Mit dem Ausstellungsprojekt „Curriculum Vitae (C.V.) – Intellektuelle Freihandelszone“ öffnet der Nassauische Kunstverein Wiesbaden seine Ausstellungsräume in der Wilhelmstraße für fluchtbedingt neu in der Region angekommene Künstlerinnen und Künstler. Zur Eröffnung am Freitag, dem 15. Januar, um 18 Uhr wird der aus Damaskus geflohene Musiker Aeham Ahmad (Foto) ein Konzert im Kunstverein spielen. In seiner Heimat platzierte er sein Klavier auf einem Karren und spielte, um Hoffnung zu spenden, in den vom „IS“ sowie dem Assad-Regime zerstörten Straßen des Stadtteils Jarmuks unter Lebensgefahr – im Dezember 2015 erhielt der Pianist, der mittlerweile in Wiesbaden lebt, den Beethovenpreis für Menschenrechte.
„Gerade für Künstlerinnen und Künstler ist es meist schwer, in einem neuen Umfeld Fuß zu fassen, da das persönliche Netzwerk mitentscheidend für den eigenen Erfolg im Kunstbetrieb ist“, erklären die Initiatoren. Hier leistet der bereits 1847 aus dem Demokratieverständnis gegründete Nassauische Kunstverein einen wesentlichen Beitrag über die Willkommenskultur hinaus und trägt aktiv zur Integration der in der RheinMain Region neu angekommenen Künstlerinnen und Künstler bei: „Der Weg in den europäischen Kunstbetrieb soll geebnet, die Stimmen ihres künstlerischen Anliegens hörbar gemacht werden.“
Flucht schafft Bruch im Lebenslauf – und dann?
Das persönliche Curriculum Vitae, also Lebenslauf, erfährt durch eine Flucht einen massiven Bruch. Was passiert nach einer solchen Unterbrechung? Wie kann die individuelle Biographie sinnvoll und inhaltsreich fortgeführt werden, wenn das reine Überleben wieder gesichert ist? Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, da es in ihrer Heimat keine Lebensgrundlage mehr für sie und ihre Familien gab, befinden sich persönlich in einer extremen Übergangssituation. Häufig mangelt es unter den beengten Umständen der Übergangsunterkünfte an wichtigem Freiraum zur individuellen künstlerischen Entfaltung und somit an Arbeitsraum.
„Das Haus bleibt offen“ – Mehrsprachige Einladung
Daher bot der Nassauische Kunstverein Wiesbaden zwischen dem 15. Dezember 2015 und 10. Januar 2016 kostenlosen Atelierraum und Material zum kreativen Arbeiten an. „Das Haus ist groß genug und bleibt offen. Es ist noch Raum für Künstlerinnen und Künstler, die erst verspätet von dieser Möglichkeit erfahren haben!“, so das Signal des Kunstvereins, der die Einladung als „Open Call“ mehrsprachig veröffentlicht hat (Foto).
Künstlerische Arbeit ohne Einengung
Die bisher in der Atelierphase entstandenen Werke sowie bereits bestehende Arbeiten der beteiligten Künstlerinnen und Künstler erhalten Einzug in die Ausstellung, die bis 28. Februar zu sehen sein wird. Bewusst wurde bei der Konzeption der Ausstellung auf ein überlagerndes, titelgebendes Thema verzichtet, um die Künstler, die bisher nur die Erfahrung der Flucht miteinander teilen und teilweise sehr verschiedene kulturelle Hintergründe haben, thematisch nicht einzuengen.
Mit dabei ist die 2014 aus Kabul, Afghanistan, geflüchtete Sara Nabil (Foto), die wir im Oktober im sensor vorgestellt hatten und für die sich seither viele Türen geöffnet haben. Sie verarbeitet in ihrer raumgreifenden Mixed Media-Installation sehr eindringlich ihre vom Warten und Unsicherheit geprägte Zeit im Erstaufnahmelager in Deutschland. Ihre Fotografien aus dem Vorjahr hingegen befassen sich noch stark mit ihrer Situation als Frau in ihrem Heimatland und zeugen von Gewalt und Unterdrückung. Außer ihr werden in der Ausstellung Ibrahim Alawad, Mohammad Alsaadi, Emad Korkis, Mariam Nabil Kamal und Zohra Noori ihre ganz unterschiedlichen Arbeiten zeigen.
Kunst-Koffer mit Bildern geflüchteter Kinder dabei
Die Kunst-Koffer und deren Gründer Titus Grab bieten Kindern die Möglichkeit, sich künstlerisch auszuleben.Das Projekt ist mit großem Erfolg auch in Wiesbadener Flüchtlingsheimen präsent – so entstand unter dem Titel „Zuflucht gefunden?“ eine umfangreiche Sammlung an Bildern, die ebenfalls Bestandteil der Ausstellung sein wird und in denen die Träume, Ängste und Erwartungen von geflüchteten Kindern ihren Ausdruck finden.
Das Projekt wird vom Kulturfonds Frankfurt RheinMain im Rahmen seines Themenschwerpunktes TRANSIT gefördert. Kulturfonds-Geschäftsführer Helmut Müller wird bei der Ausstellungseröffnung sprechen. Die Leiterin des Nassauischen Kunstvereins, Elke Gruhn, wird in die Ausstellung einführen. Außerdem gibt es eine Lyrik- und Musikperformance mit Emad Korkis und Enkhtuya Jambaldorj.
Umfangreiches Begleitprogramm
Auch ein umfangreiches Begleitprogramm wird es geben, zum Beispiel eine Entdeckerführung für Kinder ab 8 Jahren als interaktive Expedition durch die Ausstellung (16. Januar, 15 bis 17 Uhr) und Bildbetrachtungen und offenes Gespräch mit Titus Grab zum Thema „Zuflucht gefunden? Der Umgang mit traumatisierten Kindern“ (16. Januar, 16-18 Uhr) am Eröffnungswochenende sowie der Afghanische Abend „Artist Talk: Kulturszene Kabul, mit den afghanischen Künstlerinnen Sara Nabil, Mariam Nabil Kamal und Zohra Noori und kulinarischen Beiträgen“ (19. Januar, 18 Uhr), Lesung und Gespräch mit Marina Napruschkina, Künstlerin und Autorin „Neue Heimat? Wie Flüchtlinge uns zu besseren Nachbarn machen“ (Sonntag, 14. Februar, 16 Uhr) und der Syrische Abend „Artist Talk: Kunstszene Damaskus, mit den syrischen Künstlern Emad Korkis, Aeham Ahmad und Mohammad Alsaadi und kulinarischen Beiträgen“ (Dienstag, 16. Februar, 18 Uhr).
Das „NKVextra Andrew de Freitas / The Bends“, die Eröffnung findet parallel am Freitag statt, zeigt eine mehrteilige Videoarbeit des Städelschülers, die sich mit den zahlreichen und simultanen Schichten alltäglicher Wahrnehmungen und Gefühle auseinandersetzt.
(dif/ Fotos (c) Sara Nabil / Johannes Wasmuth-Gesellschaft e.V.)