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Ryuichi Sakamoto und Alva Noto: „Unsere Musik ist der Soundtrack zu einem Film, den es nicht gibt“

Ryuichi Sakamoto und Carsten Nicolai alias Alva Noto im Mai 2011 in London am Tag nach ihrem "summvs"-Weltpremieren-Konzert. Foto: Dirk Fellinghauer

Von Dirk Fellinghauer.

Seit fast zehn Jahren bilden der Oscar-gekrönte japanische Filmkomponist, Pianist und Schauspieler Ryuichi Sakamoto (60) und der aus Chemnitz stammende Elektro-Pionier, Bildende Künstler und Labelbetreiber Carsten Nicolai (47) alias Alva Noto eine fruchtbare künstlerische Partnerschaft. Mit ihrem fünften Album „summvs“, mit dem sie einen Zyklus von insgesamt fünf gemeinsamen Alben abschließen, geben sie seit der umjubelten Premiere im Mai 2011 beim „Short Circuit“-Festival im Roundhouse London Konzerte auf der ganzen Welt. Sakamotos Piano trifft den Elektro-Sound Alva Notos. Klavier trifft MacBook, iPad und Effektgeräte. Die Musik korrespondiert mit abstrakten Lichtfiguren auf einem LED-Band. Das Konzert transformiert sich zu einem entschleunigten Spektakel für die Sinne. Das Konzept bietet genügend Stoff für ein ausführliches Gespräch. Im Exklusiv-Interview mit Dirk Fellinghauer  verrieten die vielseitigen „Workaholic“-Künstler am Tag nach der damaligen Weltpremiere in ihrem Londoner Hotel Marriott Regent Park Besonderheiten ihrer gemeinsamen Arbeit.   

Das Publikum in London hat begeistert auf die Weltpremiere Ihres neuen Liveprogramms reagiert – wie haben Sie den Premierenabend erlebt?

Sakamoto: Wissen Sie, wir sind sehr glücklich über das Resultat des neuen Albums. Aber die Liveperformance ist ein ganz anderes Thema. Wir wussten nicht, was passieren würde, bis wir das Konzert gespielt hatten. Aber nach der ersten Aufführung waren wir sehr glücklich und erleichtert und nun fühlen wir uns zuversichtlich und sicher für unsere Tournee.

Nach Jahrzehnten im Geschäft, nach unzähligen Alben der unterschiedlichsten Art, nach Konzerten auf der ganzen Welt in verschiedensten Konstellationen macht Sie eine Premiere tatsächlich noch nervös?

Sakamoto: Ja. Ja schon. Aber Carsten ist nervöser als ich.

Was tun Sie gegen die Nervosität?

Nicolai: Wir gehen auf die Bühne.

Sakamoto: Ja genau, das ist das Beste, was man tun kann. Einfach alles vergessen.

Nicolai: Auf der Bühne verschwindet alles.

Sakamoto: Weil man so beschäftigt ist.

Mit ihrem fünften gemeinsamen Album „summvs“ ist – in Anlehnung an die fünf Anfangsbuchstaben der Alben – der von Ihnen ausgelöste „Virus“ komplett. Ist auch Ihre gemeinsame Mission erfüllt?

Sakamoto: Es gibt immer die Möglichkeit und das Potenzial, dass wir weiter zusammenarbeiten. Die Zukunft ist immer offen für unsere gemeinsame Arbeit. Wir haben ein wenig mit dem Wort „Virus“ gespielt. Wir haben aber erst vor drei Jahren bemerkt, dass die Anfangsbuchstaben der Alben das Wort ergeben.

Da steht also kein durchdachter Plan dahinter?

Sakamoto: Es war nicht geplant, nein. Als wir über einen Titel für das vierte Album nachgedacht haben, wurde uns auf einmal klar: Warte mal, das ist ja „Virus“. Also muss das fünfte Album mit einem „s“ starten. Es ist einfach ein Spiel.

Wenn wir ihre Kooperation als Virus betrachten, wie wurde er ausgelöst?

Sakamoto: Virus-Kooperation, das gefällt mir!

Nicolai: Wir haben uns in Japan kennengelernt. Das war 1997. Ryuichi war bei meinem ersten Auftritt in Tokio. Unser gemeinsamer Freund Ryoji Ikeda, der am gleichen Abend aufgetreten ist, stellte uns einander vor. Und seit dann sind wir in Kontakt geblieben. Wir schrieben uns E-Mails und fingen an, Musikdateien auszutauschen.

