Text: Alexander Pfeiffer
Fotos: Arne Landwehr
Die Definition von Behinderung trifft, so wie sie im deutschen Sozialgesetzbuch steht, auf etwa 10% der Gesamtbevölkerung zu – die wohl größte Minderheit unserer Gesellschaft. Was heißt das? Und was heißt es in unserer Stadt?
„Menschen sind behindert“, so definiert es das Sozialgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Das trifft auf etwa 10% der Gesamtbevölkerung zu – die wahrscheinlich größte Minderheit unserer Gesellschaft.
„In Wiesbaden haben gut 28.000 Menschen einen Schwerbehindertenstatus“, berichtet Johannes Weber, Abteilungsleiter für die Behindertenarbeit im Amt für Soziale Arbeit der Stadt Wiesbaden. Diesen Status bekommen Betroffene vom Hessischen Amt für Versorgung und Soziales zuerkannt. Mit der Beantragung wird der Grad der Behinderung festgestellt. Ab einem Grad von 50% erhält man einen Schwerbehindertenausweis, der dem Inhaber bestimmte Rechte und Nachteilsausgleiche zugesteht. „Wenn man den Begriff ‚behindert’ verwendet, entsteht bei den meisten sofort ein ganz bestimmtes Bild: Menschen, die sichtbar auf Hilfe angewiesen sind, denen Gliedmaße fehlen oder ähnliches“, führt Weber aus. „Das trifft aber bei Weitem nicht auf alle zu, die einen Schwerbehindertenausweis haben.“
So werden 95% aller Behinderungen im Laufe des Lebens durch Krankheit, Unfälle oder Alterung erworben, nur in 5% aller statistisch erfassten Fälle handelt es sich um angeborene Behinderungen. Während der überwiegende Teil der Betroffenen 65 Jahre oder älter ist, machen Kinder unter 3 Jahren nur 0,2% der Gesamtzahl aus. Behinderung ist also beileibe kein Randgruppen-Phänomen, sondern geht in unserer immer älter werdenden Gesellschaft alle an.
Dass die Statistik nur solche Personen erfasst, die einen Schwerbehindertenausweis auf Antrag erhalten haben, und nicht etwa all diejenigen, die ihn beantragen könnten, ist ganz bewusst so gehalten. Es gibt in Deutschland keinerlei „Meldepflicht“ oder ähnliches für Menschen mit Behinderungen. „Das hat seinen guten Grund in der Historie unseres Landes“, erklärt Johannes Weber. Auch wenn man es Gott sei Dank kaum noch glauben mag: Es ist gerade einmal 70 Jahre her, dass schwerbehinderte Menschen in Deutschland als „lebensunwertes Leben“ bewertet, auf staatliches Geheiß sterilisiert und getötet wurden.
Inklusion – was heißt das?
Die 2006 verabschiedete UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen stellt klar, dass die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft kein Akt der Fürsorge oder der Gnade ist, sondern ein Menschenrecht. Deutschland hat genau wie 152 weitere Länder dieses Übereinkommen unterzeichnet und sich somit dazu verpflichtet, es in nationales Recht umzusetzen. Dazu gehören der Abbau von Barrieren, die eben dieser Teilhabe im Wege stehen, die Garantie von persönlicher Mobilität, Gesundheit, Bildung, Beschäftigung und Rehabilitation sowie die Gleichstellung vor dem Gesetz und im Alltag. Das gesellschaftliche Ziel lautet Inklusion: Ein Miteinander, das niemanden ausschließt und Heterogenität als reguläre Gegebenheit akzeptiert.
„Wenn Anderssein normal ist – das ist Inklusion“, so umschreibt es das YouTube-Video „Inklusion in 80 Sekunden erklärt“ der Aktion Mensch. Der Namenswechsel der Förderorganisation, die bis zum Jahr 2000 noch als Aktion Sorgenkind bekannt war, ist Ausdruck der Abkehr von einer rein medizinischen Definition von Behinderung, nach der ein Mensch aufgrund bestimmter körperlicher oder geistiger Handicaps behindert ist. Die soziale Definition von Behinderung nimmt auch die Umweltfaktoren, die Barrieren in den Blick, durch die ein solcher Mensch behindert wird.
