Von Hendrik Jung. Fotos Kai Pelka.
Manche Tiere zieht die Landeshauptstadt förmlich an. Manchmal mit Unterstützung des Menschen, mal obwohl sie unbeliebt sind. Vom Leben wilder Tiere in der Nachbarschaft.
Der Kofferraum von Nadine Vervoorts Wagen ist voll besetzt. In Käfigen sitzen ein Igel sowie ein halbes Dutzend Bilche. Zu diesen Schlafmäusen gehören ein Siebenschläfer und fünf Gartenschläfer. Vervoort hat sie in ihrer auf Bilche spezialisierten Wildstation aufgepäppelt, nun sind sie auf dem Weg zu einer Streuobstwiese zwischen Igstadt und Medenbach. Hier können sie in dem alten Baumbestand ideale Nistbedingungen finden. Die meisten von ihnen waren derart paradiesische Zustände zuvor nicht gewohnt. „Der Gartenschläfer ist sehr anpassungsfähig. Er kommt auch mit einer kleinen Wiese zurecht“, erklärt Nadine Vervoort.
Gartenschläfer-Hauptstadt Wiesbaden
Ihre Pfleglinge stammen unter anderem aus Restaurants, Hotels oder Autohäusern, wo sie natürlich nicht bleiben können. Zwischen 200 und 300 Tiere pro Jahr landen in der Wildstation, von denen sie immerhin 70 bis 90 Prozent auswildern könne. Kein Wunder, dass Wiesbaden gerne als Gartenschläfer-Hauptstadt Deutschlands bezeichnet wird. Manche der Tiere sind allerdings in sehr schlechtem Zustand.
„Es ist immer schwer, wenn man wochenlang kämpft und dann doch verliert“, berichtet Nadine Vervoort, dass es nicht nur Erfolgs- und Glückserlebnisse gibt. Zumal das einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand bedeutet.
Zurzeit hofft sie auf ein Grundstück in der Nähe ihres Wohnorts in Dotzheim für einen Ausbau der Station. Um ihr 2012 begonnenes ehrenamtliches Engagement über das Ende dieses Jahres hinaus fortsetzen zu können, bräuchte sie aber auch finanzielle Unterstützung: Aufgrund des wachsenden Arbeitsaufkommens in Zukunft bräuchte sie Personal sowie ein Dienstfahrzeug, das zur Tierrettung ausgestattet ist.
Wölfe, Wildschweine, Waschbären im Stadtgebiet
Konfliktsituationen gibt es im städtischen Bereich immer wieder. Zwar ist in Wiesbaden nicht bekannt geworden, dass während des Lockdowns plötzlich Wildtiere im Stadtzentrum spazieren gegangen sind. Allerdings ist im Februar erstmals ein Wolfsnachweis in Wiesbaden erfolgt. Das Tier wurde zwischen Ostbahnhof und Kläranlage tot im Bereich der Gleisanlagen gefunden. Zu Besuchen von Wildschweinen in der Innenstadt ist es in der Vergangenheit bereits gekommen. Für Aufsehen sorgte 2017 ein Wildschwein, das spektakulär über die Wilhelmstraße rannte.
Seit Jahresbeginn seien die Sichtungen, die meist in Sonnenberg und Rambach erfolgen, jedoch rückläufig, was Ralph Mann von der Unteren Jagdbehörde auf erhöhten Jagddruck und trockene Böden zurückführt.
Krankheiten als Anzeichen zu hoher Wildtier-Anzahl
Steigend sei jedoch die Zahl der Waschbären, die mittlerweile im gesamten Stadtgebiet anzutreffen seien. Alleine in der Innenstadt sei die Zahl der auf der Jagdstrecke gemeldeten Tiere zwischen 2017 und 2019 von 23 auf 49 gestiegen. Insgesamt hat es sich im Vorjahr um 122 Waschbären gehandelt. „Im vergangenen Jahr hat man bei Füchsen und Waschbären, auch im Stadtgebiet, vermehrt Räude und Staupe festgestellt. Der Ausbruch dieser Krankheiten ist ein Indikator für eine zu hohe Besatzdichte“, berichtet Ralph Mann.