Sakamoto: Zu dieser Zeit habe ich an einem brasilianischen Musikprojekt gearbeitet, bei dem ich Musik von Antônio Carlos Jobim bearbeitet habe. Ich besuchte Jobim in seinem Haus für Aufnahmen, bei denen ich auf seinem Klavier spielte. Das war es ganz anderes als das, was ich mit Carsten zusammen mache. Ich kam auf die Idee, dass er vielleicht einen Remix von dieser brasilianischen Musik machen könnte. Ich fragte ihn und er sagte Ja. Ich hatte keine Ahnung, wie er mit dieser Art Musik umgehen würde. Aber das Resultat war fantastisch, ich liebte es wirklich. Die brasilianischen Musiker wollten den Remix jedoch nicht, sie mochten ihn nicht und verstanden es wohl nicht. Ich hingegen habe wirklich geliebt, was Carsten gemacht hatte. Das war unsere erste Zusammenarbeit.

Wie hat sich die Partnerschaft entwickelt über nun fast zehn Jahre hinweg?

Nicolai: Ich denke, der wirklich entscheidende Punkt war, als wir 2005/2006 mit unserem zweiten Album „insen“ auf Tour gingen. Das war das erste Mal überhaupt, dass wir unsere Stücke auch aufgeführt haben. Bis dahin war es pure Aufnahme-Arbeit im Studio. So kamen wir uns natürlich persönlich näher. Aber die andere Sache war: wenn Du eine solche Tour beendest, nimmst Du immer etwas mit. Wir haben zum Beispiel auch während der Tourneen immer Aufnahmen gemacht und Ideen entwickelt. Ich denke, diese Dinge von damals spiegelten sich anschließend sehr stark in unserer Arbeit wieder, sogar auf unserem neuen Album. Es ist wie ein Feedback der damaligen Zeit.

Sakamoto: Wir haben sogar Material für unser aktuelles Album verwendet, dass wir auf unserer damaligen ersten Tour in der Schweiz aufgenommen hatten.

Auf Ihrem Album, das Sie nun im Jahr 2011 veröffentlicht haben, sind tatsächlich Aufnahmen zu hören, die Sie vor über fünf Jahren in der Schweiz eingespielt haben?

Nicolai: Wir bekamen damals das Angebot, in der Schweiz Aufnahmen auf einem sehr einzigartigen Mikroton-Klavier zu machen. Bei diesem Klavier besteht praktisch die  komplette Tastatur aus nur einer Oktave. Das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Es wurden nicht viele dieser Instrumente gebaut. Eines besitzt die Musikhochschule in Bern.

Sie hatten also erst die Einladung bekommen, mit dem Instrument zu arbeiten, und dann haben Sie angefangen nachzudenken, was Sie damit anfangen können?

Sakamoto: Wir haben einfach Aufnahmen gemacht, ohne wirklich zu wissen, wie wir diese verwenden könnten und haben das Material deshalb erst mal beiseitegelegt. Wir hatten fast schon vergessen, dass es diese Aufnahmen gibt.

Nicolai: Ja wirklich, wir haben es eigentlich vergessen. Als wir mit den Aufnahmen für das neue Album anfingen, haben wir nachgedacht … und ich schaute im Archiv nach und entdeckte plötzlich Aufnahmen, die wir nie benutzt hatten und so hatten wir auf einmal interessantes Material.

Sakamoto: Wir haben auch jede Menge weiterer Skizzen für andere Stücke, die wir noch nicht verarbeitet haben. Es gibt also viele Möglichkeiten für die Zukunft.

Nicolai: Ja das stimmt, da schlummert noch eine Menge Material in unseren Archiven. Was wirklich interessant an diesem speziellen Klavier und an unseren Aufnahmen ist: dieses Klavier klingt sehr falsch, wenn man es spielt. Es gibt hier gerade in der Neuen Musik diese ganz bestimmte Methode zu komponieren. In diese Gebiete wollten wir uns aber nicht begeben. Wir wollten lieber dieses Material in unsere Welt holen und integrieren. Das interessante ist, dass die entsprechenden Stücke „Microon I-III“ sich gar nicht so sehr unterscheiden von den anderen Stücken von uns.