Wiesbaden barrierefrei
In Wiesbaden erhielt unlängst die von der Volkshochschule (vhs) genutzte Villa Schnitzler das 125. Zertifikat für Barrierefreiheit, vergeben vom Sozialdezernat der Stadt. Über die Zugänglichkeit und barrierefreie Gestaltung von Institutionen und Einrichtungen des alltäglichen Bedarfs informiert die Internetseite www.wiesbaden-barrierefrei.de.
Einer, der intensiv an der Verwirklichung der “barrierefreien Stadt” mitarbeitet, ist Joachim Mast. Früher Kriminalkommissar beim BKA, ist er seit fast 10 Jahren Vorsitzender des Arbeitskreises der Wiesbadener Behindertenorganisationen und Interessengemeinschaften Behinderter und damit das Sprachrohr für Forderungen gegenüber den Stadtverordneten, dem Land Hessen und privatrechtlichen Einrichtungen mit öffentlichem Zugang. „Man weiß mittlerweile, dass ich ein hartnäckiger Typ bin“, sagt er mit einem Lächeln. „Meistens geht man auf unsere Forderungen ein. Wenn wir doch mal abgeschmettert werden, dann in der Regel mit dem Argument, die finanziellen Mittel zur Umsetzung seien nicht vorhanden. Da ist dann die Politik gefragt.“
Aktuell ärgert er sich vor allem über das Einkaufszentrum im Erdgeschoss der Dernschen Höfe. In dem Neubau findet sich nicht eine einzige barrierefreie Toilette. „Und gleichberechtigte Teilhabe bedeutet nun mal nicht, dass die freundlichen Angestellten der Gastronomie anbieten, einen Rollstuhlfahrer aufs Klo zu tragen oder ihn auf die Automatiktoilette vor dem Karstadt hinweisen.“
Mast, der selbst sehbehindert ist, nutzt am privaten PC eine Vergrößerungssoftware sowie zur Lektüre von Büchern und Zeitungen ein Bildschirmlesegerät oder die kostenlose Ausleihe per Post der Blindenhörbücherei in Münster. Dass die touristischen Hinweisschilder, auf die man mittlerweile überall in der Stadt stößt, mit kontrastreicher Schrift versehen sind und nicht etwa Ton in Ton daherkommen, ist nicht zuletzt seiner Intervention während der Planungsphase zu verdanken.
Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede
Dass die Geburt eines behinderten Kindes einen gravierenden Einschnitt im Leben einer Familie bedeutet, können sich sicher auch Menschen vorstellen, die es nicht selbst erlebt haben. Dass aber auch Eltern mit behinderten Kindern nicht etwa ständig deprimiert und zu Tode betrübt sind, sondern Spaß haben und einen bereichernden Alltag leben, das zu vermitteln hat sich die Interessengemeinschaft von Eltern mit behinderten und nicht behinderten Kindern ALBATROS e.V. zur Aufgabe gemacht. „Wir wollen Unwissenheit und Berührungsängste abbauen“, sagt Sylvia Röpke, die mit ihrer Familie seit 12 Jahren Mitglied im Verein ist und seit einem Jahr im Vorstand mitarbeitet. „Man lernt sehr schnell, dass wir viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben.“
Der Herzstück der Arbeit von ALBATROS e.V. sind die offenen Samstagstreffen, zu denen interessierte Familien zusammenkommen, um gemeinsam zu spielen und voneinander zu lernen. Außerdem bietet der Verein, der sich komplett aus Spenden finanziert, „Geschwister-Seminare“ an, in denen auf die speziellen Bedürfnisse und die Rolle innerhalb der Familie von Kindern eingegangen wird, die behinderte Geschwister haben. Und beim „ALBATROS-Reiten“ in Mainz-Kastel finden die Kleinen ihr Glück auf dem Rücken der Pferde.