Weder die Bejagung noch die Krankheit werde jedoch zur Ausrottung der invasiven Art führen. Als eine solche gebietsfremde Tierart, durch deren Ausbreitung eine Gefährdung heimischer Ökosysteme befürchtet wird, ist auch die Nilgans eingestuft. „Die auffälligen Ansammlungen in Wiesbaden werden dadurch verursacht, dass Nilgänse aus einem Umkreis von mehr als zehn Kilometern jeden Sommer am Warmen Damm mausern. In dieser Zeit wechseln sie ihre Schwungfedern, sind flugunfähig und fühlen sich sicher, wenn sie gemeinsam in großer Zahl in der Nähe eines Gewässers leben“, erläutert Diplom-Biologe Oliver Weirich.
Nilgänse zieht es nach Wiesbaden
Im Rahmen eines Monitorings habe er im Juli 2019 bis zu 200 Nilgänse in sechs ausgewählten Parkanlagen erfasst, während nur zwischen 50 und 80 adulte Tiere regelmäßig in Wiesbaden lebten. Die Expertenrunde, die in diesem Jahr über Maßnahmen diskutieren soll, die sich aus diesem Monitoring ergeben, konnte bislang noch nicht stattfinden. Lediglich als gebietsfremd, nicht aber als invasiv, werden die berühmten Sittiche eingestuft. Deren Zahl ist bei der jüngsten Winterzählung mit 400 Alexandersittichen und 2.813 Halsbandsittichen beziffert worden. „Die Sittiche sind inzwischen zu einem besonderen Merkmal der städtischen Parkanlagen in Wiesbaden geworden“, betont Patricia Kremer vom städtischen Umweltamt.
Sympathieträger Störche – Freude über 43 Nester
Um Sympathieträger handelt es sich auch bei den Störchen, die in Schierstein nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Brutvögel ausgeblieben sind. 1972 hat sich ein Arbeitskreis gebildet, um die Wiederansiedlung in Angriff zu nehmen, 1981 ist die Storchengemeinschaft Schierstein gegründet worden. Zu Beginn habe sich zunächst kein Erfolg einstellen wollen, weil man zwei männliche Störche gehalten habe, erinnert sich der Vereinsvorsitzende Hubertus Krahner schmunzelnd. Nach Überwindung solcher Anfangsschwierigkeiten kann die Arbeit der Ehrenamtlichen heute nur als Erfolg bezeichnet werden. „In diesem Jahr haben wir 43 Nester, so viele wie nie zuvor“, berichtet Hubertus Krahner.
Wiesbadener Zugvögel in Mali und Israel gesichtet
Neu sei auch, dass man rund um das Gelände des Wasserwerks Schierstein Jungtiere in verschiedenen Größen beobachten könne. „Als Ende April die letzten kamen, hatten andere schon Jungstörche“, verdeutlicht der 63-jährige. In Schierstein geschlüpfte Zugvögel würden oft in Spanien beobachtet, seien aber auch schon in Mali oder Israel gemeldet worden. Eine weitere neue Entwicklung sei, dass sich in Schierstein Paare bildeten, die dann weiterzögen, um anderswo zu brüten. Möglicherweise liege das daran, dass mancherorts inzwischen eine Storchenabwehr auf Strommasten installiert werde. In Schierstein nutze man die Popularität der Störche, um Naturschutz zu betreiben, der auch anderen Tieren zu Gute komme. So habe man mit den Spenden, aus denen sich die Vereinsarbeit finanziert, Blühstreifen angelegt oder Streuobstwiesen aufgekauft, um Biotop-Vernetzung zu betreiben.
Keine Angst vor Schlangen
Unterstützung durch den Menschen kann auch ein Tier gebrauchen, das nirgendwo sonst so weit im Norden lebt, wie in dem hiesigen Verbreitungsgebiet. Als Schlange leidet die Äskulapnatter jedoch nach wie vor unter Vorurteilen. „Dabei gibt es in unserer Region keine Giftschlangen“, betont Richard Abt vom Vorstand des Vereins Naturschutzhaus. Zumindest nicht in freier Wildbahn. Wenn man Schlangen mit bunter Warnfärbung begegne, sei zwar Vorsicht geboten. Doch diese stammten dann aus Terrarien. Die heimischen Arten, zu denen neben der Äskulapnatter noch die Ringel- und die Schlingnatter gehören, sind durch ihre olivbraune, graue oder rötlich-braune Färbung getarnt. Mit einer Länge von bis zu 1,90 Meter ist die Äskulapnatter die größte heimische Schlangenart.
