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Stil trifft Statement – Mode aus Wiesbaden: Erkundungen zwischen Streetwear, Haute Couture und Botschaft 

Von Julia Bröder. Fotos Samira Schulz, privat.

Rechts der Nassauer Hof, links das Bowling Green, ein weiter Blick über „die Rue“ Richtung Reisinger-Anlagen: Mit ein bisschen Fantasie könnte man sich vorstellen, man flaniere über die Champs Élysées, findet die Modedesignerin Lara M. Renner. Die Architektur und das Flair von Wiesbaden hätten durchaus etwas Pariserisches an sich. Aber sind wir eine Modestadt? „Eher nicht.“ Ja, die Wiesbadener:innen haben Geschmack – und viele auch das nötige Kleingeld, um sich stilvoll und qualitativ hochwertig zu kleiden. „Aber zur Modestadt fehlen die mutigen Wiesbadener“, findet Renner. Ihre Kollegin Galatea Ziss bemerkt: „Trends kommen hier immer mit etwas Verspätung an.“

Tatsächlich galt Wiesbaden bisher nicht gerade als Hauptstadt der modischen Statements: zu alt, zu brav, zu bieder. Doch gerade tut sich etwas – auch, was den Umgang mit Mode jenseits reiner „Klamotte“ angeht.

Mode in der Zukunft: Konzepte junger Designer:innen

Seit 2019 hat die Akademie für Mode & Design (AMD) neben Hamburg, Berlin, München und Düsseldorf auch einen Standort in Wiesbaden, angedockt an die Hochschule Fresenius in der Moritzstraße. Und nach den coronabedingt ruhigen Anfangsjahren konnten die Studierenden jetzt ihre Arbeit endlich auch zeigen. Unter dem Titel UNFOLD3 veranstaltete die Akademie eine aufwändig inszenierte Schau im Landesmuseum mit knapp 150 Outfits als Abschluss- und Semesterarbeiten.

In der einzigartigen Kulisse der Wandelhalle präsentierten dort auch Nicolas Kraft und Nina Sterling ihre Kollektionen. Kraft hatte sich dafür mit einer Gesellschaft beschäftigt, deren Zivilisation durch den Klimawandel zerstört wird und die dadurch gezwungen ist, zum Nomadentum zurückzukehren. Seine Entwürfe verbinden ein klinisches, steriles Weiß mit praktisch-robusten Elementen. Kommilitonin Sterling machte das Element Wasser und den Umgang damit zum Thema ihrer Kollektion. Die Teile stellen die unterschiedlichen Aggregatszustände dar – von Eis über Flüssigkeit bis hin zu Dampf. Recherchiert und sich inspiriert hat die 22-Jährige auch in der Ausstellung „Alles im Fluss“, die noch bis 2024 im Landesmuseum zu sehen ist.

Street Casting für die Modenschau

Zugegeben: Nina Sterling und Nicolas Kraft sind nicht der Stadt wegen zum Modestudium nach Wiesbaden gekommen. Sie wohnen auch nicht hier, sondern in der Region. Trotzdem sind sie von der Offenheit der Stadt angetan. Zwei der Models für ihre Modenschau haben sie zum Beispiel über ein Street Casting gefunden. Auch AMD-Professorin Ilona Kötter sagt: „Nach Wiesbaden zu gehen, war für uns zunächst ein geografisch logischer Schritt, der aber auch über die gute Lage hinaus viele Vorteile brachte.“

Durch die überschaubare Größe sei die Stadt so gut vernetzt, dass sich Veranstaltungen wie sie Schau im Museum viel leichter umsetzen ließen als in Berlin oder Hamburg. Für die zweite Jahreshälfte ist ein Projekt mit dem Hessischen Staatsballett geplant. Ilona Kötter wünscht sich von ihren Studierenden, „dass sie das erfinderisch und frei von allen Konventionen angehen.“ Denn für die AMD bedeutet Mode mehr als Kleidung. Mit ihrer Arbeit wollen – und sollen – die Studierenden gerne politisch werden, Konsummuster hinterfragen und wachrütteln.