Julia, die Tochter der Röpkes, wurde mit dem Smith-Magenis-Syndrom, einem Schaden am Chromosom 17, geboren. Gerade ist sie 18 geworden, der ein oder andere wird sie aus dem Web-TV-Sender „Big City TV“ kennen, für den sie immer wieder vor der Kamera steht und Interviews führt. Hinter der Kamera steht dabei meistens Julias Vater Gérard, der den Sender neben seiner Produktionsfirma betreibt und ihn gerne dazu nutzt, auch Themen zu präsentieren, die auf Menschen mit Behinderungen hinweisen. „Ohne Zeigefinger“, wie er sagt. Seine Erfahrungen mit Kindergärten und Regelschulen, in denen seine Tochter nie einen Platz fand, bringen ihn zu dem Schluss: „Für unser Kind können wir das Thema Inklusion abhaken. Da passiert nichts mehr. Aber wir haben die Hoffnung, dass sich für die Zukunft an der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung etwas ändert.“
Gemeinsam lernen
Dass Regelschulen Kinder mit Behinderungen mit dem Argument nicht aufnehmen, die Umgebung sei für diese nicht geeignet und der Lehrplan lasse nicht die Zeit und den Raum, auf Schüler mit besonderen Erschwernissen angemessen einzugehen, ist bislang tatsächlich noch die Regel. In Deutschland besuchen lediglich 20% der Kinder mit besonderem Förderbedarf einen gemeinsamen Unterricht, in Hessen sind es sogar nur 12,3 %.
In der Initiative Gemeinsam-lernen-in-Wiesbaden finden sich deshalb seit 2010 Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung, Pädagogen und interessierte Bürger zusammen, um dem Anspruch, Kinder mit Behinderungen an der Regelschule vor Ort unterrichten zu lassen, Gehör zu verschaffen. Dem Hessischen Kultusministerium stellen sie in Sachen Inklusion ein Armutszeugnis aus. „Im zuständigen Ausschuss des Landtags geben konservative Bildungspolitiker den Ton an“, erklärt Dorothea Friedrich, selbst Mutter eines behinderten Kindes und Ehefrau des Wiesbadener Oberbürgermeisters Helmut Müller. „Die sehen in der Forderung nach Inklusion das Bestreben einer völligen Veränderung unserer Schullandschaft mit Haupt- und Realschulen und Gymnasien hin zum System Eine-Schule-für-Alle. Dabei geht ein Gutachten aus Nordrhein-Westfalen für ein tatsächliches inklusives Schulmodell gerade mal von einem Anteil von 4,9% an Schülern mit besonderem Förderbedarf pro Schule aus.“
In Wiesbaden folgen bislang nur 15 der insgesamt 80 Regelschulen dem Ziel der Inklusion und bieten einen gemeinsamen Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder an. Die meisten Kinder mit Behinderungen werden in sogenannten Förderschulen unterricht, wo sie unter sich bleiben. Immerhin eine dieser Förderschulen, die August-Hermann-Francke-Schule in der Hollerbornstraße, läuft innerhalb der nächsten Jahre aus. Die 30 dortig beschäftigten Lehrer werden an Regelschulen versetzt werden, um dort inklusiven Unterricht anzubieten. Kinder, die bislang Kandidaten für die Schule gewesen wären, sollen ebenfalls Plätze an Regelschulen erhalten. Weitere Schritte, Wiesbaden zur Modellregion in Sachen Inklusion zu machen, treiben Dorothea Friedrich und ihre Mitstreiter, unterstützt von der Wiesbadener Schuldezernentin Rose-Lore Scholz, voran.
Auch Gerhard Lebherz ist ein Verfechter der Inklusion als Bildungskonzept. Dass er als Leiter der Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule im Gräselberg damit zur Abschaffung der Schulform aufruft, die er selbst vertritt, ist ihm nur zu bewusst. An der Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung werden etwa 140 Kinder und Jugendliche zwischen 6 und 18 Jahren ganztags unterricht. Früher firmierte sie noch unter der Bezeichnung „Förderschule für Körperbehinderte“.
