Boxen sei die höchste Form menschlicher Intelligenz, verkündete einst der Dichter Wolf Wondratschek am Rande des letzten Profikampfes von Graciano „Rocky“ Rocchigiani. Das deckt sich so gar nicht mit der Ansicht, die sich bis heute bei vielen hält: Boxen, das sei, wenn sich zwei Fleischklopse ohne Hirn gegenseitig die Nasen platt hauen. „Boxen ist Fechten mit der Faust“, erklärt der zweimalige Hessenmeister im Weltergewicht Yasar Dorul.
Genau wie bei der sportlichen Auseinandersetzung mit Florett, Degen oder Säbel geht es darum, Treffer am Körper des Gegners innerhalb der erlaubten Zone zwischen Stirn und Bauchnabel zu landen, ohne selbst getroffen zu werden. „Es ist wie beim Schach“, ergänzt Karl-Heinz Seidel, der mit Yasar Dorul zum Trainerteam des 1. Wiesbadener Amateur Box Clubs (WABC) gehört. „Man muss den Gegner beobachten und ihn ausspielen.“
Vom Arbeiter- zum Trendsport
Seidel selbst begann 1967 bei Borussia Kiel mit dem Boxen. 1971 wurde er deutscher Militärvizemeister im Weltergewicht, seit 1972 gehört er dem WABC an, dessen Vorsitzender er seit 33 Jahren ist. In den Annalen des traditionsreichen Vereins finden sich allein seit 1985 bis heute 35 Hessenmeister unterschiedlicher Gewichtsklassen.
Doch der WABC kümmert sich nicht nur um die aktuell zehn Mitglieder seines Wettkampfkaders, sondern auch um eine immer größer werdende Zahl von Menschen, die beim sogenannten Fitness-Boxen ein Ganzkörper-Workout der besonderen Art absolvieren. So kommt der Verein derzeit auf 170 Mitglieder, etwa 20 davon Frauen. Jeweils bis zu 50 kommen zum Training, das an fünf Wochentagen in der Turnhalle der Wolfram-von-Eschenbach-Schule stattfindet. Dass Boxen seit einiger Zeit als Trendsport gilt, das kann auch Karl-Heinz Seidel nur bestätigen: „Früher war das ein Arbeitersport. Heute kommen zu uns Studenten, Ärzte, Journalisten.“
Das Mysterium des Boxens
Wer es sich leisten kann, der bucht bei Mustafa Memo Haji, ansonsten verantwortlich für das Leistungstraining am Mittwochabend, ein Personal Training. Wem das zu viel des Guten ist, der kommt am Montag-, Dienstag- oder Donnerstagabend zum jeweils zweistündigen Fitness-Boxen: Los geht es mit einem Aufwärmprogramm zum Lockern der Muskeln. Schon hier fließt bei den meisten nach wenigen Minuten der Schweiß. Anschließend holt Yasar Dorul die Wettkampfboxer zu sich in den Ring. Während er sie im Sparring lautstark antreibt, knöpft sich Karl-Heinz Seidel diejenigen vor, die hier sind, um etwas für die Fitness zu tun.
Es beginnt mit Schattenboxen: Jeder geht für sich bestimmte Schlagfolgen durch, versucht dabei ständig in Bewegung zu bleiben, die Beinarbeit nicht zu vernachlässigen, den ganzen Körper mitzunehmen. Danach werden vorgegebene Schlagkombinationen mit Partner geübt: Zweimal die Führungshand als Gerade zum erhobenen Handschuh des Gegenübers, dann die Schlaghand hinterher, gefolgt von zwei Haken zum Kopf. Statt am Kopf des Trainingspartners landen aber auch diese wieder in seinen 14 Unzen-Handschuhen. Worum es hier geht, ist nicht Kraft und auch nicht Geschwindigkeit. Wichtig ist, die Schläge sauber auszuführen: die Geraden mit gestrecktem Arm, möglichst ansatzlos aus der Schulter heraus katapultiert. Bei den Haken soll sich der ganze Oberkörper aus der Hüfte heraus mitdrehen. Karl-Heinz Seidel geht herum und korrigiert, gibt Tipps, demonstriert, wie es aussehen soll. Es folgt Schattenboxen mit Partner. Dann schnelle Schlagkombinationen im Wechsel.