Wear it on Snapchat: Digitale Polit-Mode

Auf radikale Weise hat das Àrmin Ludl bereits getan. Für seine Bachelorarbeit im Fach Kommunikationsdesign an der Hochschule Rhein-Main entwickelte er eine Kollektion, die in Sachen Nachhaltigkeit kaum zu toppen ist – denn sie findet rein digital statt. „Anziehen“ kann man seine Mode in Form eines Snapchat-Filters. Sinnvoll ist Augmented Reality-Mode aus Sicht des Nachwuchs-Kreativen zum Beispiel für Influencer, die ihren Followern online jeden Tag ein neues Outfit präsentieren – all die umweltschädlichen Parameter aus Produktion und Transport könnten so wegfallen.

Interessant ist Ludls Kollektion aber auch auf einer weiteren politischen Ebene: Er möchte damit Aufmerksamkeit schaffen für die Benachteiligung, die Menschen der LGBQTIA+ Community in vielen Ländern noch immer erfahren. Dafür hat er unter dem Motto „Queerness meets Tradition“ Trachten aus drei osteuropäischen Ländern mit queerfeindlicher Gesetzgebung interpretiert und alte Muster aufgebrochen, um sie in einem neuen Kontext zugänglich zu machen. Ludl kommt selbst aus Ungarn und studiert seit 2018 in Wiesbaden. Auch er findet: Modisch ragt die Stadt nicht unbedingt heraus, seiner Arbeit sei man aber mit einer großen Offenheit begegnet. Zum Beispiel im Kurhaus, wo man ihm ohne zu zögern kostenlose Räume zur Verfügung stellte, um einen Fashion Film zu drehen.

Kontrapunkte zu Fast Fashion

Im Abschlussjahrgang 2022/23 war der Kommunikationsdesigner übrigens nicht der Einzige, der sich mit dem Thema Mode beschäftigte. Eine Kommilitonin entwickelte mit „wellbeing“ eine Streetwear-Kollektion, die Menschen dabei helfen soll, einen mental und physisch gesünderen Lebensstil zu führen. Eine andere cyclete für ihr Label „blue“ ausgediente Jeans up und setze so ebenfalls ein Zeichen für einen nachhaltigeren Umgang mit Fashion.

Fest steht: Jeder, der Mode macht, verkauft oder trägt, muss sich früher oder später damit auseinandersetzen, welche Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft das hat. Spannend sind theoretische Konzepte, wie sie etwa an den Hochschulen entstehen. Aber auch auf der praktischen Ebene gibt es in Wiesbaden durchaus Protagonisten, die der Fast-Fashion-Industrie etwas entgegensetzen.

Haute Couture für die Wiesbadener Society

So fertigt Lara M. Renner unter ihrem Label Lara Loca jedes ihrer Kleidungsstücke individuell und an der eigenen Nähmaschine an. Gelernt hat sie das Schneiderhandwerk unter anderem bei der Wiesbadener „Grande Dame“ Lollo Grund und deren Label Elise Topell Couture auf der Wilhelmsstraße. Als Handwerkerin sieht sich Renner aber nicht, eher als Künstlerin. Ihre Mode soll zeitlos sein und die Persönlichkeit der Trägerin – Renner bedient ausschließlich Frauen – in den Vordergrund stellen. Wenig überraschend: So ein Einzelstück muss man sich leisten können, ein Hosenanzug etwa kostet zwischen 3.000 und 5.000 Euro.

Trotzdem kommen ganz unterschiedliche Frauen zu Renner. Aktuell hängen in ihrem Atelier in der Walkmühlstraße Einzelstücke für Kundinnen zwischen Anfang 20 und Ende 80: ein pinkes Minikleid komplett aus Spitze, dessen Trägerin damit auf einer Party jede Menge Haut zeigen möchte. Oder ein florales Abendkleid für eine Schauspielerin, das seinen großen Auftritt in Cannes haben soll haben soll.