Ist das Ihre bevorzugte Arbeitsweise – die Dinge in Ihre Welt zu holen und nicht umgekehrt?

Ryuichi Sakamoto nahm sich in London viel Zeit für das ausführliche Interview mit Dirk Fellinghauer.

Sakamoto: Es passiert irgendwie auf ganz natürliche Weise.

Nicolai: Wir beginnen unsere gemeinsame Arbeit immer damit, dass Ryuichi mir Stücke schickt, die er auf dem Klavier eingespielt hat. Diese Aufnahmen lösen bei mir immer sofort bestimmte Vorstellungen und Ideen aus. Immer! Es erscheint wirklich leicht, auf diese Art zu arbeiten, es ist wirklich fantastisch.

Sakamoto: Und er ist sehr schnell!

Und Sie, Herr Sakamoto, sind Sie langsam?

Sakamoto: Nein nein, ich bin auch schnell. (lacht)

Nicolai: Er ist sehr schnell! In der Welt des digitalen Musikmachens, wenn Du im Prinzip deine Stücke immer weiter überarbeiten und verändern kannst, musst Du genau wissen, was Du willst. Wenn Du das nicht weißt, kannst Du dich sehr schnell in der Materie verlieren.

Sakamoto: Du kannst Tage über Tage damit zubringen, an Stücken zu tüfteln und am Ende kommst Du doch nicht ans Ziel.

Was ist Ihr Trick, um nicht den Überblick zu verlieren?

Sakamoto: Man muss sich einfach sehr sicher sein, was man haben und erreichen will. Aber manchmal macht es trotzdem Spaß, ohne Einschränkungen und ohne Zeitdruck zu experimentieren und herumzuspielen und alles auszuprobieren. Aber es führt nicht wirklich zum Ziel.

Nicolai: Was mir immer klarer wird, ist die Tatsache, dass das digitale Arbeiten wirklich auch ein Handwerk ist. Wenn Du dein Tool hast, mit dem Du über Jahre hinweg arbeitest, entwickelst Du Fähigkeiten, damit richtig umzugehen. Natürlich benutzt man viele Applikationen bei der Arbeit. Aber bei manchen dieser Applikationen hat man das Gefühl, zwei linke Hände  zu haben. Es erfordert viel Arbeit und Anstrengung, dass es wirklich dein persönliches Arbeitsgerät wird. Dies zu erreichen, kann Jahre dauern.

Können Sie den Moment beschreiben, wenn Handwerk sich in Kunst verwandelt?

Sakamoto: Die Kunst liegt im Detail! Das Feilen an Details oder das Experimentieren mit kleinen Dingen verwandelt Dinge automatisch in Kunst.

Nicolai: Ein wichtiger Punkt ist der, wenn Du deine Werkzeuge und Hilfsmittel vergisst, wenn Du gar nicht mehr merkst, was Du eigentlich gerade tust. Manchmal höre ich ältere Tracks an und frage mich: wie haben wir das gemacht? Wie haben wir das geschafft? Und ich kann mich gar nicht mehr an den Moment und an den Prozess der Entstehung erinnern.

Sakamoto: Genau, es geht darum, dass die Werkzeuge unsichtbar werden. Bei mir ist es ähnlich. Wenn ich mich wirklich auf das Klavier spielen konzentriere, dann vergesse ich das Klavier. Ich vergesse, dass das Klavier existiert und fühle mich völlig eins mit dem Instrument. Natürlich muss man am Klavier arbeiten und sich auch anstrengen, um die Technik zu erlernen. Das ist aber noch keine Kunst, das ist das Stadium vor der Kunst. Du musst dein Instrument vergessen.

Stand es hinter Ihrem neuen Album „summvs“ eine bestimmte Idee – einmal abgesehen davon, dass der Titel mit einem „s“ beginnen sollte?