Kindgerechte Informationen zu ihren Lebensgewohnheiten sind auf dem Schlangenpfad erhältlich, der am Friedhof Frauenstein beginnt. Mit etwas Glück bekommt man auf dem Weg auch Schlangen zu Gesicht. Eine andere Population ist auf dem Geisberg bekannt. „Das ist eine ganz isolierte Population“, bedauert Richard Abt. Wenn man Reptilien nicht vorwiegend tot auf der Straße finden wolle, deren warmer Asphalt für Kaltblüter attraktiv ist, sei es wichtig, Biotop-Vernetzung zu betreiben. Gartenbesitzer könnten geeignete Lebensräume schaffen, indem sie Steinhaufen und Trockenmauern anlegen, die sich als Unterschlupf eignen, weil sie Wärme speichern. Genauso bietet es sich an, an den Gartenrändern Flächen zu schaffen, die nur ein oder zwei Mal im Jahr gemäht werden. Außerdem sollten Komposthaufen nicht vor Mitte Oktober umgeschichtet werden, damit die Jungtiere bereits geschlüpft sind, bevor das passiert. Schlangen „belohnen“ solches Engagement dadurch, dass der Bestand an Mäusen und kleinen Ratten dezimiert wird.
Häuser Fledermaus-freundlich gestalten
Durch das Öffnen eines Zugangs zur Unterlattung der Hausfassade kann man sich um andere tierische Mitbewohner verdient machen. Ein Fledermaus-freundliches Haus kann sich aber auch dadurch auszeichnen, dass toleriert wird, wenn die fliegenden Säugetiere Rolladenkästen, Dachböden oder Kellerräumen nutzen. Idealerweise wird ein solcher Lebensraum mit einem Garten kombiniert, in dem einheimische Arten wachsen, nicht gespritzt wird und kein Rollrasen verlegt ist, damit dort die Insekten gedeihen können, die den Fledermäusen als Nahrung dienen. Zahlreiche der 18 in Hessen lebenden Arten kommen auch in der Wiesbadener Gemarkung vor. In der Stadt selbst handelt es sich zu neunzig Prozent um Zwergfledermäuse. „Das ist der Spatz unter den Fledermäusen. Sie ist total adaptiert an den Menschen und nicht wählerisch sondern jagt überall“, erläutert Olaf Godmann von der Arbeitsgemeinschaft für Fledermausschutz.
Ein gesundheitliches Problem sei durch keine der einheimischen Arten zu erwarten. „Sie übertragen keine Krankheiten. Das sind alles Insektenfresser. Der Kot besteht aus reinem Chitin und zerbröselt einfach“, betont der 55-jährige. Aufgrund des Insektensterbens geht den Fledermäusen ihre Nahrungsgrundlage jedoch verloren. Das dürfte auch ein Grund sein, warum in der Nähe des Rheins der Bestand des Großen Abendseglers stark zurückgegangen ist, der einst die zweithäufigste Fledermausart in Wiesbaden gewesen sei. Seit Anfang Juni ertönt sein Ortungsruf in Endlosschleife von der neuen Fledermaushütte in der Fasanerie. Sollte eine wilde Population auf dem Dach der Hütte ihr Sommerquartier beziehen, können die Gäste des Tierparks dort mit Hilfe von zwei Periskopen einen Blick auf die schlafenden Fledermäuse werfen.
Nachwuchsprobleme beim Wanderfalken-Pärchen
Einen besonders exponierten Nistort hat ein Wanderfalken-Pärchen gewählt. Auch in diesem Jahr hat es wieder im Turm der Marktkirche gebrütet. Im Gegensatz zum vergangenen Jahr jedoch erfolglos. „Sie haben ihr Gelege aufgegeben. Wir rätseln über den Grund. Unsere Kamera ist nur sporadisch im Einsatz, und während der Brutphase haben wir eine Pause gemacht“, berichtet Jürgen Hübner von der Hessischen Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz. Insgesamt darf Wiesbaden als gutes Revier für Vogelarten gelten. „Es gibt sehr vielfältige Biotope. Wir haben hier fast alles: Ackerland, Wald und Fluss. Nur Heide und große Seen fehlen“, verdeutlicht Werner Häuser vom Naturschutzbund. Im Kurpark habe er vor zwei oder Jahren sogar mal einen Eisvogel beobachtet. „Im Winter, wenn alles zugefroren ist, sucht er sich offene Flächen“, erklärt der 69-jährige.
