach der Bescherung mit der ganzen Familie zusammen Monopoly spielten.“ Als Jugendlicher reiste Guntrum nach Frankreich und stellte fest: Auch dort existiert Monopoly. Seitdem ist er infiziert. Ein lokales Spielwarengeschäft steht fest auf dem Programm, wann immer er in den Urlaub fährt oder fliegt. Guntrum sammelt vor allem exklusive Sonderausgaben. Bei der Suche danach braucht er Glück und einen Internetanschluss.
Auf Ebay ersteigerte Guntrum einen Nachdruck des Original-Spiels von 1904. Damals hieß Monopoly noch „The Landlord’s Game“ und hatte einen wirtschaftskritischen Hintergrund. Daneben liegt eine gelbe Schachtel mit grünen Streifen. „Eurobusiness“ steht in runden Buchstaben darauf. Wer die Schachtel öffnet, entdeckt darin einen viereckigen Plan mit bunten Feldern, einem Gefängnis und Ereignis- sowie Gemeinschaftskarten. Unverkennbar ein Monopoly-Klon. Guntrum fand das Plagiat auf einem Flohmarkt in Polen. Das Original war in den kommunistischen Ländern unerwünscht. Neben „Eurobusiness“ steht im Regal eine Schokoladen-Edition. Statt Plastikhäuschen und –hotels bauen die Spieler Süßigkeiten auf den Plan. „Ursprünglich war die Variante wahrscheinlich dafür gedacht, dass man sie einmal spielt und dann aufisst. Aber das macht ein Spielesammler nicht. Ein Briefmarkensammler würde auch nie auf die Idee kommen, eine wertvolle Marke auf einen Umschlag zu kleben und diesen einzuwerfen“, sagt Guntrum. Seine Lieblingsausgabe ist übrigens das Wiesbaden-Monopoly. Die Schlossallee der hessischen Landeshauptstadt ist der Schlossplatz, die Parkstraße wurde in Wilhelmstraße umbenannt. Nur eines macht Guntrum Sorgen. Er ist in seinem Beruf so eingespannt, dass er kaum Zeit hat, Monopoly zu spielen.
Spielesammler: Monopoly aus Schokolade
Die Skat-Senioren
„Menschen hören nicht auf zu spielen, weil sie alt werden. Sie werden alt, weil sie aufhören zu spielen.“ (Oliver Wendell Holmes, Schriftsteller)
Die deutschen Skatspieler haben ein Problem. Seit exakt 200 Jahren kloppen sie Karten. Die Post veröffentliche zum runden Geburtstag im September eine Sondermarke, mehrere Wikipedia-Einträge thematisieren das Spiel. Trotzdem ist Skat bedroht. Immer weniger Jugendliche lernen das Stichspiel. „Dabei fördert es das Konzentrationsvermögen“, sagt Wolfgang Göbel, Vorsitzender des Skatclubs „Rauchfrei Wiesbaden“. Er ist 65 Jahre. Jeden Dienstag treffen sich er und circa zwanzig andere Club-Mitglieder in Wiesbaden-Erbenheim. Ihr Durchschnittsalter: etwa 70 Jahre. Die Senioren schulen mit Buben und schwarzen sowie roten Karten ihre grauen Zellen. Gute Spieler merken sich, welche Karten schon ausgespielt wurden und wer wie viele Punkte hat. Für ungeübte ist das anstrengend, die Spieler in Erbenheim beherrschen diese Kunst perfekt.
Es ist still im Raum. Karten flapsen auf den Tisch. Zahlen schwirren durch den Raum: „18, 20, weg.“ Auf Zetteln notieren die Skat-Fans jedes Ergebnis – und rechnen es nach. Ordnung muss sein. Sie spielen streng nach offiziellen Regeln. Der Schriftsteller Peter Bamm hatte wohl Recht: Er schrieb einst: „Das Spiel ist das einzige, was Männer wirklich ernst nehmen.“ Beim Skatclub „Rauchfrei Wiesbaden“ gilt der Spruch natürlich auch für Frauen. Auf den meisten Tischen sprudelt Mineralwasser, alkoholische Getränke sind die Ausnahme. Der Kontakt mit jungen Leuten auch. Unter dem Raum der Skatspieler ist ein Jugendtreff. Die Anwesenden dort haben von dem Skatabend direkt über ihren Köpfen noch nie etwas gehört. Aber immerhin kennen sie das Spiel. Wer weiß, ob das in 200 Jahren noch immer so ist.