Nicolai: Die Themen des Albums klingen auf eine Art alle so, als wären sie für einen Film gemacht – aber der Film existiert nicht. Das Album vermittelt ein gewisses kinoartiges Gefühl. Ein anderes Thema ist Zeitlupe – das Gefühl einer Zeitlupen-Kamera. Das Stück „By This River“ untersucht genau dieses Thema. Wir haben die Geschwindigkeit des Stücks um die Hälfte reduziert. Wir haben es den „Phantom“-Track genannt. Das bezieht sich auf eine Hochgeschwindigkeitskamera, die Phantom heißt. Diese Kamera kann sehr sehr viele Bilder in sehr kurzer Zeit aufnehmen. Ich denke, wir beschäftigen uns einfach mit dem Thema Zeit und damit, Geschwindigkeit herauszunehmen. Ein anderer Aspekt ist, dass dieses Album auf gewisse Weise zusammenfasst, wie wir mit Dingen umgehen oder auch die verschiedenen Strategien, wie sich Klavier und Elektronik gegenseitig beeinflussen.

 „WENN ICH IM STUDIO KLAVIER SPIELE, DENKE ICH AN NICHTS“

Können Sie Ihre Inspirationen, die Dinge, die Sie in ihrer Musik reflektieren, beschreiben?

Sakamoto: Wenn ich alleine in meinem privaten Studio Klavier spiele, denke ich an gar nichts. Vielleicht hatte ich irgendwelche Bilder in meinem Kopf, aber diese habe ich längst wieder vergessen. Ich muss in einer bestimmten Stimmung sein, aber das ist nur ein Auslöseimpuls, nicht wirklich wichtig. Es ist wirklich schwierig, diese Stimmung zu beschreiben. Sie ist in gewisser Weise meditativ, ein bisschen nostalgisch, aber nicht in dem Sinne, nur zurück zu schauen. Ich mache mir Gedanken über den Kurs, den die Menschheit einschlägt. All so etwas und das vermischt sich dann alles. Musik kann einfach nicht all diese gesprochenen Konzepte und Emotionen wiederspiegeln.

Nicolai: Die beste Vorbereitung für die Arbeit an diesem Album war für mich, die alten Alben anzuhören. Das macht es wahrscheinlich schwierig, bestimmte Worte oder Bilder dafür zu finden. Die Musik selbst ist für uns die Botschaft. Es existiert so viel Musik, die man eigentlich nur beschreiben kann anhand der Referenzen, auf die sie sich bezieht. Und wenn man diese Bezüge nicht kennt, kann man nicht wirklich verstehen, wovon die Musik erzählt. Das ist die große Schönheit der Musik: dass sie etwas in deinem Inneren entstehen lässt, dass sich nicht beschreiben lässt.

Erwarten Sie von Ihren Zuhörern, dass sie die Referenzen und Bezüge kennen und sich damit auseinandersetzen?

Sakamoto: Jede Person hat eine andere Wahrnehmung von Musik. Jeder hat die hundertprozentige Freiheit, wie er die Musik wahrnimmt. Jeder hat ganz natürlich ganz unterschiedliche Vorstellungen und Gefühle.

Nicolai: Absolut. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass man seine ganz eigene persönliche Erfahrung hat. Aber gleichzeitig kann es passieren, dass das Publikum die Emotionen, die durch die Musik ausgelöst werden, teilt.

Auf der Bühne kommt ein weiterer Aspekt zu Ihrem künstlerischen Ausdruck hinzu – der visuelle Aspekt. Wie arbeiten Sie damit?

Nicolai: Das Visuelle war für mich schon immer ein großes Thema, seit ich auftrete. Es hat sich eigentlich aus dem Fehlen der Sichtbarkeit bei meiner Performance entwickelt. Mit einem klassischen Instrument, wie dem Klavier zum Beispiel, sieht das Publikum jemanden, der etwas tut. Bei der elektronischen Musik ist nicht wirklich sichtbar, was ich da tue, und auch schwer zu verstehen. Man kann vielleicht vermuten, was ich mache, aber es ist nicht wirklich zu verstehen. Das will und kann ich nicht ändern. Aber ich kann jemand anderes für mich performen lassen – also die Musik oder die Bilder in Bewegung bringen. In  unserem Fall haben die Bilder eine weitere Funktion, sie fungieren als eine Art Brücke, die uns beide auf der Bühne umgibt und auch vereint. Ich interessiere mich sehr für Ästhetik und Visualisierung auf der Bühne. Wir beide mögen das sehr.