Jetzt geht es um Tempo und Kraft: Rechte und linke Gerade, die gegen die Handschuhinnenseite des Gegenübers prasseln. Rechte und linke Haken in hohem Tempo. Aufwärtshaken zum Oberkörper des Partners. Dann alles noch mal von vorne, immer abwechselnd, ohne Verschnaufpause. Schnaufen tun einige dafür umso heftiger während der kurzen Unterbrechungen, die Seidel seinen Schützlingen gewährt. Was der 65-Jährige selbst noch abkann, verdeutlicht er, indem er sich am Boden liegend Medizinbälle auf die Bauchmuskulatur donnern lässt. Weiter geht es mit Schattenboxen im schnellen Wechsel mit unterschiedlichen Partnern. Dann wieder Schlagkombinationen auf Ansage. Wer nicht voll konzentriert ist, kommt unweigerlich raus. Und darf zur Schärfung der Sinne zehn Liegestütze machen! Die Gesichter, in die man nach dem abschließenden Dehnen blickt, sind schweißüberströmt und glücklich. In ihnen steht die grimmige Genugtuung, einmal mehr dem inneren Schweinehund, diesem selbstzufriedenen Faultier, die Stirn geboten zu haben.
„Du musst härter sein als das Training“, grinst Yasar Dorul auf dem Weg unter die Dusche. Gerade für seine jüngeren Schützlinge steckt in diesen Worten auch eine Lektion fürs Leben. „Man musste in Form sein, um aushalten zu können, was einen abwürgen wollte. Das war die Botschaft, die für mich rüberkam, wenn ich Boxkämpfe sah.“ So steht es bei Charles Bukowski zu lesen. Hans Herbst, der es wie kein anderer deutscher Autor verstanden hat, über das Boxen zu schreiben, kam nach ein paar Trainingseinheiten in der wohl legendärsten Boxhalle Deutschlands, dem Gym im Keller der Hamburger Kiezkneipe „Zur Ritze“, zu der Erkenntnis: „Ich bin dem Mysterium des Boxens ein wenig näher gekommen. Weil ich einen kleinen Sieg über mich selbst, meine Schwäche, die Frustration und die Schmerzen errungen habe.“
Kein Platz für Gewalt
Montags leitet Alexander Diener das Fitness-Boxen. Der 27-Jährige hat mit 19 erstmals die Handschuhe übergestreift, wurde vier Jahre später Vize-Hessenmeister im Superschwergewicht. Heute sagt er: „Man muss spätestens mit 14 anfangen, um ein richtig Guter zu werden. Um die Technik richtig zu lernen.“ Bei ihm kommen im Training auch die lederne Maisbirne und die Sandsäcke zum Einsatz, die man klassischerweise mit einer Boxhalle assoziiert. Wer überschüssige Energie mitbringt, der wird sie an diesen Geräten garantiert los. Und wenn man glaubt, am Ende seiner Kräfte angelangt zu sein, steht plötzlich Alex Diener neben einem und gibt den Motivator: „Was ist los? Gib Gas, da geht noch mehr!“ Schon sein Aufwärmtraining hat es in sich, wird von Technik und Taktik-Coach Anton Kreuz gerne eingeleitet mit den Worten: „Der Alex macht euch jetzt erst mal so richtig schön kaputt!“
Gewalt hat im Verhaltenskodex des WABC hingegen keinen Platz. „Wer hierher kommt, um sich zu prügeln, ist ganz schnell wieder draußen“, sagt Alex Diener. „Wir bringen den Leuten bei, sich nicht auf der Straße zu prügeln. Wenn du hier deine Energie verpulvert hast, brauchst du das auch gar nicht mehr.“
Die drei K.O.-Kriterien
Bleibt die Frage, warum sich all die größtenteils erwachsenen Männer und Frauen mehrmals pro Woche nach Feierabend noch derart schinden und literweise Schweiß vergießen. Robert Sattler (40, Werbekaufmann) erklärt: „Nachdem in der Fitness-Szene das Boxen einen höheren Stellenwert erreicht hat und auch in den Medien immer präsenter wurde, besuchte ich die Webseite des WABC und entschloss mich spontan zu einem Probetraining. Noch mal die Grenzen erreichen, noch mal körperlich ans Limit zu gehen, das passt!“ Thommy Krebs (41, Bürokaufmann) gibt zu: „Anfangs dachte ich: Hoffentlich ist das hier nicht so asozial. Mittlerweile komme ich seit vier Jahren regelmäßig zum Training und bin von der Atmosphäre total begeistert.“ Genauso geht es Saskia Bergmann (20, Auszubildende): „Außerdem fördert der Sport extrem das Selbstbewusstsein. Das merkt man am Auftreten im Alltag.“ Yvonne (37) ist Ärztin und kann das Boxtraining auch aus medizinischer Sicht nur empfehlen: „Es werden sämtliche Muskelgruppen trainiert. Es dient der Fitness und dem Stressabbau.“ Und mit ihrem letzten Argument landet sie grinsend den alles entscheidenden Treffer: „Boxen erfüllt als Sport die drei großen K.O.-Kriterien: Konzentration, Koordination und Kondition!“
Text Alexander Pfeiffer. Fotos Volker Ramspott.