„Inklusion ist keine Frage von Administration“, sagt Lebherz. „Wichtiger ist, eine Kultur zu schaffen, in der es selbstverständlich ist, mit Menschen zusammen zu leben, die Erschwernisse mitbringen. Was Inklusion bislang erschwert, ist die fehlende Akzeptanz dafür, dass Menschen unterschiedlich sind.“
„Rassisten sind behinderter als wir“
Beim Besuch einer Klasse aus dem 7. und 8. Schuljahr wird schnell klar, was er meint: Zehn Schülerinnen und Schüler, drei davon Rollstuhlfahrer. Auf seinem Pult hat jeder von ihnen individuelle Förderziele stehen. Einige der Schüler waren zuvor an einer Regelschule. „Da wurde man benachteiligt, weil man anders war“, erzählt der 14-jährige Dilges. „Hier wird man respektiert.“ Jason, der seit 3 Jahren an der Schule ist, bestätigt diese Erfahrungen: „Hier kann keiner den anderen dumm anmachen. Manche finden das ja cool, sich über andere lustig zu machen. Wenn die sich in unsere Körper versetzen könnten, dann wüssten die, wie das ist.“ Max, der vor der acht Jahren an der Bodelschwingh-Schule eingeschult wurde und keine andere Schulform kennengelernt hat, fasst es folgendermaßen zusammen: „Hier wird jeder einzigartig behandelt. Jeder Mensch ist ja anders. Und diese ganzen Rassisten sind sowieso viel behinderter als man selbst!“
Tatsächlich hat es den Anschein, hier ist sich jeder seiner Einzigartigkeit in einer Weise bewusst, die den meisten Menschen abgeht. Das mag mitunter schwierig sein, es führt aber ganz offensichtlich auch zu einem umso bewussteren Miteinander. „Wir haben hier eine richtige kleine Familiengemeinschaft in der Klasse“, sagt Younesse, der erst seit einem Jahr dabei ist. Und apropos Einzigartigkeit: Klassengenie Niklas, der eine Eins nach der anderen schreibt, steuert seinen Rollstuhl mittels Fußpads. Demnächst bekommt er auch noch einen „Communicator“, eine Computersteuerung, die ihm helfen wird, das mitzuteilen, was ihm sprachlich nicht möglich ist. Und dann ist da noch Franz: Er sammelt in seiner Freizeit Informationen über die Weltkriege, Hurricans und Erdbeben. Und er kann zu jedem beliebigen Datum aus den letzten Jahrzehnten den Wochentag nennen. Wie er das macht, kann er nicht erklären. Aber dass er einzigartig ist, das muss ihm wohl niemand mehr bestätigen.
Studium auf Rädern
Ihre schulische Laufbahn hat Christine Fink bereits hinter sich gebracht und mit einem Fachabitur in Wirtschaft und Verwaltung abgeschlossen. Heute studiert sie Media Management an der Fachhochschule RheinMain und befindet sich im 5. Semester. Von ihren Kommilitonen unterscheidet sie auf den ersten Blick eigentlich nur, dass sie in einem Rollstuhl sitzt. Ihr Fachbereich ist am Standort der Hochschule unter den Eichen untergebracht. Der Studiengang umfasst die Bereiche Technik, Design und Wirtschaft. „Viele der Absolventen gehen zum ZDF“, erzählt sie. Wohin es sie zieht, weiß sie noch nicht genau. „Aber wohl eher in den Bereich Wirtschaft und Management.“