Sakamoto: Ich habe auch schon immer, seit vielleicht zwanzig Jahren, Visualisierungen für meine Auftritte benutzt, aus ganz ähnlichen Gründen. Unter all den Musikern auf einer Bühne sind die Spieler von Tasteninstrumenten visuell nicht attraktiv, im Vergleich zu Sängern, Gitarristen oder Bassisten. Der Pianist schaut einfach fast  immer nur nach unten auf seine Tasten. Deshalb kam ich auf die Idee, visuelle Elemente einzubauen, die das Publikum genießen kann.

Nicolai: Wir arbeiten so lange mit visuellen Elementen. Inzwischen machen es fast alle. Als wir damit anfingen, als wir zum Beispiel „Videorekorder“ auf die Anforderungsliste für Auftritte schrieben, riefen uns die Veranstalter an und sagten: Wir wollen nur eure Musik. Wir brauchen kein Video. Und wir sagten: Nein nein, das gehört zusammen. Es war am Anfang nicht so einfach zu erklären, dass visuelle Elemente wichtige Bestandteile der Show sind. Aber heute ist es ganz selbstverständlich.

Sakamoto: Sogar Rockmusiker wie zum Beispiel die Rolling Stones benutzen nun sehr exzessiv Licht und visuelle Elemente.

Nicolai: Das ist natürlich auch eine Frage der Größenordnung. Wenn du vor 50000 Leuten auftrittst, sieht das Publikum ja ansonsten nicht viel von dir.

Sakamoto: Manchmal würde die rohe, pure Band vielleicht besser klingen, wenn sie nicht von so vielen visuellen Gimmicks umgeben wäre.

Bei ihrem Premierenkonzert haben Sie mit Schwarz-Weiß-Bildern begonnen und erst später kam Farbe dazu – war das mit Absicht und entspricht das der Abfolge und dem Charakter der entsprechenden Musikstücke?

Nicolai: Die Gestaltung des Bühnenprogramms ist ein Prozess, an dem wir während der Tournee weiter arbeiten. Es war nicht unbedingt unsere Absicht, Schwarz-Weiß zu beginnen und uns dann zur Farbe hin zu bewegen. Als wir angefangen haben an den Visuals zu arbeiten, haben wir viele verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Als wir mit der Setliste, der Abfolge der Lieder, fertig waren, haben wir überlegt, welche Visuals haben wir und welche passen zu welchen Stücken? Erst als wir damit fertig waren, ist uns aufgefallen, dass es vier Schwarz-Weiß-Stücke am Anfang des Konzerts sind. Aber das war nicht unbedingt ein Konzept. Aber wir haben eine große Vorliebe für Schwarz-Weiß, das ist auch das Thema der Bühne mit dem schwarzen Klavier und dem weißen Tisch, schwarzer Leinwand … es ist sehr kontrastreich.

Sakamoto: Das Gute an der Computertechnologie ist, dass wir ganz einfach Dinge ändern und austauschen können, also die Stücke oder Inhalte oder Reihenfolgen.

Nicolai: Auf der Bühne passiert alles in Echtzeit. Das macht uns sehr flexibel, jederzeit etwas zu ändern, wenn wir das möchten. Es ist wirklich alles live, nicht nur die Musik, auch die Visuals, die von Nibo, einem japanischen Programmierer, entwickelt wurden.

Auf der Bühne während des Auftritts erscheinen Sie sehr versunken, fast wie in einer Muschel. Ist die hohe Konzentration, die Sie auf der Bühne aufbringen müssen, der Grund dafür, dass Sie nicht, außer mit der ihrer Musik natürlich, mit Ihrem Publikum kommunizieren?

Nicolai: Wir sind schon sehr beschäftigt, das stimmt. Ich mochte es nie, auf der Bühne zu sprechen oder das Publikum mit Gags zu unterhalten. Die Musik ist sehr pur und diese Reinheit sollte sie behalten. Wir haben keine Sänger, also keine Mikrofone …

Sakamoto: Nein, keine Mikrofone für Stimmen. Wenn Leute zu einem Klassikkonzert gehen, beschwert sich auch niemand, dass es keine Moderation gibt.

Bei Klassikkonzerten ist auch Zwischenapplaus verpönt. Bei Ihren Konzerten wird zwischen den Stücken geklatscht. Stört das Sie oder den Ablauf des Konzerts?

Nicolai: Nein, das ist großartig. Applaus ist etwas Schönes. Wir sehen das Programm auch nicht als ein großes klassisches Stück, sondern als einzelne selbstständige Tracks.