Abnehmbare Krägen

„Viele Kundinnen kommen immer wieder zu mir“, sagt Renner. „Sie wissen, was sie wollen, verlassen sich aber bei der Interpretation ihrer Vorstellungen auf mich.“ Die Designerin arbeitet beispielsweise gerne mit abnehmbaren Krägen, sodass sich einzelne Kleidungsstücke zu unterschiedlichen Anlässen tragen und kombinieren lassen. Ihre Materialien bestellt sie in Katalogen, vieles findet sie aber auch in kleinen Geschäften auf Reisen. „Zweimal im Jahr muss ich nach Mailand, um den internationalen Modeflair nach Wiesbaden zu holen“, sagt sie lachend. Ihre Modetipps für den Frühling: Colour-Blocking, 70er-Vibes, Farben wie Knallgrün, Pink und Gelb sowie gerade Schnitte, zum Beispiel als Marlenehose.

Individuelle Wohlfühlmode

Nicht ganz so „couturig“, aber ebenso individuell ist die Mode von Galatea Ziss. Sie hatte bis 2021 ein prominent gelegenes Atelier am Kaiser-Friedrich-Ring. Als hier die Türen schlossen, hätte man durchaus denken können, dass „so etwas sich nicht hält“ – erst recht nicht in Corona-Zeiten. Aber das Gegenteil war der Fall. „Während Corona wollten viele Menschen lokales Handwerk und Einzelhändler unterstützen, das Geschäft lief eigentlich nicht schlecht“, so Ziss. Aber der Standort hatte viele Nachteile: zu einsehbar, zu laut, zu kalt. Jetzt sitzt Galatea Ziss mit ihrem Label in einer Altbauwohnung im Rheingauviertel und stellt – nach einer unfreiwilligen Auszeit durch einen Unfall – weiterhin Maßanfertigungen für größtenteils Damen her. Ihren Stil beschreibt sie als zeitgemäß mit klaren Linien, aber verspielten Details. „Ich mag Farben, Muster und Strukturen.“ Die meisten ihrer Kundinnen zwischen 30 und 60 tragen ihre Teile tagsüber, Abendroben und Anlassmode fertigt sie seltener an.

Fashion follows body – nicht umgekehrt

Galatea Ziss ist es wichtig, dass die Trägerinnen sich wohlfühlen. „Die Kleider sollen sich an den Körper anpassen und nicht umgekehrt“, so ihr Statement für mehr Body Acceptance: „Ein Kleid eine Nummer kleiner zu nähen, nur weil die Kundin sich vorgenommen hat, abzunehmen, entspräche überhaupt nicht meiner Ideologie.“ Auch, um sich vor ihr einkleiden zu lassen, braucht man Zeit und Geld. Der Preis für ein Tageskleid liegt im oberen dreistelligen Bereich. „Dafür passt es besser, ist langlebiger und damit auch nachhaltiger als Mode von der Stange“, so Ziss. Trotzdem möchte sie in Zukunft stärker auf Konfektion setzen und so ihre Mode etwas günstiger und auch niedrigschwelliger zugänglich machen. Die Planungen dafür stehen noch am Anfang, aber klar ist. „Die größte Größe wird auf keinen Fall eine 42 sein!“.

Maßgeschneidertes für Herren gibt es übrigens bei Birkhoven. Das „Birkhoven Atelier Zimmer“ in der Moritzstraße ist eines von mehreren in Deutschland verteilten Franchise-Ateliers, in denen die Eltviller Gründer Laura und Klaus Radermacher ihr Konzept – Individualität, Nachhaltigkeit, Service und Qualität mit einem „Preis der nicht höher ist als der für ein vergleichbares Kleidungsstück bekannter Marken“ zu verbinden – umsetzen lassen.  Auf den Leib geschneiderte Herrenmode mit einem ganz eigenen Stil gibt es bei „Jourdan Mode nach Maß“ in der Oberen Webergasse.