Was so selbstverständlich klingt, bedeutet für die Hochschule RheinMain Neuland: Christine Fink ist die erste Studentin ihres Fachbereichs, die das Thema Studieren mit Behinderung auf die Agenda hievt, sie schafft lauter Präzedenzfälle, ebnet den Weg für die, die ihr nachfolgen werden. Die Beauftragte für Studierende mit Behinderung oder chronischer Krankheit der Hochschule RheinMain Claudia Aymar hat ihr geholfen, beim Prüfungsausschuss Hilfsmittel genehmigen zu lassen. So bekam sie für das Schreiben der Arbeiten 20% mehr Zeit zugestanden und darf ihren Labtop benutzen – unter Aufsicht, während der Bildschirm jederzeit abgefilmt wird, um sicherzustellen, dass sie sich keine unlautere Hilfe aus dem Internet holt. Der Regieraum des Studios, in dem die Studenten ihre Prüfungsfilme drehen, bekam eigens für sie einen Treppenlift: „Das Monster“, wie ihn Annette Schultheis nennt, während sie das Gerät in Ganz setzt. Sie ist eine von acht persönlichen Assistentinnen, die Christine Fink abwechselnd rund um die Uhr begleiten – nicht nur an der Hochschule, sondern auch zuhause. Zu ihren Aufgaben gehört es unter anderem, den Kleintransporter zu fahren, der eine Ausnahmegenehmigung hat, auf dem Hochschulgelände zu parken. Für sie ist diese Tätigkeit ein Nebenjob, sie studiert Diplompädagogik an der Uni Mainz. „Man sollte ein bisschen soziales Engagement mitbringen für den Job“, sagt sie. „Eine spezielle Ausbildung braucht man aber nicht.“
„Ich werde hier behandelt wie alle anderen auch“, erzählt Christine Fink. „Manche von den Kommilitonen haben schon Berührungsängste, aber mit den Dozenten gibt es keine Probleme.“ Eine barrierefreie Toilette, die sie benutzen kann, gibt es im Nebengebäude, in die Mensa gelangt sie über den Hintereingang. Das mag nicht ideal sein, aber sie kommt damit zurecht. Dass Barrierefreiheit ansonsten durchaus noch nicht überall selbstverständlich ist, muss sie immer wieder erfahren, wenn sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist: Busfahrer, die nicht akzeptieren wollen, dass ihre Begleitperson umsonst mitfährt, obwohl das im Schwerbehindertenausweis vermerkt ist, oder die keine Lust haben, die Plattform für ihren Rollstuhl auszuklappen. Oder S-Bahn-Haltstellen, an denen sich mit dem Rollstuhl nicht vom einen Bahnsteig zum anderen wechseln lässt. „Ich bin echt positiv überrascht, wie gut das alles hier an der Hochschule funktioniert“, lächelt sie.
„Inklusion bedeutet verdammt viel Eigenverantwortung“
Seit 2007 unterhält das Wiesbadener Amt für Wirtschaft und Liegenschaften regelmäßig verschiedene Arbeitsmarktprojekte, die die Chancen von Menschen mit Behinderungen verbessern sollen, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung am allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten. Das Projekt „Neue Wege in den Beruf“ hatte zum Beispiel bis heute 90 Teilnehmer, die für jeweils zwei Jahre innerhalb der Stadtverwaltung eingesetzt wurden. Das Projekt „Friedhofsteam“, in dessen Rahmen eine angeleitete Gruppe von Teilnehmern auf den Wiesbadener Friedhöfen unterwegs ist und die dortige Pflege ergänzt, wurde gerade bis 2014 verlängert. Die Quote der Teilnehmer an diesen Projekten, die den Übergang in eine Anschlussbeschäftigung schaffen, liegt zwischen 25% und 60%.