Sakamoto: Applaus ist okay.

Sie verstehen sich offenbar sehr gut auf der menschlichen Ebene. Wie sieht es mit Ihren Instrumenten und Ihrem Equipment aus – das Klavier auf der einen, die Elektronik auf der andren Seite? Gab es da anfangs Schwierigkeiten?

Nicolai: Es ist nicht so sichtbar und offensichtlich, aber Ryuichi benutzt die gleichen Computer wie ich und verfügt über die gleichen Möglichkeiten, mit Elektronik zu arbeiten wie ich. Nur für diese Form unserer Zusammenarbeit reduzieren wir es darauf, dass er das Klavier spielt und ich die Elektronik übernehme.

Sakamoto: Unsere Rollenverteilung hat sich ganz natürlich ergeben. Ich arbeite selbst auch sehr gerne mit dem Laptop.

Nicolai: Wir tauschen uns auch sehr rege aus, zum Beispiel auch mit Software, Plug-Ins undsoweiter. Ich habe das Gefühl, dass Ryuichi ganz genau versteht, was ich tue. Da gibt es keine Lücke zwischen uns.

Sakamoto: Anfangs habe ich genau geschaut und beobachtet, was er mit seinem Laptop macht, wie er damit arbeitet. Das war sehr inspirierend für mich. Seine Denkweise ist eine ganz andere als meine, wahrscheinlich, weil er keine klassische Musikausbildung durchlaufen hat. Das ist sehr bereichernd für mich. Er muss sich nicht an die „Gesetze“ halten. Er kann sehr abstrakt denken, vielleicht eher mathematisch oder wie in der Architektur. Das ist so inspirierend.

 „JA, ES FÄLLT WIRKLICH SCHWER, ABZUSCHALTEN“

Sie beide arbeiten an unzähligen und sehr unterschiedlichen Projekten. Wie schaffen Sie das? Wie wählen Sie Ihre Projekte aus?

Nicolai: Ich denke, es geht darum, sich einem bestimmten Projekt zu einem bestimmten Zeitpunkt deines Lebens voll und ganz zu widmen. Das erleben wir auch jetzt gerade wieder. Und wenn eine Tournee oder ein Album beendet ist, hast Du wieder Zeit, etwas anderes zu tun.  Wir haben beide unsere Soloprojekte, Ryuichi macht außerdem Filmmusik. Es ist ein ganz normaler Arbeitsprozess, dass man sich immer einem bestimmten Thema widmet.

Sakamoto: Carsten ist ein ebensolcher Workaholic wie ich es bin.

Nicolai: Ja, es fällt wirklich schwer abzuschalten.

Sakamoto: Wenn er die Geschwindigkeit drosselt, kommt er vielleicht nicht mehr zurück. Es ist wie beim Fahrradfahren, man kann einfach nicht aufhören, sonst fällt man um. Mein Alter bringt mich natürlich dazu, etwas langsamer zu werden.

Nicolai: Naja, Du bist aber weiterhin sehr produktiv. Was wir auch beide gemeinsam haben, ist eine große Neugier für Dinge unterschiedlichster Art. Neugier ist etwas, das uns sehr stark verbindet.

Sakamoto: Ja, wir sind sehr neugierig und haben ganz viele Interessen für ganz unterschiedliche Themenfelder – wie Wissenschaft, Kunst, Filme, Architektur … eigentlich fast alles … Atomenergie …

„DER 11. MÄRZ 2011 WAR DER FURCHTERREGENDSTE MOMENT MEINES LEBENS“

Zum Zeitpunkt des Erdbebens und des Tsunamis, der eine Atomkatastrophe in Ihrem Heimatland auslöste, waren Sie, Herr Sakamoto, in Tokio. Wie haben Sie den 11. März erlebt?

Sakamoto: Es war der furchterregendste Moment meines Lebens. Ich habe noch nie im Leben ein solch starkes Beben erlebt. Wir Japaner sind vertraut mit Erdbeben, das ist normal für uns. Aber dieses war komplett anders. Wir haben den Fernseher angestellt und die Bilder, die wir dort sahen, waren noch schrecklicher als das, was wir selbst erlebten. Für mich ist das alles sehr surreal. Unglaublich.

Wie beurteilen Sie das Thema der Verstrahlung?