Maßcouture mit Schätzen aus dem Kleiderschrank

Ein Maßatelier für Damen und Herren betreibt Isabel Loureiro in der Altstadt. Ein besonderes Augenmerk legt die Portugiesin bei ihrer „Maßcouture“ auf Nachhaltigkeit und Wiederverwendung von Stoffen: „Aus kleinen und großen Schätzen in den Kleiderschränken können tolle, neue Outfits kreiert oder vorhandene angepasst werden.“ Genau diese Philosophie verfolgt auch, direkt um die Ecke in der Schellenbergpassage, Esther Stannehl mit ihrem Laden Fashion & Fur unter dem Motto „Alter Pelz – Neuer Style“.

Nachhaltiges im Sinne von ausgefallen und individuell, hoher Qualität, persönlicher Beratung und Zeitlosigkeit finden Modebewusste ebenfalls rund um die Häfnergasse in ausgesuchten Boutiquen wie a:dress, Livenza und La Gamine oder auf der Wilhelmstraße bei Honghong Riegger auf der Wilhelmstraße in ihrer „conceptual platform connecting fashion, art and lifestyle“ namens Mooon.

Gute-Laune-Mode

Gute Laune pur gibt es bei Schönwetterfront – ein originelles Label mit eigenem Laden in der Scheffelstraße. Hier ist alles selbst, und wenn anderswo, dann ausdrücklich fair produziert. Gerade kam in auf 50 Stück limitierter Kleinauflage das zweite Hawaiihemd-Motiv heraus, das der hessischen Landeshauptstadt gewidmet ist. Vom Kurpark über Neroberg bis hin zum Schlachthof gibt markante Orten zu entdecken. Abgerundet wird die Wiesbadener Hommage an die freudebringenden Kurzarmhemden aus Amerika durch einen „Viva las Wiesbaden“-Schriftzug im Las Vegas-Stil.

Vor Ort shoppen: Streetwear für den normalen Geldbeutel

Mode made in Wiesbaden. Es gibt sie also – konzeptionell sowie „in echt“ und analog tragbar. Aber was ist, wenn das Budget nicht reicht für ein Tageskleid à la Ziss oder gar eine Abendrobe von Lara Loca? Wo können sich Wiesbadener:rinnen mit kleinerem Portmonee einkleiden, und das vielleicht sogar nachhaltig?

Dass es die Innenstadt nicht gerade leicht hat, kleinere, individuelle Geschäfte zu halten, ist schon lange klar. Laut IHK haben 31 Firmen aus dem Bereich Einzelhandel mit Schuhen und Bekleidung ihren Hauptsitz in Wiesbaden, dazu kommen 103 Zweigstellen – die großen Fast-Fashion-Ketten mitgerechnet. Luvgreen Fair Fashion in der Saalgasse ist Geschichte. Dafür läuft dort der neue Miniladen 16 qm – second hand and brands gut an. Bei Artrium in der Marktstraße lassen sich vereinzelt nachhaltige, in jedem Fall aber hippe Labels finden. Dem großen Trend zum Second Hand-Lifestyle wird Vintage Revivals in der Luisenstraße gerecht, demnächst eröffnet Vinokilo seinen – nach Mainz – zweiten stationären Laden in prominenter Wiesbadener Lage.

Der allgemeinen Skepsis gegenüber dem lokalen Einzelhandel zum Trotz hat Maximilian Schubert in der Ellenbogengasse einen Concept Store mit Streetwear eröffnet. Hier verkauft er unter anderem die Labels „Kleinigkeiten“ und „Got Bag“ aus Wiesbaden und Mainz. Außerdem in den Regalen: seine eigene Marke „Bavard“, die auch dem coolen Laden den Namen gab. Das heißt so viel wie gesprächig. „Ich möchte, dass hier jeder etwas findet, in dem er sich wohlfühlt“, so Schubert. Außerdem will er in seinem Laden Events veranstalten – Weinprobe, Käseabend oder eine After Work Lounge namens „Thank god it’s Friday“. Denn: Mode aus Wiesbaden ist mehr als Kleidung – sie ist politisches Statement und Persönlichkeitsausdruck. Und manchmal macht sie eben einfach nur Spaß.