Der Verein iba – individuelles betriebliches arbeiten e.V. mit Sitz in Erbenheim hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen mit verschiedensten Behinderungen unter fachkundiger Anleitung ein selbstbestimmtes Leben mit eigenem Einkommen zu ermöglichen. Dabei ist der gemeinnützige Verein de facto nichts anderes als ein Unternehmen, das nach streng betriebswirtschaftlichen Regeln geführt wird – mit dem einzigen Unterschied, dass hier niemand ein Interesse daran hat, Profit zu erwirtschaften. „Wir schaffen für Menschen mit Zugangsbehinderung sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze“, erklärt der Geschäftsführer P. Gerald Schwartz. „Dabei finanzieren wir uns rein über den Umsatz, sowie über Minderleistungszuschüsse.“ Diese haben in Deutschland Arbeitgeber zu leisten, die mehr als 20 Mitarbeitern beschäftigen und keine schwerbehinderte Menschen einstellen. Sie kommen dann Betrieben zu gute, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Zu den Auftraggebern von iba gehören die Stadt Wiesbaden, aber auch Firmen aus Industrie und Wirtschaft. Von den aktuell 60 Mitarbeitern, die in den Bereichen Außen- und Innenreinigung, im eigenen Elektrofachbetrieb oder im gerade neu geschaffenen „FrischerEssen“-Projekt arbeiten, das Mittagessen für Schüler in existierenden Schulküchen vor Ort zubereitet, haben etwa 70% Schwerbehindertenstatus.
Eine von ihnen ist Gabriele Hackebeil. Sie gehört zum „PutzBlitz“-Team, das jeden Nachmittag nach Schulschluss die Friedrich-von-Bodelschwingh-Schule reinigt. Sie arbeitet eine 20-Stunden-Woche, jeden Tag vier Stunden. Bezahlt wird sie nach dem Tarifvertrag für das Reinigungsgewerbe, zum Arbeitslohn kommen Sozialeistungen – mit einer 35-Stunden-Woche könnte sie sich komplett über den Job finanzieren, aber mehr als vier Stunden Arbeit am Tag sind für sie körperlich nicht möglich. „2008 war ich arbeitslos“, erzählt sie. „30 Bewerbungen habe ich damals geschrieben und bin überall abgelehnt worden. Dann hat mich das Sozialamt irgendwann zu einem Küchenjob geschickt, da musste ich schon nach einem Tag wieder gehen. Bei mit geht eben alles ein bisschen langsamer. Da haben die mir vorgeworfen, ich hätte keine Lust zu arbeiten.“ Dabei will sie genau das unbedingt, musste trotz Schwerbehindertenausweis, der ihr einen Behinderungsgrad von 80% bescheinigt, erst per ärztlichem Gutachten beweisen, dass sie chronisch krank ist, um weiter Sozialleistungen zu beziehen. „Es hört einem ja niemand zu“, sagt sie. „Andere resignieren da irgendwann. Aber ich mit meiner Goschen, ich gebe halt nicht so schnell klein bei.“
Inklusion bedeutet auch viel Eigenverantwortung
„Inklusion bedeutet auch verdammt viel Eigenverantwortung für die Betroffenen, sich Hilfe zu holen“, bestätigt Heike Lenz. Sie ist gelernte Innenarchitektin, hat Medizin studiert und leitet heute das „PutzBlitz“-Team von iba an. „Ich konnte ja mit dem Begriff Inklusion zuerst gar nicht so viel anfangen“, sinniert Gerald Schwartz. „Bis mir klar wurde, dass das genau das ist, was wir hier machen. Wir haben einen Mitarbeiter mit einer Tetraspastik, also einer Lähmung sämtlicher Arme und Beine. Der pflegt die Grünanlagen vor den Bürofenstern einer Firma. Oft stehen dann die Mitarbeiter dort am Fenster, rauchen eine mit ihm und unterhalten sich – das ist Inklusion. Gut, dass die den Begriff erfunden haben!“ Gabriele Hackebein will auf jeden Fall gar nicht mehr fort aus dem Betrieb. „Erst dachte ich: Oh Gott, die schicken mich bestimmt gleich wieder weg. Jetzt hoffe ich, ich überlebe die Rente hier. Das ist der erste Betrieb, der mich genau so angenommen hat, wie ich bin.“
UnBehindert durch Sport
Mit Lothar Herborn verfügt die Stadt Wiesbaden über einen Behindertensportbeauftragten. Als Vorsitzender von MOBILIS UnBehindert durch Sport e.V. fördert und unterstützt er Vereine in Wiesbaden, die sich im Bereich Behinderten-Sport engagieren. MOBILIS vermittelt über 20 Sportarten für Menschen mit Behinderungen, vom Rollstuhlbasketball bis zum Sportschiessen. Lothar Herborns sportliche Heimat ist der Judo Club Wiesbaden (JCW), wo er auch lange Vorsitzender war. Dort hat er 2003 die Judogruppe für geistig und körperlich behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene gegründet, die heute im Otto-Schmelzeisen-Dojo in der Sporthalle am Konrad-Adenauer Ring von Rebekka Perrier zusammen mit Tanja Strecker und Vera Willner trainiert wird.