Sakamoto: Darüber mache ich mir sehr sehr große Sorgen. Ich lebe in New York und bin deshalb selbst körperlich okay. Aber ich mache mir große Sorgen um die Menschen, vor allem die Kinder, von Fukushima. Nach dem Unglück wurden die Grenzwerte für Strahlenbelastung einfach hochgesetzt. Das wird auf jeden Fall schlimme Folgen für die Kinder haben. Wir haben eine Petition an die japanische Regierung gestartet, um das Hochsetzen der Grenzwerte zu überdenken und die Bevölkerung, vor allem Kinder, in den betroffenen Gebieten zu evakuieren. Die gesamte Region um Fukushima ist nun so stark verstrahlt wie das gefährlichste Gebiet von Tschernobyl, auch jetzt noch. Und selbst Tokio ist so stark verstrahlt wie die dritte Zone von Tschernobyl, die evakuiert wurde. Es ist also gefährlich, nach Tokio zu gehen. Eigentlich müsste man mehr als zehn Millionen Menschen evakuieren.

Nicolai: Das ist unmöglich.

Sakamoto: Ja, es ist unmöglich und natürlich habe ich dafür auch keine Lösung parat.

Verfolgen Sie, wie andere Länder auf die Katastrophe reagieren?

Sakamoto: Ja. Und ich bin sehr froh darüber, dass das Unglück in Fukushima in Ländern wie Deutschland oder Italien dazu geführt hat, dass dort die Energiepolitik überdacht wird. Wir verfügen ja bereits jetzt über eine Menge weit weniger riskanter Energiequellen – warum nutzen wir sie nicht? Es ist eine politische Entscheidung, den Kurs zu ändern.

Glauben Sie, dass nach der Atomkatastrophe auch Japan seinen Kurs in der Energiepolitik ändern wird?

Sakamoto: Wenn, dann langsam, sehr langsam. Es ist nicht wie in Deutschland. Meine Freunde und Künstler teilen alle die gleiche, atomkritische Meinung. Aber die Mehrheit der japanischen Bevölkerung ist sehr konservativ. Sie sind sehr langsam, wenn es darum geht, politische Richtungen zu ändern. Ich weiß auch nicht.  Wir sind dreißig Jahre, mehr als dreißig Jahre zurück im Vergleich etwa zu Deutschland. Es gibt auch keine grüne Partei bei uns. Es gibt immer wieder einzelne Aktionen oder Ansatzpunkte, aber eine echte Bewegung oder gar eine grüne Partei ist noch nicht in Sicht. (Diese Einschätzung Sakamotos hat sich in der Zwischenzeit überholt, wie hier zu lesen ist. Anm. d. Verf.)

Wären Sie selbst bereit, sich politisch zu engagieren?

Sakamoto: Oh nein, ich selbst möchte mit Politik lieber nichts zu tun haben. Ich wäre sicher ein schlechter Politiker.

Wie beurteilen Sie den Umgang der japanischen Medien mit Fukushima und den Folgen?

Sakamoto: Das ist der kritische Punkt. Die Massenmedien werden bezahlt von Tepco, der Eigentümer-Firma der Fukushima-Kraftwerke. Es geht um sehr viel, um sehr sehr viel Geld. Deshalb befürworten die Massenmedien natürlich die Atomenergie. Aber glücklicherweise gibt es das Internet und auch unabhängige Medien gewinnen an Bedeutung. Das ist meine große Hoffnung.

In New York haben Sie Hoffnung verbreitet, als Sie bei einem Benefizkonzert für die Tsunami-Opfer das Publikum mit dem sehr einfachen berühmten Song „Smile“ von Charlie Chaplin überraschten. Wie kam es dazu? War das eine spontane Idee?

Sakamoto: Ich wollte den Opfern ein Lächeln, eine kleine Hoffnung geben. Bis heute, drei Monate nach den Ereignissen, sind noch viele Menschen evakuiert, sie haben noch nicht mal temporäre Unterkünfte. Es sind Tausende, Hunderttausende. Ich kann diesen Menschen nicht einfach sagen: Seht mal zu, wie Ihr euch erholt und wie Ihr überlebt. Deshalb wollte ich ihnen einfach ein Lächeln geben. Das war alles, was ich in dem Moment tun konnte.

Sie engagieren sich vielfältig für die Opfer.

