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„Wir müssen wieder streiten lernen“: sensor-Interview mit Autorin Meredith Haaf zur „WIR in Wiesbaden“-Lesung

Interview Julia Bröder. Foto Tanja Kernweiss.

Die Münchener Autorin Meredith Haaf wünscht sich in Zeiten politischer und sozialer Konflikte mehr Mut zur Haltung. Nun kommt sie im Rahmen der Reihe „WIR in Wiesbaden“ an diesem Dienstag nach Wiesbaden. Ein Gespräch.

Frau Haaf, über was haben Sie zuletzt gestritten und mit wem?

Mein letzter Streit fand in einem sehr vollen Zugabteil statt. Ein Mann hatte angefangen, zwei junge Touristinnen lautstark zu maßregeln, weil sie angeblich auf seinem Platz saßen, und ungefragt ihr Gepäck zu verschieben. Ich habe dann interveniert und dem Herrn klar gemacht, dass er nicht so mit ihnen umgehen kann.

War das ein guter Streit?

Es war insofern gut, als dass die Frauen sich unterstützt gefühlt haben. Nachdem ich etwas gesagt hatte, griffen noch andere Passagiere ein und es wurde klar, dass alle im Abteil das Verhalten des Mannes ungut fanden. Also wurde etwas geklärt. Ein guter Streit definiert sich, je nachdem worum es geht, weniger über das Ergebnis, sondern über den Prozess: Man geht mit seinen Argumenten und Meinungen verantwortlich um – behauptet also nichts, was man nicht belegen kann. Man hört dem anderen zu. Man bewahrt ein gesundes Maß an Selbstzweifel.

Sie sagen, Streit ist „besonders in diesen Zeiten“ wichtig. Warum?

Streit wird oft als unangenehm empfunden, als Störung im laufenden Betrieb. Tatsächlich ist er eine Technik der Konfliktbewältigung, die uns nur in friedlichen Gesellschaften zur Verfügung steht. Im Streit können wir unsere natürlich vorhandenen Differenzen zum Ausdruck bringen, wir können Abstand zwischen uns bringen, ohne uns gegenseitig eins auf die Mütze zu geben. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat die Demokratie als institutionalisierten Streit definiert. Damit ist auch klar, warum es aus politischer Sicht wichtig ist, dass Bürger streiten lernen und streiten können. Ohne Mitglieder, die bereit sind, für ihre Positionen und Interessen einzustehen, funktioniert das Ganze nicht richtig. Wichtig ist das in diesen Zeiten, weil die politischen und sozialen Konflikte und Herausforderungen sehr präsent sind. Das übt Druck auf jeden einzelnen und die Gesamtgesellschaft aus. Um damit umzugehen, müssen wir wieder streiten lernen.

In Ihrem Buch „Streit“, schreiben Sie, dass Menschen heute nur noch schwer Position beziehen können. Warum ist das so?

Für mich gibt es zwei parallele Tendenzen: Einerseits gibt es in den Sozialen und klassischen Medien eine Art Positionierungsirrsinn zu jedem Thema. Da geht es eben nicht mehr um Prozesse, sondern jeden Tag werden neue Statements durch die Netze gejagt. Auch der politische Diskurs verkürzt sich so. Andererseits gibt es im Alltag bei vielen Menschen einen gewissen Unwillen, sich klar zu positionieren, weil das nicht für Kooperationsfähigkeit und Flexibilität steht – Eigenschaften, die insbesondere das Wirtschaftsleben permanent vom Einzelnen einfordert. Der gesunde Starrsinn, den man braucht, um zu streiten, wird von der Angst, als zu starr zu gelten, klein gehalten.

Was wünschen Sie sich diesbezüglich?

Ich wünsche mir mehr Mut zur Haltung, aber auch mehr Mut, sich auf andere Haltungen einzulassen. Ich wünsche mir, dass Menschen wieder Spaß am Streit entdecken und merken, dass es Sinn macht. Ein guter Streit kann ja auch wahnsinnig beflügeln.

Wie können wir gutes Streiten lernen?

Ich hoffe, dass mein Buch dazu etwa beitragen kann. Mir hat es jedenfalls geholfen, mich mit Politikerinnen und Mediatoren zu unterhalten und festzustellen, dass es oft nur ein paar Zutaten braucht, um dem Streit einen Sinn zu geben. Wichtig ist auf jeden Fall, immer die gemeinsame Ebene im Blick zu behalten. Zuzuhören, was der andere sagt und überprüfen, ob man sich gegenseitig wirklich versteht. Pausen machen! Und wenn man feststellt, dass man eben keine gemeinsame Ebene hat, dann auch mal aufhören. Nicht jeder Streit ist sinnvoll. Es gibt Positionen, die nicht diskutabel sind. Da kann ein Streit auch einfach nur die Funktion haben, klaren Widerspruch zu leisten. Es ist also immer wichtig, darüber nachzudenken, was der Streit bringen soll, am besten bevor man ihn anfängt. Deswegen sollte man, das sagen auch Wissenschaftler, am besten nie streiten, wenn man gerade wütend ist.

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Streit-Zeit in Wiesbaden

„Zeit zu Streiten“ ist das Motto der Veranstaltungsreihe „WIR in Wiesbaden“ , in deren Rahmen Meredith Haaf am 20. November ihr bei dtv erschienenes Buch „Streit“ im Schlachthof-Kesselhaus präsentiert (Eintritt frei). Es scheint in aktuellen Debatten nur ein „Entweder – Oder“ zu existieren, ein „Wir oder die Anderen“. Bei allen unterschiedlichen Positionen ist es wichtig, dass Streit nicht auf dem Rücken von Minderheiten ausgetragen wird.  Der „Trägerkreis WIR in Wiesbaden“ möchte Diskussionen darüber ermöglichen, wie ein WIR, das alle mit einschließt, gelebt werden kann: „WIR möchten auf die strukturelle Abwertung von Menschengruppen hinweisen und eine Wertediskussion offen, ehrlich und wertschätzend führen. Es ist Zeit zusammen zu streiten, für eine vielfältige Gesellschaft, für ein offenes Wiesbaden.“  WIR in Wiesbaden wird von „Demokratie leben in Wiesbaden“ und dem Amt für Zuwanderung und Integration unterstützt. www.spiegelbild.de   und   www.wir-in-wiesbaden.net