Die Gruppe ist bunt gemischt: 16 Teilnehmer, 8 davon weiblich, 8 männlich, von Kindern im Vorschulalter bis zu Mittdreißigern ist alles dabei. Die drei Trainerinnen beginnen mit Aufwärmübungen zu Musik, dann wird in Zweierpaarungen jeweils einer vom anderen auf den Rücken gelegt und muss zusehen, wie er sich aus der Umklammerung wieder rauskämpft. „Unser Training hat sich unter betreuten Wohngruppen rumgesprochen“, erzählt Rebekka Perrier, während ihre Schützlinge schwitzen und fluchen. „Es gibt auch ein paar Ergotherapeuten, die uns empfehlen. Und natürlich den Flyer der Stadt Wiesbaden zum Thema Behindertensport.“ Sie selbst hat früher für die Damen-Bundesligamannschaft des JCW gekämpft und ist heute Förderschullehrerin. Die Mitglieder ihrer Trainingsgruppe nehmen auch an offiziellen Turnieren teil und legen Prüfungen nach einer gesonderten Prüfungsordnung für Menschen mit Beeinträchtigungen ab. Beim Training sieht man über den Judoanzügen weiße, gelbe, orange und grüne Gürtel.
Rolf Kungler (32) und Stefan De Craene (26) haben beide den orangefarbenen Gürtel. Seit sechs Jahren sind sie dabei und fest entschlossen, sich bis zum schwarzen Gürtel vorzukämpfen. „So in fünf Jahren können wir drüber reden“, meinen sie. „Wir sind beide Bäcker, da ist ein harter Job. Wir haben jetzt schon 900 Christstollen und haufenweise Plätzchen gebacken für Weihnachten. Da ist es gut, dienstags abends Judo zu haben und sich ein bisschen abzureagieren. Danach fühlt man sich besser. Und man lernt sich zu behaupten. Es geht nicht darum, wie stark du bist, sondern darum, rauszufinden, wie du den anderen aus dem Gleichgewicht bringst. Es gibt Tricks und Kniffe, selbst einen 200 Kilo schweren Fettklos aufs Kreuz zu legen.“
Etwas weniger schwergewichtig ist die Leidenschaft von Joachim Mast. Den Vorsitzenden des Arbeitskreises der Wiesbadener Behindertenorganisationen und Interessengemeinschaften Behinderter treffen wir wieder beim Tanzclub Blau-Orange e.V. in Biebrich. Seit mittlerweile acht Jahren geht er dem Rollstuhltanz nach, bei dem in der Regel jeweils ein Fußgänger einen Rollstuhlfahrer zum Partner hat. Früher mussten er und seine Partnerin nach Frankfurt fahren, um ihr Hobby pflegen zu können. Seit der Tanzclub Blau-Orange vor zwei Jahren neue barrierefreie Räumlichkeiten in Biebrich beziehen konnte, müssen sie diesen Weg nicht mehr machen. Dort tanzen jetzt regelmäßig 20 aktive Mitglieder auf Füßen und Rädern, zu denen auch die deutsche Meisterin im Rollstuhltanz Andrea Naumann gehört. Und als hätte es noch eines letzten Beweises bedurft, so zeigt sich auch hier wieder: Jeder Mensch ist anders. Und darin sind wir uns alle gleich.
Alle vorgestellten Vereine, Institutionen und Initiativen freuen sich über Unterstützung:
www.gemeinsam-lernen-in-wiesbaden.de