Sakamoto: Ich tue so viel, wie ich kann, viele verschiedene Dinge. Ich gebe Wohltätigkeitskonzerte und habe verschiedene Webseiten gestartet, um Spenden zu sammeln. Ich habe privat sehr viel Geld gespendet an verschiedene Organisationen. Ich habe einen Charity-Klingelton für die Opfer des Tsunami komponiert. Die Leute können ihn gegen eine Spende herunterladen. Es wird ein langer Prozess sein, bei dem jeder so viel tun sollte, wie er kann.

 

Sie haben auch schon mal einen kommerziellen Klingelton komponiert.

Sakamoto: Ja, vor einigen Jahren habe ich einen Klingelton für Nokia gemacht.

Wenn Ihr Telefon klingelt, hören wir dann diesen Ton?

Sakamoto: Nun, ich habe ein Smartphone, also kann ich meinen eigenen Klingelton nicht benutzen.

Nicolai: Wir könnten es aber mal ausprobieren, das müsste doch funktionieren.

Sakamoto: Ach ja, ich kann natürlich meinen Klingelton auf mein iPhone importieren.

„BEWEGEN SICH IM COCOON CLUB NICHT DIE WÄNDE?“

Auf Ihrer Europatournee werden Sie in Frankfurt an einem außergewöhnlichen Konzertort auftreten, dem Cocoon Club von Techno-Star-DJ Sven Väth. Wie kam es dazu?

Nicolai: Das war eine Idee unseres Tourneeveranstalters, der aus Frankfurt kommt. Das passt auch gut, weil viele Techno-DJs wie Sven Väth oder Ricardo Villalobos, das Yellow Magic Orchestra und Ryuichis Pionierarbeit bewundern und verehren. Das wird ein sehr spannender Abend, denn unsere Show ist nicht wirklich gemacht für eine solche Art von Location. Wir müssen unsere Show sicher der Situation, die wir dort vorfinden, anpassen.

Kennen Sie den Club?

Nicolai: Ich war noch nie dort. Ich kenne den Ort nur von Bildern, die ich gesehen habe.

Sakamoto: Bewegen sich dort nicht die Wände?

Das nicht, aber man kann Bilder auf die unterschiedlich geformten Wände projizieren, die wie Waben sind. Ist Ihnen denn Sven Väth vertraut, Herr Sakamoto?

Sakamoto: Nein.

Nicolai: Er ist eine Schlüsselfigur des deutschen Techno. Aber er hat, tut mir leid, wenn ich das sagen muss, musikalisch nicht sehr einflussreich. Er ist eher einflussreich als Figur. Er macht Musik, er ist DJ, aber er ist vor allem eine Schlüsselfigur, der die Massen in Clubs lockt, die er in Frankfurt und Ibiza betreibt. Er ist ein großer, starker Kommunikator, der Menschen zusammenbringt. Es ist eher Popmusik, was er macht.

„DAVID BOWIE? NETT BEI DEN DREHARBEITEN, SUPER-ROCKSTAR BEI DER FILMPREMIERE“

Ein ganz anderes Thema, Herr Sakamoto: 1983 zu dem Film „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ haben Sie nicht nur den vielbeachteten Soundtrack geliefert. Sie haben in der Hauptrolle des Lager-Hauptmanns gemeinsam mit David Bowie vor der Kamera gestanden. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?

Sakamoto: Während der Dreharbeiten war es toll, David Bowie war sehr nett und angenehm. Aber als wir uns bei der Filmpremiere wiedertrafen, war er wie ausgetauscht. Auf einmal gab er den Super-Rockstar, der er natürlich auch war, aber ich kam mir sehr seltsam vor an seiner Seite. Er war vor den ganzen Scheinwerfern und Kameras wirklich eine komplette andere Persönlichkeit.

Die letzte Frage an den Oscar-Preisträger Ryuichi Sakamoto: Wie geht es Ihrem „Oscar“? Wo bewahren Sie die Statue auf?

Sakamoto: (denkt nach) Oh, das weiß ich gar nicht. Er muss irgendwo in Japan sein. Aber ich kann mich nicht erinnern, wo er steckt. Ich muss mal nachschauen.

www.sitesakamoto.com

www.raster-noton.de

– Fotos (c) Dirk Fellinghauer / sensor –