Skatklub Rauchfrei Wiesbaden
Der Spiele-Händler
„Nur Arbeit und kein Spiel macht dumm.“ (Karl Marx, Philosoph und Ökonom)
Harry Schmidt ist metaphorisch gesprochen der Dealer der Stadt. Er versorgt Spieler in Wiesbaden mit neuem Stoff. Jedes Jahr erscheinen in Deutschland über 800 neue Brett- und Kartenspiele. In Kaufhäusern und Drogeriemärkten finden Interessierte neben dem „Spiel des Jahres“ oft nur Spiele bekannter Marken wie Ravensburger, Kosmos oder Schmidt. Im Spielwarenfachgeschäft „Merlins“ am Dernschen Gelände gibt mehr zu entdecken. Im Laden von Schmidt und seinem Geschäftspartner Hubert Schönherr stapeln sich Schachteln von Kleinverlagen und Importspiele. Es ist das Paradies für Gesellschaftsspieler. Nur einer würde dort garantiert nicht glücklich werden: Andreas Guntrum, der Monopoly-Sammler. Schmidt setzt ganz bewusst auf moderne Autorenspiele und nicht auf Klassiker wie „Monopoly“ oder „Mensch Ärgere Dich nicht“. Das hat wirtschaftliche Gründe. Schließlich finden Interessierte diese und andere Spiele auch in Kaufhäusern und Drogerien. „Die großen der Branche haben oft wesentlich bessere Einkaufskonditionen als der kleine Fachhändler um die Ecke“ sagt Schmidt. „Ich setze deshalb bewusst auf die Nische.“ Anscheinend mit Erfolg. Seinen Laden gibt es seit 1984, 1988 expandierte er nach Mainz.
Das aktuelle „Spiel des Jahres“ bereitet Schmidt viel Freude. Die Auszeichnung ist weltweit der wichtigste Preis für Gesellschaftsspiele. Die ausgezeichneten Spiele repräsentieren die Vielfalt des Kulturguts Spiel. Dieses Jahr hat mit „Hanabi“ das erste Mal in der Geschichte ein kleines Kartenspiel gewonnen. Die unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers beträgt 7,99 Euro. Da haben selbst Internethändler wie Amazon keinen großen Spielraum nach unten. Beim Preisträger 2012, „Kingdom Builder“, war das anders. Der kostete ursprünglich über vierzig Euro, wurde aber schnell um die zwanzig Euro verkauft. Qualität hat anscheinend nicht immer ihren Preis. Übrigens: Die „Kingdom-Builder“-Illustrationen stammen ebenfalls von einem Wiesbadener. Er heißt Oliver Schlemmer und wurde im sensor 09/2012 vorgestellt.
Spiele und Verspieltes
Die großen Spielkinder
„Der schönste Gewinn beim Spiel ist der einer Freundschaft.“ (Deutsches Sprichwort)
Von wegen Spielen ist Kinderkram. In den Räumen der ehemaligen Stephanuskirchengemeinde, direkt am Elsässer Platz, treffen sich jeden Mittwoch ab 19 junge Erwachsene zum Spielen. Die meisten sind zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Sie besiedeln die Insel Catan, bauen Zug um Zug Eisenbahnstrecken und kämpfen in dem Fantasieland Andor gegen Drachen und Trolle. Hier kommen regelmäßig Gesellschaftsspiele, die Harry Schmidt in seinem Laden verkauft, auf den Tisch. Wir haben die Spiele-Profis nach ihren Empfehlungen gefragt und präsentieren drei Spiele: für Kinder, Familien und Spielekenner. Übrigens: Die Gruppe freut sich – wie der Saktclub „Rauchfrei Wiesbaden“ auch stets über neue Mitspieler.
Spielwiesbaden
Mit verspielten Empfehlungen
Benjamin Brachmann (24 Jahre): „Das Spiel ,Zicke Zacke Igelkacke’ funktioniert wie der Kinderspielklassiker ,Zicke Zacke Hühnerkacke’. Das Spiel trainiert das Gedächtnis und begeistert mit tollem Material.“ (Spieler: 2 bis 4 Kinder ab vier Jahren. Dauer: etwa 15 Minuten. Autor: Klaus Zoch. Verlag: Zoch)
Stefanie Schulz (29 Jahre): „Das Spiel ,Dog Royal’ ist das bessere ,Mensch ärgere Dich nicht’. Statt mit Würfeln bewegt man die Figuren mit Karten. Das macht das Spiel taktischer und unterhaltsamer.“ (Dog Royal: 2 bis 6 Spieler ab acht Jahren. Preis: etwa 18 Euro. Dauer: etwa 30 bis 45 Minuten. Autor: Johannes Schmidauer-König. Verlag: Schmidt Spiele)
Stephan Hanf (38 Jahre): „In ,Maus & Mystik’ erleben alle Spieler zusammen fantastische Abenteuer. Das besondere daran: Jede Partie erzählt ein Kapitel einer wundersamen Geschichte, das die Spieler aktiv mitgestalten.“ (Spieler: 1 bis 4 Abenteurer ab sieben Jahren. Preis: etwa 40 Euro. Dauer: etwa 60 Minuten. Autor: Jerry Hawthorne . Verlag: Heidelberger Spieleverlag.