Spechte im Schlaraffenland
Bei einem Rundgang im Park erkennt er fast im Minutentakt Vogelstimmen. Mit Grünfink, Mönchsgrasmücke und Amsel sind unter anderem solche dabei, die es vermehrt in Städte zieht. Doch auch vielen Vögeln fehlen die Insekten, weshalb Werner Häuser sich mehr Kräuter etwa in Balkonkästen wünschen würde. Spechte allerdings, von denen ein halbes Dutzend Arten in und um Wiesbaden existieren, haben derzeit fette Jahre. Wegen der Borkenkäferplage in den Fichtenbeständen leben sie gerade im Schlaraffenland.
Bilchen-Forschung geht weiter
Auf der Streuobstwiese zwischen Igstadt und Medenbach ist unterdessen Mira Stockmann unterwegs. Die Biologin gehört zu vier Ehrenamtlichen, die hier im zweiten Jahr 25 Nistkästen kontrollieren. Sie sind für eine von bundesweit vier Forschungsstrecken aufgehängt worden, um zu verstehen, warum die Gartenschläfer-Bestände vielerorts drastisch zurückgehen. Hat sie im April noch in jedem fünften Kasten einen solchen verzeichnen können, ist es im Mai nur ein einziger. Von den typischen Moosnestern sind jedoch viele zu finden und auch frische Kotproben werden genommen. Zu den Analysen der Proben des vergangenen Jahres liegen erste, vorläufige Ergebnisse vor. „Im Stadtbereich Wiesbaden sind Arthropoden wie Insekten, Spinnen oder Käfer regelmäßiger Teil der Nahrung. Teile von Pflanzen spielen vor allem im Frühjahr und Sommer eine wichtige Rolle. Früchte stehen durchgängig bis zum Ende der aktiven Saison auf dem Speiseplan. Kleinsäuger als Nahrungsquelle des Gartenschläfers sind ebenfalls anhand von Haaren in den Kotproben nachweisbar“, berichtet Susanne Steib vom Bund für Umwelt und Naturschutz Hessen. Im kommenden Jahr soll dann im Wiesbadener Stadtgebiet mit Telemetrie weiter zu den Bilchen geforscht werden.
Ausstellungen
Die Fotoausstellung „Wildes Wiesbaden – Tiere im Portrait“ mit Bildern von Marlene Splett ist eine Entdeckungsreise zu Wiesbadens tierischen Bewohnern. Neben Luchs und Wolf aus der Fasanerie zeigt sie vor allem die kleinen und heimlichen Tiere der Streuobstwiesen, Parks und Gärten, die allzu oft unbemerkt bleiben. Bis 14. August in der Hochschul- und Landesbibliothek RheinMain, Rheinstraße 55 – 57. Eintritt frei.
Die Ausstellung „Schmetterlingen auf der Spur“ zeigt einheimische und exotische Schmetterlinge aus der ganzen Welt — von den Taunuswiesen bis zum tropischen Regenwald. Schmetterlinge werden seltener. Mit regionalen Naturschutzmaßnahmen thematisieren die Kurator*innen auch die Ursachen für den Artenrückgang und die schwindende Häufigkeit der Schmetterlinge. Auch über 50 Zeichnungen und Aquarelle von Johann Brandstetter zeigen in der Ausstellung die faszinierende Lebenswelt der Schmetterlinge. Vielen ist der aus Neuötting stammende Illustrator und Künstler, von dem auch die Cover-Illustration der aktuellen sensor-Ausgabe stammt, durch sein umfangreiches Werk bekannt. Bis 31. Januar 2021 im Museum Wiesbaden, Friedrich-Ebert-Allee 2.
Ich kann noch eine Wildtierart hinzufügen: Im Äußeren Westend lebt ein Mäusebussard-Paar.